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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

vermögen. Jahr für Jahr erleben wir Perioden, in denen ein plötzlicher, meist
ganz unvorhergesehener Kurssturz an der New-Uorker Börse eintritt und alle
mit sich reißt, die unvorsichtig genug waren, sich über ihre Verhältnisse in
amerikanischen Werten zu engagieren. Die raschen und unvermittelter Kurs¬
bewegungen in Wallstreet bieten eine starke Verlockung für spekulative Naturen;
große Gewinne scheinen bei günstiger Konstellation in sicherer Aussicht zu stehen
und fallen tatsächlich oft den vom Glück Begünstigten in den Schoß. Das Ge¬
fährliche liegt aber darin, daß der amerikanische Markt durchaus in den Händen
der großen Faiseure ist, "manipuliert" wird, wie man sagt. Die Finanzmagnaten
fechten auf dem Boden der Börse nicht nur ihre eigenen Jnteressenkämpfe aus,
bei denen eine künstlich inszenierte Deroute ihnen ebenso oft als Waffe dient,
wie ein Aufpeitschen des Marktes durch höher und höher steigende Kurse, sondern
auch ihre Zwistigkeiten mit der Regierung in Ansehung der wirtschaftlichen Gesetz¬
gebung. Die Börse ist für sie ein wirtschaftliches und politisches Kampfwerkzeug.
Daraus ergibt sich, daß die Kursbewegung niemals mit hinlänglicher Wahr¬
scheinlichkeit vorausgesehen werden kann. Es wirken zuviel Momente auf sie
ein, die mit der allgemeinen Wirtschaftslage in keinem oder einem nur losen
Zusammenhang stehen und aus der Ferne nicht beurteilt werden können. Die
Börsenkurse schlagen daher oft eine Richtung ein, die der augenblicklichen Kon¬
junktur schnurstracks zuwiderläuft -- wie dies eben jetzt im August der Fall
war, wo alle Welt sich auf ein Steigen der Kurse eingerichtet hatte und jeder
glaubte, sich beeilen zu müssen, um von dem zu erwartenden goldenen Segen
auch sein Scherflein zu erHaschen. Und das Resultat? Kursverluste, die nach
den Angaben eines Finanzblattes die Höhe von mehr als zwei Milliarden Mark
erreichen und an denen leider Deutschland mit einem erheblichen Betrag beteiligt
ist. Hier ist in einen: Monat mehr verloren worden, als während der ganzen
aufsteigenden Periode an den heimischen Börsen verdient werden konnte. Diese
Verluste treffen sowohl die Börse als das Privatpublikum, letzteres aber in
weit stärkerem Maße. Denn zu jeder Zeit sind die der Börse fern stehen¬
den Kreise nicht nur waghalsiger und unternehmungslustiger als die berufs¬
mäßigen Spekulanten, sondern sie halten auch an vorgefaßten Meinungen mit
großer Zähigkeit fest und verstehen nicht, wie der Börsenmann, ihre Operationen blitz¬
geschwind den veränderlichen Forderungen des Tages anzupassen. Dabei stehen sie,
weil schlechter unterrichtet und von den Ereignissen fast stets überrascht, durchaus im
Hintertreffen, können günstige Konstellationen nur selten in vollem Maße aus¬
nutzen und müssen ungünstige in ihrer ganzen Schwere tragen. Man könnte
sich wirklich darüber wundern, wie gering die Urteilskraft und die Einsicht nicht
nur der großen Masse, sondern auch sonst verständiger Leute ist, belehrten uns
nicht die Tatsachen darüber, daß in Deutschland eine geradezu unerschöpfliche
Vertrauensseligkeit und Unerfahrenheit in finanziellen Dingen besteht. Diese
Beobachtung kontrastiert freilich seltsam zu der Rolle eines Industrie- und
Handelsstaates von dem Range Deutschlands und nicht minder seltsam zu der


Reichsspiegel

vermögen. Jahr für Jahr erleben wir Perioden, in denen ein plötzlicher, meist
ganz unvorhergesehener Kurssturz an der New-Uorker Börse eintritt und alle
mit sich reißt, die unvorsichtig genug waren, sich über ihre Verhältnisse in
amerikanischen Werten zu engagieren. Die raschen und unvermittelter Kurs¬
bewegungen in Wallstreet bieten eine starke Verlockung für spekulative Naturen;
große Gewinne scheinen bei günstiger Konstellation in sicherer Aussicht zu stehen
und fallen tatsächlich oft den vom Glück Begünstigten in den Schoß. Das Ge¬
fährliche liegt aber darin, daß der amerikanische Markt durchaus in den Händen
der großen Faiseure ist, „manipuliert" wird, wie man sagt. Die Finanzmagnaten
fechten auf dem Boden der Börse nicht nur ihre eigenen Jnteressenkämpfe aus,
bei denen eine künstlich inszenierte Deroute ihnen ebenso oft als Waffe dient,
wie ein Aufpeitschen des Marktes durch höher und höher steigende Kurse, sondern
auch ihre Zwistigkeiten mit der Regierung in Ansehung der wirtschaftlichen Gesetz¬
gebung. Die Börse ist für sie ein wirtschaftliches und politisches Kampfwerkzeug.
Daraus ergibt sich, daß die Kursbewegung niemals mit hinlänglicher Wahr¬
scheinlichkeit vorausgesehen werden kann. Es wirken zuviel Momente auf sie
ein, die mit der allgemeinen Wirtschaftslage in keinem oder einem nur losen
Zusammenhang stehen und aus der Ferne nicht beurteilt werden können. Die
Börsenkurse schlagen daher oft eine Richtung ein, die der augenblicklichen Kon¬
junktur schnurstracks zuwiderläuft — wie dies eben jetzt im August der Fall
war, wo alle Welt sich auf ein Steigen der Kurse eingerichtet hatte und jeder
glaubte, sich beeilen zu müssen, um von dem zu erwartenden goldenen Segen
auch sein Scherflein zu erHaschen. Und das Resultat? Kursverluste, die nach
den Angaben eines Finanzblattes die Höhe von mehr als zwei Milliarden Mark
erreichen und an denen leider Deutschland mit einem erheblichen Betrag beteiligt
ist. Hier ist in einen: Monat mehr verloren worden, als während der ganzen
aufsteigenden Periode an den heimischen Börsen verdient werden konnte. Diese
Verluste treffen sowohl die Börse als das Privatpublikum, letzteres aber in
weit stärkerem Maße. Denn zu jeder Zeit sind die der Börse fern stehen¬
den Kreise nicht nur waghalsiger und unternehmungslustiger als die berufs¬
mäßigen Spekulanten, sondern sie halten auch an vorgefaßten Meinungen mit
großer Zähigkeit fest und verstehen nicht, wie der Börsenmann, ihre Operationen blitz¬
geschwind den veränderlichen Forderungen des Tages anzupassen. Dabei stehen sie,
weil schlechter unterrichtet und von den Ereignissen fast stets überrascht, durchaus im
Hintertreffen, können günstige Konstellationen nur selten in vollem Maße aus¬
nutzen und müssen ungünstige in ihrer ganzen Schwere tragen. Man könnte
sich wirklich darüber wundern, wie gering die Urteilskraft und die Einsicht nicht
nur der großen Masse, sondern auch sonst verständiger Leute ist, belehrten uns
nicht die Tatsachen darüber, daß in Deutschland eine geradezu unerschöpfliche
Vertrauensseligkeit und Unerfahrenheit in finanziellen Dingen besteht. Diese
Beobachtung kontrastiert freilich seltsam zu der Rolle eines Industrie- und
Handelsstaates von dem Range Deutschlands und nicht minder seltsam zu der


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[0492] Reichsspiegel vermögen. Jahr für Jahr erleben wir Perioden, in denen ein plötzlicher, meist ganz unvorhergesehener Kurssturz an der New-Uorker Börse eintritt und alle mit sich reißt, die unvorsichtig genug waren, sich über ihre Verhältnisse in amerikanischen Werten zu engagieren. Die raschen und unvermittelter Kurs¬ bewegungen in Wallstreet bieten eine starke Verlockung für spekulative Naturen; große Gewinne scheinen bei günstiger Konstellation in sicherer Aussicht zu stehen und fallen tatsächlich oft den vom Glück Begünstigten in den Schoß. Das Ge¬ fährliche liegt aber darin, daß der amerikanische Markt durchaus in den Händen der großen Faiseure ist, „manipuliert" wird, wie man sagt. Die Finanzmagnaten fechten auf dem Boden der Börse nicht nur ihre eigenen Jnteressenkämpfe aus, bei denen eine künstlich inszenierte Deroute ihnen ebenso oft als Waffe dient, wie ein Aufpeitschen des Marktes durch höher und höher steigende Kurse, sondern auch ihre Zwistigkeiten mit der Regierung in Ansehung der wirtschaftlichen Gesetz¬ gebung. Die Börse ist für sie ein wirtschaftliches und politisches Kampfwerkzeug. Daraus ergibt sich, daß die Kursbewegung niemals mit hinlänglicher Wahr¬ scheinlichkeit vorausgesehen werden kann. Es wirken zuviel Momente auf sie ein, die mit der allgemeinen Wirtschaftslage in keinem oder einem nur losen Zusammenhang stehen und aus der Ferne nicht beurteilt werden können. Die Börsenkurse schlagen daher oft eine Richtung ein, die der augenblicklichen Kon¬ junktur schnurstracks zuwiderläuft — wie dies eben jetzt im August der Fall war, wo alle Welt sich auf ein Steigen der Kurse eingerichtet hatte und jeder glaubte, sich beeilen zu müssen, um von dem zu erwartenden goldenen Segen auch sein Scherflein zu erHaschen. Und das Resultat? Kursverluste, die nach den Angaben eines Finanzblattes die Höhe von mehr als zwei Milliarden Mark erreichen und an denen leider Deutschland mit einem erheblichen Betrag beteiligt ist. Hier ist in einen: Monat mehr verloren worden, als während der ganzen aufsteigenden Periode an den heimischen Börsen verdient werden konnte. Diese Verluste treffen sowohl die Börse als das Privatpublikum, letzteres aber in weit stärkerem Maße. Denn zu jeder Zeit sind die der Börse fern stehen¬ den Kreise nicht nur waghalsiger und unternehmungslustiger als die berufs¬ mäßigen Spekulanten, sondern sie halten auch an vorgefaßten Meinungen mit großer Zähigkeit fest und verstehen nicht, wie der Börsenmann, ihre Operationen blitz¬ geschwind den veränderlichen Forderungen des Tages anzupassen. Dabei stehen sie, weil schlechter unterrichtet und von den Ereignissen fast stets überrascht, durchaus im Hintertreffen, können günstige Konstellationen nur selten in vollem Maße aus¬ nutzen und müssen ungünstige in ihrer ganzen Schwere tragen. Man könnte sich wirklich darüber wundern, wie gering die Urteilskraft und die Einsicht nicht nur der großen Masse, sondern auch sonst verständiger Leute ist, belehrten uns nicht die Tatsachen darüber, daß in Deutschland eine geradezu unerschöpfliche Vertrauensseligkeit und Unerfahrenheit in finanziellen Dingen besteht. Diese Beobachtung kontrastiert freilich seltsam zu der Rolle eines Industrie- und Handelsstaates von dem Range Deutschlands und nicht minder seltsam zu der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/492>, abgerufen am 04.01.2025.