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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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der Stimmung in weiten bürgerlichen Parteien Rechnung zu tragen und trotzdem
den starken Applaus des Parteitages für sich zu haben. Die praktische Bedeutung
der wirtschaftlichen und politischen Resolution, die das eigentliche Banner für
den Wahlkampf darstellt, wird um so größer sein, je mehr wunde Punkte sie
berührt und je breiter die Operationsbasis sein wird, die Bebel und David,
der Diplomat der Partei, anlegen werden.

Mit Rücksicht auf die Erfahrungen, die die Linksliberalen mit derBülowschen
Blockpolitik gemacht haben, ist man in ihren Kreisen nur zu sehr geneigt, den
sozialdemokratischen Lockungen entgegenzukommen. Seit Wochen sind bereits
ernsthafte Unterhandlungen im Gange, die eine Verständigung zwischen den
Liberalen und der Sozialdemokratie zum Ziele haben. Das Bündnis der linken
Parteien richtet sich in erster Linie gegen die Macht des Zentrums und kann
infolgedessen auch bei den Kreisen Anerkennung finden, die, ohne sich zu den
Liberalen zu rechnen, im Zentrum die größere Gefahr für Deutschland sehen.
Immerhin ist es ein gewagtes Mittel, den Teufel durch Beelzebub austreiben
zu wollen. Trotz des letzten Parteitages haben wir noch keine Garantie in der
Hand dafür, daß die Sozialdemokratie befähigt sein wird, von der reinen
Klassenkampfpolitik abzulassen, und wir würden kein Glück darin, sehen, aus der
Herrschaft der "Junker" und " Industriell arone" unter die des "Proletariats"
zu kommen. Trotz mancher berechtigten Klage und vor allen Dingen trotz des
vollständigen Versagens des konservativen Großgrundbesitzes bei der letzten
Reichsfinanzreform sieht Deutschland auf eine Epoche steigender wirtschaftlicher
und kultureller Entwicklung zurück, an der, wenn auch vielfach widerstrebend,
der preußische Junker sowohl als Unternehmer wie als Beamter einen nicht zu
unterschätzenden Anteil hat. Könnte heute die Sozialdemokratie die Garantie
dafür geben, daß sie lediglich eine Reformpartei, nicht aber eine Umsturzpartei
sei, dann könnte man angesichts der agrarisch-ultramontanen Koalition eine
Annäherung zwischen den Liberalen und Sozialdemokraten unter Umständen als
einen Fortschritt begrüßen. Der Jenenser Parteitag hat uns indessen trotz seines
ruhigen Verlaufs nicht davon überzeugen können, daß die sozialdemokratische
Partei keine revolutionäre Partei ist.

Der Jenenser Parteitag hat einen eigenartigen Abschluß erhalten durch
die Worte, die der Vorwärts dem Attentat auf den russischen Ministerpräsidenten
zu Kijew widmete. In ihnen kommt der ganze Haß zum Ausdruck, mit dem
die Sozialdemokratie die herrschende Gesellschaftsordnung bekämpft. Solange
dieser Haß noch so furchtbare Züge annehmen kann, sind wir genötigt, die
Partei mit allen Mitteln, die politische Klugheit gewährt, zu bekämpfen und
ihre zeitweiligen Anwandlungen von Loyalität mit den, größten Mißtrauen auf¬
zunehmen.

Während die obigen Zeilen schon im Satz waren, trafen die Berliner
Montagsblätter mit den ersten Nachrichten aus Wien ein. Dort haben --
auch eine Illustration zum Jenenser Parteitage -- von Sozialdemokraten


Grenzboten III 1911 73
Reichsspiegcl

der Stimmung in weiten bürgerlichen Parteien Rechnung zu tragen und trotzdem
den starken Applaus des Parteitages für sich zu haben. Die praktische Bedeutung
der wirtschaftlichen und politischen Resolution, die das eigentliche Banner für
den Wahlkampf darstellt, wird um so größer sein, je mehr wunde Punkte sie
berührt und je breiter die Operationsbasis sein wird, die Bebel und David,
der Diplomat der Partei, anlegen werden.

Mit Rücksicht auf die Erfahrungen, die die Linksliberalen mit derBülowschen
Blockpolitik gemacht haben, ist man in ihren Kreisen nur zu sehr geneigt, den
sozialdemokratischen Lockungen entgegenzukommen. Seit Wochen sind bereits
ernsthafte Unterhandlungen im Gange, die eine Verständigung zwischen den
Liberalen und der Sozialdemokratie zum Ziele haben. Das Bündnis der linken
Parteien richtet sich in erster Linie gegen die Macht des Zentrums und kann
infolgedessen auch bei den Kreisen Anerkennung finden, die, ohne sich zu den
Liberalen zu rechnen, im Zentrum die größere Gefahr für Deutschland sehen.
Immerhin ist es ein gewagtes Mittel, den Teufel durch Beelzebub austreiben
zu wollen. Trotz des letzten Parteitages haben wir noch keine Garantie in der
Hand dafür, daß die Sozialdemokratie befähigt sein wird, von der reinen
Klassenkampfpolitik abzulassen, und wir würden kein Glück darin, sehen, aus der
Herrschaft der „Junker" und „ Industriell arone" unter die des „Proletariats"
zu kommen. Trotz mancher berechtigten Klage und vor allen Dingen trotz des
vollständigen Versagens des konservativen Großgrundbesitzes bei der letzten
Reichsfinanzreform sieht Deutschland auf eine Epoche steigender wirtschaftlicher
und kultureller Entwicklung zurück, an der, wenn auch vielfach widerstrebend,
der preußische Junker sowohl als Unternehmer wie als Beamter einen nicht zu
unterschätzenden Anteil hat. Könnte heute die Sozialdemokratie die Garantie
dafür geben, daß sie lediglich eine Reformpartei, nicht aber eine Umsturzpartei
sei, dann könnte man angesichts der agrarisch-ultramontanen Koalition eine
Annäherung zwischen den Liberalen und Sozialdemokraten unter Umständen als
einen Fortschritt begrüßen. Der Jenenser Parteitag hat uns indessen trotz seines
ruhigen Verlaufs nicht davon überzeugen können, daß die sozialdemokratische
Partei keine revolutionäre Partei ist.

Der Jenenser Parteitag hat einen eigenartigen Abschluß erhalten durch
die Worte, die der Vorwärts dem Attentat auf den russischen Ministerpräsidenten
zu Kijew widmete. In ihnen kommt der ganze Haß zum Ausdruck, mit dem
die Sozialdemokratie die herrschende Gesellschaftsordnung bekämpft. Solange
dieser Haß noch so furchtbare Züge annehmen kann, sind wir genötigt, die
Partei mit allen Mitteln, die politische Klugheit gewährt, zu bekämpfen und
ihre zeitweiligen Anwandlungen von Loyalität mit den, größten Mißtrauen auf¬
zunehmen.

Während die obigen Zeilen schon im Satz waren, trafen die Berliner
Montagsblätter mit den ersten Nachrichten aus Wien ein. Dort haben —
auch eine Illustration zum Jenenser Parteitage — von Sozialdemokraten


Grenzboten III 1911 73
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/585>, abgerufen am 01.01.2025.