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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

Auch das große Heer der Arbeiter wird aus der Rede das herauslesen, was man
bei den Linksliberalen so gern in ihr findet: die Abwehr des grundsätzlichen Re-
volutionarismus, die Abwehr des Massenstreiks im Kriegsfalle und die Abwehr
des Versuchs, bei einer Kriegserklärung die Reservisten zum Landesverrat auf¬
zufordern. Bebel hat mit dem Teil der Rede, der sich speziell mit dem Massen¬
streik beschäftigt, gewiß nicht national gesprochen. Diesen "Vorwurf" könnte
man gegen ihn nicht erheben; aber er hat es doch für angebracht gehalten, der
Stimmung innerhalb der deutschen Arbeiterschaft Rechnung zu tragen und damit
auch den Auffassungen derjenigen bürgerlichen Politiker und Schriftsteller Recht
gegeben, die behaupten, die Sozialdemokratie verliere bei der überwältigenden
Mehrheit der deutschen Arbeiter an Einfluß, sobald wirklich ernste nationale
Fragen an sie herantreten. Dasselbe gilt auch von Fragen der Weltanschauung,
die bei den breiten Massen in instinktiven Religionsbedürfnis zum Ausdruck
kommt. Auch auf diesen Punkt hat Bebel Rücksicht genommen.

Die Macht der Sozialdemokratie liegt sowohl in ihrem Wirt¬
schaftsprogramm wie auch in den zweifellosen Verdiensten, die sich die sozial¬
demokratischen Organisationen um die Hebung des Wohlstandes bei den breiten
Volksschichten erworben haben. Freilich konnte die Partei diese Verdienste nur ein¬
heimsen, weil gleichlaufend mit dem Aufstieg des Bedürfnisses sich auch das Verständ¬
nis dafür bei der Krone entwickelte. Die Verdienste der Krone um die Hebung
der Masse, die Verdienste auch der Unternehmer um die Besserstellung der
Arbeiter und damit der bürgerlichen Parteien werden selbstverständlich in der
sozialdemokratischen Parteiagitation nach Möglichkeit vergessen gemacht, und so
hat nicht nur die Arbeiterschaft, sondern auch ein recht großer Teil der Gebildeten
die Auffassung, als verdankten wir unsere soziale Gesetzgebung, unsere sozialen
Einrichtungen in den Städten bei den großen Fabriken ausschließlich der Arbeit
der Sozialdemokratie.

Die bürgerlichen Parteien sind der mit dieser Auffassung betriebenen
Agitation nur mit sehr schwachen Mitteln, zum Teil auch mit ungeeigneten
Mitteln, entgegengetreten. Vielfach ist man ohne eine genaue Kenntnis der
historischen Entwicklung der sozialdemokratischen Partei vorgegangen, und es wurden
Dinge bekämpft, für die tatsächlich in der sozialdemokratischen Partei Deutschlands
überhaupt kein Boden vorhanden war. Bei dem überall und im allgemeinen
erstarkenden nationalen Bewußtsein glaubte man den auf wirtschaftlichen Voraus¬
setzungen ruhenden Kämpfen durch starke Anwendung der nationalen Phrase
entgegentreten zu können. Der Erfolg war gleich Null. Als dann aber wirklich
eine große nationale Frage auftauchte und Fürst Bülow im Jahre 1907 die
Parole gegen das Zentrum ausgab, verlor die rote Partei eine ganze Reihe
von Sitzen.

Die Erfahrung von 1907 wird wohl auch nicht ohne Einfluß gewesen sein
für die Haltung des Parteivorstandes in Jena und für die Taktik, die Bebel in
seiner Rede zu den bevorstehenden Wahlen anwandte. So gelang es ihm,


Reichsspiegel

Auch das große Heer der Arbeiter wird aus der Rede das herauslesen, was man
bei den Linksliberalen so gern in ihr findet: die Abwehr des grundsätzlichen Re-
volutionarismus, die Abwehr des Massenstreiks im Kriegsfalle und die Abwehr
des Versuchs, bei einer Kriegserklärung die Reservisten zum Landesverrat auf¬
zufordern. Bebel hat mit dem Teil der Rede, der sich speziell mit dem Massen¬
streik beschäftigt, gewiß nicht national gesprochen. Diesen „Vorwurf" könnte
man gegen ihn nicht erheben; aber er hat es doch für angebracht gehalten, der
Stimmung innerhalb der deutschen Arbeiterschaft Rechnung zu tragen und damit
auch den Auffassungen derjenigen bürgerlichen Politiker und Schriftsteller Recht
gegeben, die behaupten, die Sozialdemokratie verliere bei der überwältigenden
Mehrheit der deutschen Arbeiter an Einfluß, sobald wirklich ernste nationale
Fragen an sie herantreten. Dasselbe gilt auch von Fragen der Weltanschauung,
die bei den breiten Massen in instinktiven Religionsbedürfnis zum Ausdruck
kommt. Auch auf diesen Punkt hat Bebel Rücksicht genommen.

Die Macht der Sozialdemokratie liegt sowohl in ihrem Wirt¬
schaftsprogramm wie auch in den zweifellosen Verdiensten, die sich die sozial¬
demokratischen Organisationen um die Hebung des Wohlstandes bei den breiten
Volksschichten erworben haben. Freilich konnte die Partei diese Verdienste nur ein¬
heimsen, weil gleichlaufend mit dem Aufstieg des Bedürfnisses sich auch das Verständ¬
nis dafür bei der Krone entwickelte. Die Verdienste der Krone um die Hebung
der Masse, die Verdienste auch der Unternehmer um die Besserstellung der
Arbeiter und damit der bürgerlichen Parteien werden selbstverständlich in der
sozialdemokratischen Parteiagitation nach Möglichkeit vergessen gemacht, und so
hat nicht nur die Arbeiterschaft, sondern auch ein recht großer Teil der Gebildeten
die Auffassung, als verdankten wir unsere soziale Gesetzgebung, unsere sozialen
Einrichtungen in den Städten bei den großen Fabriken ausschließlich der Arbeit
der Sozialdemokratie.

Die bürgerlichen Parteien sind der mit dieser Auffassung betriebenen
Agitation nur mit sehr schwachen Mitteln, zum Teil auch mit ungeeigneten
Mitteln, entgegengetreten. Vielfach ist man ohne eine genaue Kenntnis der
historischen Entwicklung der sozialdemokratischen Partei vorgegangen, und es wurden
Dinge bekämpft, für die tatsächlich in der sozialdemokratischen Partei Deutschlands
überhaupt kein Boden vorhanden war. Bei dem überall und im allgemeinen
erstarkenden nationalen Bewußtsein glaubte man den auf wirtschaftlichen Voraus¬
setzungen ruhenden Kämpfen durch starke Anwendung der nationalen Phrase
entgegentreten zu können. Der Erfolg war gleich Null. Als dann aber wirklich
eine große nationale Frage auftauchte und Fürst Bülow im Jahre 1907 die
Parole gegen das Zentrum ausgab, verlor die rote Partei eine ganze Reihe
von Sitzen.

Die Erfahrung von 1907 wird wohl auch nicht ohne Einfluß gewesen sein
für die Haltung des Parteivorstandes in Jena und für die Taktik, die Bebel in
seiner Rede zu den bevorstehenden Wahlen anwandte. So gelang es ihm,


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[0584] Reichsspiegel Auch das große Heer der Arbeiter wird aus der Rede das herauslesen, was man bei den Linksliberalen so gern in ihr findet: die Abwehr des grundsätzlichen Re- volutionarismus, die Abwehr des Massenstreiks im Kriegsfalle und die Abwehr des Versuchs, bei einer Kriegserklärung die Reservisten zum Landesverrat auf¬ zufordern. Bebel hat mit dem Teil der Rede, der sich speziell mit dem Massen¬ streik beschäftigt, gewiß nicht national gesprochen. Diesen „Vorwurf" könnte man gegen ihn nicht erheben; aber er hat es doch für angebracht gehalten, der Stimmung innerhalb der deutschen Arbeiterschaft Rechnung zu tragen und damit auch den Auffassungen derjenigen bürgerlichen Politiker und Schriftsteller Recht gegeben, die behaupten, die Sozialdemokratie verliere bei der überwältigenden Mehrheit der deutschen Arbeiter an Einfluß, sobald wirklich ernste nationale Fragen an sie herantreten. Dasselbe gilt auch von Fragen der Weltanschauung, die bei den breiten Massen in instinktiven Religionsbedürfnis zum Ausdruck kommt. Auch auf diesen Punkt hat Bebel Rücksicht genommen. Die Macht der Sozialdemokratie liegt sowohl in ihrem Wirt¬ schaftsprogramm wie auch in den zweifellosen Verdiensten, die sich die sozial¬ demokratischen Organisationen um die Hebung des Wohlstandes bei den breiten Volksschichten erworben haben. Freilich konnte die Partei diese Verdienste nur ein¬ heimsen, weil gleichlaufend mit dem Aufstieg des Bedürfnisses sich auch das Verständ¬ nis dafür bei der Krone entwickelte. Die Verdienste der Krone um die Hebung der Masse, die Verdienste auch der Unternehmer um die Besserstellung der Arbeiter und damit der bürgerlichen Parteien werden selbstverständlich in der sozialdemokratischen Parteiagitation nach Möglichkeit vergessen gemacht, und so hat nicht nur die Arbeiterschaft, sondern auch ein recht großer Teil der Gebildeten die Auffassung, als verdankten wir unsere soziale Gesetzgebung, unsere sozialen Einrichtungen in den Städten bei den großen Fabriken ausschließlich der Arbeit der Sozialdemokratie. Die bürgerlichen Parteien sind der mit dieser Auffassung betriebenen Agitation nur mit sehr schwachen Mitteln, zum Teil auch mit ungeeigneten Mitteln, entgegengetreten. Vielfach ist man ohne eine genaue Kenntnis der historischen Entwicklung der sozialdemokratischen Partei vorgegangen, und es wurden Dinge bekämpft, für die tatsächlich in der sozialdemokratischen Partei Deutschlands überhaupt kein Boden vorhanden war. Bei dem überall und im allgemeinen erstarkenden nationalen Bewußtsein glaubte man den auf wirtschaftlichen Voraus¬ setzungen ruhenden Kämpfen durch starke Anwendung der nationalen Phrase entgegentreten zu können. Der Erfolg war gleich Null. Als dann aber wirklich eine große nationale Frage auftauchte und Fürst Bülow im Jahre 1907 die Parole gegen das Zentrum ausgab, verlor die rote Partei eine ganze Reihe von Sitzen. Die Erfahrung von 1907 wird wohl auch nicht ohne Einfluß gewesen sein für die Haltung des Parteivorstandes in Jena und für die Taktik, die Bebel in seiner Rede zu den bevorstehenden Wahlen anwandte. So gelang es ihm,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/584>, abgerufen am 29.12.2024.