Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Gegenwart und Ankunft der Freilichtbühne

An die Stelle des Schauspielerischen tritt aber im Singspiel etwas Anderes,
das in dieser Umgebung als vollgültiger Ersatz dienen kann, das ist der Gesang,
das Musikalische.

Der leichtgezimmerte Rahmen der "Fischerin" umfaßt außer dem "Erl¬
könig" noch vier der schönsten Volkslieder aus Herders "Stimmen der Völker
in Liedern".

Vielleicht ist im Verslustspiel der Rhythmus und die Melodik des Verses
imstande, die Rolle des Musikalischen im Singspiel einigermaßen auszufüllen.

Wir sprechen diese Vermutung aber nur für das intime Gartentheater aus,
nicht für die weiten Dimensionen des modernen, des naturalistischen Freilichttheaters.

Die naturalistische Freilichtbühne wird durch ihre eigentümlichen Mittel,
die bildhafte Schönheit ihrer natürlichen Szenerie, die Fähigkeit zur plastischen
Gestaltung und Gruppierung von großen Aufzügen und Volksmassen, endlich
durch ihre Geschaffenheit für Reigen und Tänze mit musikalischer, möglichst
liedhafter Begleitung nach einer ganz anderen Seite hingewiesen.

Sie könnte sich an ein großes romantisches Drama wagen, wenn -- es
ein solches gäbe und -- wenn die Kunst des Schauspielers, wenn der
individualisierende Dialog zu ihren verwendbaren Mitteln zählten.

Da das nicht der Fall ist, so bleibt unserer Freilichtbühne nur das
historisch-romantische Festspiel als Domäne, das heißt, die historisch-romantische
Pantomime, ausgeschmückt mit Musik, Gesang und Tanz.

Die Hussitenspiele zu Bernau bei Berlin, die in diesem Sommer statt¬
fanden, boten in dieser Beziehung manches Glückliche.

Sie lehrten vor allem, daß man auch eine architektonische Szenerie glück¬
lich für das Naturtheater verwenden kann, nicht nur ein waldiges Milieu. Diese
Erkenntnis ist inzwischen wohl auch anderwärts durchgedrungen; so hat man
kürzlich auf der Rudelsburg ein historisches Schaustück aufgeführt, das der
Szenerie angepaßt war. Es erscheint übrigens durchaus als kein Fehler, wenn
das Schaustück der architektonischen, vor allem der historischen Szenerie "auf
den Leib geschrieben" wird. Auch Goethe hat die "Fischerin" sür die ganz
besonderen natürlichen Verhältnisse der Tiefurter Bühne gedichtet.

Die Bernauer Spiele lehrten ferner, daß die Massenwirkung sehr gut an
die Stelle der Einzelwirkung auf der Freilichtbühne treten könne. Gerade die
Gruppierung der Massen, ihre Aufzüge, ihre Spiele, ihre wilde Erregung bildet
einen Ersatz dafür, daß auf dem Naturtheater der Einzelschauspieler seinem
Fühlen und Handeln nicht verständlich genug Ausdruck zu geben vermag.

Man darf nicht vergessen, daß ein genialer Regisseur dieses Auftreten,
Verweilen und Abgehen der Masse, ihr Spiel und ihre Lust einerseits, ihre
Erregung und wilde Leidenschaft anderseits sehr wohl zusammenfassen und ver¬
werten kann zu Ausdrucksbewegungen für die Handlung eines Stückes, eines
Volksstückes in dem Sinne, daß in ihm die Empfindungen, Gefühle und Hand¬
lungen, das Schicksal eines Volkes seine Darstellung findet.


Gegenwart und Ankunft der Freilichtbühne

An die Stelle des Schauspielerischen tritt aber im Singspiel etwas Anderes,
das in dieser Umgebung als vollgültiger Ersatz dienen kann, das ist der Gesang,
das Musikalische.

Der leichtgezimmerte Rahmen der „Fischerin" umfaßt außer dem „Erl¬
könig" noch vier der schönsten Volkslieder aus Herders „Stimmen der Völker
in Liedern".

Vielleicht ist im Verslustspiel der Rhythmus und die Melodik des Verses
imstande, die Rolle des Musikalischen im Singspiel einigermaßen auszufüllen.

Wir sprechen diese Vermutung aber nur für das intime Gartentheater aus,
nicht für die weiten Dimensionen des modernen, des naturalistischen Freilichttheaters.

Die naturalistische Freilichtbühne wird durch ihre eigentümlichen Mittel,
die bildhafte Schönheit ihrer natürlichen Szenerie, die Fähigkeit zur plastischen
Gestaltung und Gruppierung von großen Aufzügen und Volksmassen, endlich
durch ihre Geschaffenheit für Reigen und Tänze mit musikalischer, möglichst
liedhafter Begleitung nach einer ganz anderen Seite hingewiesen.

Sie könnte sich an ein großes romantisches Drama wagen, wenn — es
ein solches gäbe und — wenn die Kunst des Schauspielers, wenn der
individualisierende Dialog zu ihren verwendbaren Mitteln zählten.

Da das nicht der Fall ist, so bleibt unserer Freilichtbühne nur das
historisch-romantische Festspiel als Domäne, das heißt, die historisch-romantische
Pantomime, ausgeschmückt mit Musik, Gesang und Tanz.

Die Hussitenspiele zu Bernau bei Berlin, die in diesem Sommer statt¬
fanden, boten in dieser Beziehung manches Glückliche.

Sie lehrten vor allem, daß man auch eine architektonische Szenerie glück¬
lich für das Naturtheater verwenden kann, nicht nur ein waldiges Milieu. Diese
Erkenntnis ist inzwischen wohl auch anderwärts durchgedrungen; so hat man
kürzlich auf der Rudelsburg ein historisches Schaustück aufgeführt, das der
Szenerie angepaßt war. Es erscheint übrigens durchaus als kein Fehler, wenn
das Schaustück der architektonischen, vor allem der historischen Szenerie „auf
den Leib geschrieben" wird. Auch Goethe hat die „Fischerin" sür die ganz
besonderen natürlichen Verhältnisse der Tiefurter Bühne gedichtet.

Die Bernauer Spiele lehrten ferner, daß die Massenwirkung sehr gut an
die Stelle der Einzelwirkung auf der Freilichtbühne treten könne. Gerade die
Gruppierung der Massen, ihre Aufzüge, ihre Spiele, ihre wilde Erregung bildet
einen Ersatz dafür, daß auf dem Naturtheater der Einzelschauspieler seinem
Fühlen und Handeln nicht verständlich genug Ausdruck zu geben vermag.

Man darf nicht vergessen, daß ein genialer Regisseur dieses Auftreten,
Verweilen und Abgehen der Masse, ihr Spiel und ihre Lust einerseits, ihre
Erregung und wilde Leidenschaft anderseits sehr wohl zusammenfassen und ver¬
werten kann zu Ausdrucksbewegungen für die Handlung eines Stückes, eines
Volksstückes in dem Sinne, daß in ihm die Empfindungen, Gefühle und Hand¬
lungen, das Schicksal eines Volkes seine Darstellung findet.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0458" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319405"/>
          <fw type="header" place="top"> Gegenwart und Ankunft der Freilichtbühne</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2180"> An die Stelle des Schauspielerischen tritt aber im Singspiel etwas Anderes,<lb/>
das in dieser Umgebung als vollgültiger Ersatz dienen kann, das ist der Gesang,<lb/>
das Musikalische.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2181"> Der leichtgezimmerte Rahmen der &#x201E;Fischerin" umfaßt außer dem &#x201E;Erl¬<lb/>
könig" noch vier der schönsten Volkslieder aus Herders &#x201E;Stimmen der Völker<lb/>
in Liedern".</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2182"> Vielleicht ist im Verslustspiel der Rhythmus und die Melodik des Verses<lb/>
imstande, die Rolle des Musikalischen im Singspiel einigermaßen auszufüllen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2183"> Wir sprechen diese Vermutung aber nur für das intime Gartentheater aus,<lb/>
nicht für die weiten Dimensionen des modernen, des naturalistischen Freilichttheaters.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2184"> Die naturalistische Freilichtbühne wird durch ihre eigentümlichen Mittel,<lb/>
die bildhafte Schönheit ihrer natürlichen Szenerie, die Fähigkeit zur plastischen<lb/>
Gestaltung und Gruppierung von großen Aufzügen und Volksmassen, endlich<lb/>
durch ihre Geschaffenheit für Reigen und Tänze mit musikalischer, möglichst<lb/>
liedhafter Begleitung nach einer ganz anderen Seite hingewiesen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2185"> Sie könnte sich an ein großes romantisches Drama wagen, wenn &#x2014; es<lb/>
ein solches gäbe und &#x2014; wenn die Kunst des Schauspielers, wenn der<lb/>
individualisierende Dialog zu ihren verwendbaren Mitteln zählten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2186"> Da das nicht der Fall ist, so bleibt unserer Freilichtbühne nur das<lb/>
historisch-romantische Festspiel als Domäne, das heißt, die historisch-romantische<lb/>
Pantomime, ausgeschmückt mit Musik, Gesang und Tanz.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2187"> Die Hussitenspiele zu Bernau bei Berlin, die in diesem Sommer statt¬<lb/>
fanden, boten in dieser Beziehung manches Glückliche.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2188"> Sie lehrten vor allem, daß man auch eine architektonische Szenerie glück¬<lb/>
lich für das Naturtheater verwenden kann, nicht nur ein waldiges Milieu. Diese<lb/>
Erkenntnis ist inzwischen wohl auch anderwärts durchgedrungen; so hat man<lb/>
kürzlich auf der Rudelsburg ein historisches Schaustück aufgeführt, das der<lb/>
Szenerie angepaßt war. Es erscheint übrigens durchaus als kein Fehler, wenn<lb/>
das Schaustück der architektonischen, vor allem der historischen Szenerie &#x201E;auf<lb/>
den Leib geschrieben" wird. Auch Goethe hat die &#x201E;Fischerin" sür die ganz<lb/>
besonderen natürlichen Verhältnisse der Tiefurter Bühne gedichtet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2189"> Die Bernauer Spiele lehrten ferner, daß die Massenwirkung sehr gut an<lb/>
die Stelle der Einzelwirkung auf der Freilichtbühne treten könne. Gerade die<lb/>
Gruppierung der Massen, ihre Aufzüge, ihre Spiele, ihre wilde Erregung bildet<lb/>
einen Ersatz dafür, daß auf dem Naturtheater der Einzelschauspieler seinem<lb/>
Fühlen und Handeln nicht verständlich genug Ausdruck zu geben vermag.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2190"> Man darf nicht vergessen, daß ein genialer Regisseur dieses Auftreten,<lb/>
Verweilen und Abgehen der Masse, ihr Spiel und ihre Lust einerseits, ihre<lb/>
Erregung und wilde Leidenschaft anderseits sehr wohl zusammenfassen und ver¬<lb/>
werten kann zu Ausdrucksbewegungen für die Handlung eines Stückes, eines<lb/>
Volksstückes in dem Sinne, daß in ihm die Empfindungen, Gefühle und Hand¬<lb/>
lungen, das Schicksal eines Volkes seine Darstellung findet.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0458] Gegenwart und Ankunft der Freilichtbühne An die Stelle des Schauspielerischen tritt aber im Singspiel etwas Anderes, das in dieser Umgebung als vollgültiger Ersatz dienen kann, das ist der Gesang, das Musikalische. Der leichtgezimmerte Rahmen der „Fischerin" umfaßt außer dem „Erl¬ könig" noch vier der schönsten Volkslieder aus Herders „Stimmen der Völker in Liedern". Vielleicht ist im Verslustspiel der Rhythmus und die Melodik des Verses imstande, die Rolle des Musikalischen im Singspiel einigermaßen auszufüllen. Wir sprechen diese Vermutung aber nur für das intime Gartentheater aus, nicht für die weiten Dimensionen des modernen, des naturalistischen Freilichttheaters. Die naturalistische Freilichtbühne wird durch ihre eigentümlichen Mittel, die bildhafte Schönheit ihrer natürlichen Szenerie, die Fähigkeit zur plastischen Gestaltung und Gruppierung von großen Aufzügen und Volksmassen, endlich durch ihre Geschaffenheit für Reigen und Tänze mit musikalischer, möglichst liedhafter Begleitung nach einer ganz anderen Seite hingewiesen. Sie könnte sich an ein großes romantisches Drama wagen, wenn — es ein solches gäbe und — wenn die Kunst des Schauspielers, wenn der individualisierende Dialog zu ihren verwendbaren Mitteln zählten. Da das nicht der Fall ist, so bleibt unserer Freilichtbühne nur das historisch-romantische Festspiel als Domäne, das heißt, die historisch-romantische Pantomime, ausgeschmückt mit Musik, Gesang und Tanz. Die Hussitenspiele zu Bernau bei Berlin, die in diesem Sommer statt¬ fanden, boten in dieser Beziehung manches Glückliche. Sie lehrten vor allem, daß man auch eine architektonische Szenerie glück¬ lich für das Naturtheater verwenden kann, nicht nur ein waldiges Milieu. Diese Erkenntnis ist inzwischen wohl auch anderwärts durchgedrungen; so hat man kürzlich auf der Rudelsburg ein historisches Schaustück aufgeführt, das der Szenerie angepaßt war. Es erscheint übrigens durchaus als kein Fehler, wenn das Schaustück der architektonischen, vor allem der historischen Szenerie „auf den Leib geschrieben" wird. Auch Goethe hat die „Fischerin" sür die ganz besonderen natürlichen Verhältnisse der Tiefurter Bühne gedichtet. Die Bernauer Spiele lehrten ferner, daß die Massenwirkung sehr gut an die Stelle der Einzelwirkung auf der Freilichtbühne treten könne. Gerade die Gruppierung der Massen, ihre Aufzüge, ihre Spiele, ihre wilde Erregung bildet einen Ersatz dafür, daß auf dem Naturtheater der Einzelschauspieler seinem Fühlen und Handeln nicht verständlich genug Ausdruck zu geben vermag. Man darf nicht vergessen, daß ein genialer Regisseur dieses Auftreten, Verweilen und Abgehen der Masse, ihr Spiel und ihre Lust einerseits, ihre Erregung und wilde Leidenschaft anderseits sehr wohl zusammenfassen und ver¬ werten kann zu Ausdrucksbewegungen für die Handlung eines Stückes, eines Volksstückes in dem Sinne, daß in ihm die Empfindungen, Gefühle und Hand¬ lungen, das Schicksal eines Volkes seine Darstellung findet.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/458
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/458>, abgerufen am 29.12.2024.