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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Reichsspiegel
Innere Politik

Die Sozialdemokraten in Jena -- Rede Bebels zur Marokkofrage -- Die Macht der
Sozialdemokratie -- Die Linksliberalen -- Kijew und Wien -- Beeinflussung der
Presse

Während die Diplomaten noch um Einzelheiten des neuen deutsch¬
französischen Marokkovertrages handeln, während sich das Gespenst eines Welt¬
krieges immer weiter von den friedlichen Stätten deutscher Arbeit zurückzieht,
fallen schon hier und da neue, lange Schlagschatten auf die politische Bühne
und künden das Nahen kommender Ereignisse. Der sozialdemokratische
Parteitag, der vom 10. bis zum 16. d. M. in Jena tagte, darf wohl mit
Recht als die Einleitung des strategischen Aufmarsches bezeichnet werden, den
die Parteien für die bevorstehende Wahlkampagne in heimlicher Arbeit vor¬
bereitet haben.

Wie kaum anders zu erwarten, bildet der Marokkohandel auch für die
deutsche Sozialdemokratie einen günstigen Ausgangspunkt für die Wahlagitation.
Die große Rede Bebels zur Marokkofrage hat bei Freund und Feind
berechtigtes Aufsehen erregt. Sie war im Hinblick auf die allgemeine inner¬
politische Lage ein Meisterstück der Taktik. Durch die düstere Schilderung des
Wesens des Imperialismus und durch die mit grellen Farben gemalten Schlachten¬
bilder nahm er die Aufmerksamkeit auch seiner radikalen Genossen so sehr in
Anspruch, daß die Abschüttelung der unentwegter Revolutionäre Rosa Luxemburg
und Ledebour keine laute Abwehr im radikalen Lager hervorrief. Damit
erreichte Bebel zweierlei. Auf der einen Seite verhinderte er den lauten Protest
der Radikalen, die die Rede hörten, und auf der anderen erzeugt er beim
Publikum draußen, das die Rede nur liest, die Anschauung, als habe er, ohne
den Protest der Versammlung zu erregen, die Radikalen tatsächlich ab¬
geschüttelt. Wir greifen wohl nicht fehl, wenn wir dies Ergebnis als be¬
sonders auf die Linksliberalen zugeschnitten auffassen. Die Mitglieder der bürger¬
lichen Parteien hören bis auf wenige Journalisten die Rede nicht, sondern lesen
sie, und zwar nicht im Vorwärts, sondern im Auszuge des Berliner Tageblatts.




Reichsspiegel
Innere Politik

Die Sozialdemokraten in Jena — Rede Bebels zur Marokkofrage — Die Macht der
Sozialdemokratie — Die Linksliberalen — Kijew und Wien — Beeinflussung der
Presse

Während die Diplomaten noch um Einzelheiten des neuen deutsch¬
französischen Marokkovertrages handeln, während sich das Gespenst eines Welt¬
krieges immer weiter von den friedlichen Stätten deutscher Arbeit zurückzieht,
fallen schon hier und da neue, lange Schlagschatten auf die politische Bühne
und künden das Nahen kommender Ereignisse. Der sozialdemokratische
Parteitag, der vom 10. bis zum 16. d. M. in Jena tagte, darf wohl mit
Recht als die Einleitung des strategischen Aufmarsches bezeichnet werden, den
die Parteien für die bevorstehende Wahlkampagne in heimlicher Arbeit vor¬
bereitet haben.

Wie kaum anders zu erwarten, bildet der Marokkohandel auch für die
deutsche Sozialdemokratie einen günstigen Ausgangspunkt für die Wahlagitation.
Die große Rede Bebels zur Marokkofrage hat bei Freund und Feind
berechtigtes Aufsehen erregt. Sie war im Hinblick auf die allgemeine inner¬
politische Lage ein Meisterstück der Taktik. Durch die düstere Schilderung des
Wesens des Imperialismus und durch die mit grellen Farben gemalten Schlachten¬
bilder nahm er die Aufmerksamkeit auch seiner radikalen Genossen so sehr in
Anspruch, daß die Abschüttelung der unentwegter Revolutionäre Rosa Luxemburg
und Ledebour keine laute Abwehr im radikalen Lager hervorrief. Damit
erreichte Bebel zweierlei. Auf der einen Seite verhinderte er den lauten Protest
der Radikalen, die die Rede hörten, und auf der anderen erzeugt er beim
Publikum draußen, das die Rede nur liest, die Anschauung, als habe er, ohne
den Protest der Versammlung zu erregen, die Radikalen tatsächlich ab¬
geschüttelt. Wir greifen wohl nicht fehl, wenn wir dies Ergebnis als be¬
sonders auf die Linksliberalen zugeschnitten auffassen. Die Mitglieder der bürger¬
lichen Parteien hören bis auf wenige Journalisten die Rede nicht, sondern lesen
sie, und zwar nicht im Vorwärts, sondern im Auszuge des Berliner Tageblatts.


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[0583] [Abbildung] Reichsspiegel Innere Politik Die Sozialdemokraten in Jena — Rede Bebels zur Marokkofrage — Die Macht der Sozialdemokratie — Die Linksliberalen — Kijew und Wien — Beeinflussung der Presse Während die Diplomaten noch um Einzelheiten des neuen deutsch¬ französischen Marokkovertrages handeln, während sich das Gespenst eines Welt¬ krieges immer weiter von den friedlichen Stätten deutscher Arbeit zurückzieht, fallen schon hier und da neue, lange Schlagschatten auf die politische Bühne und künden das Nahen kommender Ereignisse. Der sozialdemokratische Parteitag, der vom 10. bis zum 16. d. M. in Jena tagte, darf wohl mit Recht als die Einleitung des strategischen Aufmarsches bezeichnet werden, den die Parteien für die bevorstehende Wahlkampagne in heimlicher Arbeit vor¬ bereitet haben. Wie kaum anders zu erwarten, bildet der Marokkohandel auch für die deutsche Sozialdemokratie einen günstigen Ausgangspunkt für die Wahlagitation. Die große Rede Bebels zur Marokkofrage hat bei Freund und Feind berechtigtes Aufsehen erregt. Sie war im Hinblick auf die allgemeine inner¬ politische Lage ein Meisterstück der Taktik. Durch die düstere Schilderung des Wesens des Imperialismus und durch die mit grellen Farben gemalten Schlachten¬ bilder nahm er die Aufmerksamkeit auch seiner radikalen Genossen so sehr in Anspruch, daß die Abschüttelung der unentwegter Revolutionäre Rosa Luxemburg und Ledebour keine laute Abwehr im radikalen Lager hervorrief. Damit erreichte Bebel zweierlei. Auf der einen Seite verhinderte er den lauten Protest der Radikalen, die die Rede hörten, und auf der anderen erzeugt er beim Publikum draußen, das die Rede nur liest, die Anschauung, als habe er, ohne den Protest der Versammlung zu erregen, die Radikalen tatsächlich ab¬ geschüttelt. Wir greifen wohl nicht fehl, wenn wir dies Ergebnis als be¬ sonders auf die Linksliberalen zugeschnitten auffassen. Die Mitglieder der bürger¬ lichen Parteien hören bis auf wenige Journalisten die Rede nicht, sondern lesen sie, und zwar nicht im Vorwärts, sondern im Auszuge des Berliner Tageblatts.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/583>, abgerufen am 29.12.2024.