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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Organisation der volksbibliotheken

ihrer Bibliothek vorhandenen Bücher kannten, geschweige denn etwas von ihrem
Inhalt wußten. Und sie sollen die zu ihnen kommenden Leser beraten und
ihnen zu einer geeigneten Lektüre verhelfen! Und wie sieht es häufig mit der
Verwaltung aus! Wieviele Bibliotheken vermögen z.B. anzugeben, wieviel und
was für Bücher sie in einen: Jahre verliehen haben? Natürlich gibt es auf
der anderen Seite auch solche, die mit einer grenzenlosen Liebe und Sorgfalt
betreut werden. So denke ich z. B. an einen alten Rektor in M., der feit
fünfunddreißig Jahren die dortige Volksbibliothek verwaltet. Er hat die Bücherei
auf einer Dachkammer in gänzlich verwahrlostem Zustande vorgefunden, sie, da
kein anderer Raum erhältlich war, in seiner Wohnung aufgestellt, und dann
fünfunddreißig Jahre lang sich den größten Teil der Mittel zusammengebettelt,
uni sie weiterführen zu können. In diesen langen Jahren hat er alle Sonntage
Bücher ausgegeben und für diese Arbeit nicht einen Pfennig erhalten. Muß
man vor einem solchen Idealismus nicht unbegrenzte Hochachtung empfinden?

Wenn man nun sieht, daß unter diesen Verhältnissen in einer Stadt oft
mehrere Bibliotheken bestehen, so kann man sich vorstellen, was sie leisten. In
einer Stadt z. B. von 8400 Einwohnern sind nicht weniger als sechs Büchereien
vorhanden, von denen kaum eine über mehr als 50 Mark im Jahre verfügt.
Sie können natürlich alle weder leben noch sterben. Und ebensowenig wie es an
vielen Orten ein lokales Zusammenarbeiten gibt, fehlt es an einem Zusammen¬
schluß der Gleichstrebenden in einem größeren Bezirk, etwa in: Kreise.

Die Schäden dieser Zersplitterung sind so offensichtlich, daß es nicht an
Versuchen gefehlt hat, ihnen abzuhelfen. So hat z. B. die Gesellschaft zur Ver¬
breitung von Volksbildung an die Städte Rundschreiben versandt, in der sie zu
einer Konzentration der freien Volksbildungsarbeit (Bibliotheken, Vorträge usw.)
auffordert, und sie hat die Behandlung dieser Frage zum Hauptthema ihrer
diesjährigen Generalversammlung gemacht. Ob sich daraus aber ein großer,
praktischer Nutzen ergeben wird, will mir sehr zweifelhaft erscheinen. Auf
jeden Fall verdient die Gesellschaft Dank dafür, daß sie die Aufmerksamkeit
der maßgebenden Instanzen auf diese wichtige Frage lenkt. Wer diese Auf¬
gabe lösen will, muß in jedem einzelnen Falle über zweierlei verfügen:
über Geld und über Autorität. Beides aber besitzt die Gesellschaft nicht in
dem erforderlichen Maße. Nur wenn die Faktoren, die zusammengeschlossen
werden sollen, sehen, daß diese Bewegung von einer Stelle ausgeht, die die
Macht und die Mittel besitzt, auch ohne sie zu handeln und sie dann eventuell
kaltzustellen, wird sich in vielen, ja den meisten Fällen eine Konzentration
erreichen lassen. Das ist eine der Lehren, die wir von den beiden vorhandenen
großen Organisationen auf dem Gebiet der Volksbibliotheken ziehen können.
Diese Organisationen befinden sich in Posen und Oberschlesien.

Das energische Vorgehen der Regierung in diesen Bezirken hängt natur¬
gemäß mit den dortigen politischen Verhältnissen zusammen. Bei dem scharfen
Kampf der Nationalitäten galt es, die Deutschen durch Zuführung geistiger


Organisation der volksbibliotheken

ihrer Bibliothek vorhandenen Bücher kannten, geschweige denn etwas von ihrem
Inhalt wußten. Und sie sollen die zu ihnen kommenden Leser beraten und
ihnen zu einer geeigneten Lektüre verhelfen! Und wie sieht es häufig mit der
Verwaltung aus! Wieviele Bibliotheken vermögen z.B. anzugeben, wieviel und
was für Bücher sie in einen: Jahre verliehen haben? Natürlich gibt es auf
der anderen Seite auch solche, die mit einer grenzenlosen Liebe und Sorgfalt
betreut werden. So denke ich z. B. an einen alten Rektor in M., der feit
fünfunddreißig Jahren die dortige Volksbibliothek verwaltet. Er hat die Bücherei
auf einer Dachkammer in gänzlich verwahrlostem Zustande vorgefunden, sie, da
kein anderer Raum erhältlich war, in seiner Wohnung aufgestellt, und dann
fünfunddreißig Jahre lang sich den größten Teil der Mittel zusammengebettelt,
uni sie weiterführen zu können. In diesen langen Jahren hat er alle Sonntage
Bücher ausgegeben und für diese Arbeit nicht einen Pfennig erhalten. Muß
man vor einem solchen Idealismus nicht unbegrenzte Hochachtung empfinden?

Wenn man nun sieht, daß unter diesen Verhältnissen in einer Stadt oft
mehrere Bibliotheken bestehen, so kann man sich vorstellen, was sie leisten. In
einer Stadt z. B. von 8400 Einwohnern sind nicht weniger als sechs Büchereien
vorhanden, von denen kaum eine über mehr als 50 Mark im Jahre verfügt.
Sie können natürlich alle weder leben noch sterben. Und ebensowenig wie es an
vielen Orten ein lokales Zusammenarbeiten gibt, fehlt es an einem Zusammen¬
schluß der Gleichstrebenden in einem größeren Bezirk, etwa in: Kreise.

Die Schäden dieser Zersplitterung sind so offensichtlich, daß es nicht an
Versuchen gefehlt hat, ihnen abzuhelfen. So hat z. B. die Gesellschaft zur Ver¬
breitung von Volksbildung an die Städte Rundschreiben versandt, in der sie zu
einer Konzentration der freien Volksbildungsarbeit (Bibliotheken, Vorträge usw.)
auffordert, und sie hat die Behandlung dieser Frage zum Hauptthema ihrer
diesjährigen Generalversammlung gemacht. Ob sich daraus aber ein großer,
praktischer Nutzen ergeben wird, will mir sehr zweifelhaft erscheinen. Auf
jeden Fall verdient die Gesellschaft Dank dafür, daß sie die Aufmerksamkeit
der maßgebenden Instanzen auf diese wichtige Frage lenkt. Wer diese Auf¬
gabe lösen will, muß in jedem einzelnen Falle über zweierlei verfügen:
über Geld und über Autorität. Beides aber besitzt die Gesellschaft nicht in
dem erforderlichen Maße. Nur wenn die Faktoren, die zusammengeschlossen
werden sollen, sehen, daß diese Bewegung von einer Stelle ausgeht, die die
Macht und die Mittel besitzt, auch ohne sie zu handeln und sie dann eventuell
kaltzustellen, wird sich in vielen, ja den meisten Fällen eine Konzentration
erreichen lassen. Das ist eine der Lehren, die wir von den beiden vorhandenen
großen Organisationen auf dem Gebiet der Volksbibliotheken ziehen können.
Diese Organisationen befinden sich in Posen und Oberschlesien.

Das energische Vorgehen der Regierung in diesen Bezirken hängt natur¬
gemäß mit den dortigen politischen Verhältnissen zusammen. Bei dem scharfen
Kampf der Nationalitäten galt es, die Deutschen durch Zuführung geistiger


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[0461] Organisation der volksbibliotheken ihrer Bibliothek vorhandenen Bücher kannten, geschweige denn etwas von ihrem Inhalt wußten. Und sie sollen die zu ihnen kommenden Leser beraten und ihnen zu einer geeigneten Lektüre verhelfen! Und wie sieht es häufig mit der Verwaltung aus! Wieviele Bibliotheken vermögen z.B. anzugeben, wieviel und was für Bücher sie in einen: Jahre verliehen haben? Natürlich gibt es auf der anderen Seite auch solche, die mit einer grenzenlosen Liebe und Sorgfalt betreut werden. So denke ich z. B. an einen alten Rektor in M., der feit fünfunddreißig Jahren die dortige Volksbibliothek verwaltet. Er hat die Bücherei auf einer Dachkammer in gänzlich verwahrlostem Zustande vorgefunden, sie, da kein anderer Raum erhältlich war, in seiner Wohnung aufgestellt, und dann fünfunddreißig Jahre lang sich den größten Teil der Mittel zusammengebettelt, uni sie weiterführen zu können. In diesen langen Jahren hat er alle Sonntage Bücher ausgegeben und für diese Arbeit nicht einen Pfennig erhalten. Muß man vor einem solchen Idealismus nicht unbegrenzte Hochachtung empfinden? Wenn man nun sieht, daß unter diesen Verhältnissen in einer Stadt oft mehrere Bibliotheken bestehen, so kann man sich vorstellen, was sie leisten. In einer Stadt z. B. von 8400 Einwohnern sind nicht weniger als sechs Büchereien vorhanden, von denen kaum eine über mehr als 50 Mark im Jahre verfügt. Sie können natürlich alle weder leben noch sterben. Und ebensowenig wie es an vielen Orten ein lokales Zusammenarbeiten gibt, fehlt es an einem Zusammen¬ schluß der Gleichstrebenden in einem größeren Bezirk, etwa in: Kreise. Die Schäden dieser Zersplitterung sind so offensichtlich, daß es nicht an Versuchen gefehlt hat, ihnen abzuhelfen. So hat z. B. die Gesellschaft zur Ver¬ breitung von Volksbildung an die Städte Rundschreiben versandt, in der sie zu einer Konzentration der freien Volksbildungsarbeit (Bibliotheken, Vorträge usw.) auffordert, und sie hat die Behandlung dieser Frage zum Hauptthema ihrer diesjährigen Generalversammlung gemacht. Ob sich daraus aber ein großer, praktischer Nutzen ergeben wird, will mir sehr zweifelhaft erscheinen. Auf jeden Fall verdient die Gesellschaft Dank dafür, daß sie die Aufmerksamkeit der maßgebenden Instanzen auf diese wichtige Frage lenkt. Wer diese Auf¬ gabe lösen will, muß in jedem einzelnen Falle über zweierlei verfügen: über Geld und über Autorität. Beides aber besitzt die Gesellschaft nicht in dem erforderlichen Maße. Nur wenn die Faktoren, die zusammengeschlossen werden sollen, sehen, daß diese Bewegung von einer Stelle ausgeht, die die Macht und die Mittel besitzt, auch ohne sie zu handeln und sie dann eventuell kaltzustellen, wird sich in vielen, ja den meisten Fällen eine Konzentration erreichen lassen. Das ist eine der Lehren, die wir von den beiden vorhandenen großen Organisationen auf dem Gebiet der Volksbibliotheken ziehen können. Diese Organisationen befinden sich in Posen und Oberschlesien. Das energische Vorgehen der Regierung in diesen Bezirken hängt natur¬ gemäß mit den dortigen politischen Verhältnissen zusammen. Bei dem scharfen Kampf der Nationalitäten galt es, die Deutschen durch Zuführung geistiger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/461>, abgerufen am 01.01.2025.