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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Gegenwart und Zukunft der Freilichtbühne

Alle diese ästhetischen und stilistischen Dissonanzen rühren ja aber letzten
Endes aus einer einzigen Fehlerquelle her: man glaubte ohne weiteres unser
heutiges, unser lebendes Drama auf die Freilichtbühne verpflanzen zu können,
und sah nicht, daß es dort ohne seine wichtigste Stütze, die moderne Schauspiel¬
kunst, nicht zu leben vermochte.

Die Freilichtbühne ist auf malerische, auf Flächen- und Bildwirkung berechnet;
unser Drama, das auf Plastik, auf Tiefenwirkung abzielt, findet daher auf ihr
keinen Platz und sprengt an allen Seiten den Rahmen. Das leichte Bretter¬
gerüst der Sommerbühne trägt nicht die dramatische Wucht, die seelenschwere
Innerlichkeit tragischer Gestalten.

Welch ein sicheres Stilgefühl hat da wieder eine vergangene Zeit bewiesen,
und wie wenig von solchem Stilgefühl ist bei unserer Zeit zu finden! Goethe
hat nicht etwa die Iphigenie, wohl aber das Singspiel "Die Fischerin" für
das Naturtheater, nämlich das Gartentheater im Park zu Tiefurt gedichtet.

Wollen wir das Wertvolle, das auch die Freilichtbühne besitzt, erhalten
und ausnutzen, so müssen wir bei dem Stilgefühl jener Zeit in die Schule
gehen. Das heißt natürlich nicht, daß wir sie sklavisch nachahmen sollen, wenn
wir auch das Gute, das sie geschaffen hat, aufnehmen und uns daran freuen
dürfen. Darüber hinaus ist es aber unsere Aufgabe,, den Stil unserer eigenen
Zeit zu erkennen und ihm angepaßt etwas Neues zu schaffen.

Daher wäre es zunächst kein schlechter Gedanke, das stilisierte Gartentheater
der Goethezelt wieder ausleben zu lassen und Goethesche Singspiele, aber auch
die anderer, vielleicht sogar neue Schöpfungen darauf aufzuführen.

Daß unsere Gartenbaukunst wohl imstande ist, einen: solchen Unternehmen
eine würdige Stätte zu bieten, das beweist das von P. Behrens entworfene
Gartentheater aus der Mannheimer Ausstellung 1907").

Man wüßte nun wohl kaum eine Gattung der dramatischen Literatur zu
nennen, die sich besser für den intimen Rahmen des Gartentheaters eignete als
das Singspiel in der Art von Goethes "Fischerin" -- allenfalls noch das
Verslustspiel.

An die Kunst des Schauspielers stellen solche Kleinigkeiten nicht allzu
große Ansprüche.

Die Grenzen aber, die ihr an dieser Stätte gesetzt sind, treten um so
weniger störend ins Bewußtsein, als die Figuren des Singspiels und des
Verslustspiels keine Individualitäten, sondern Typen sind.

Goethes Dortchen in der "Fischerin" ist der Typus des jungen Mädchens
aus der Biedermeierzeit mit seinem Gemisch von Hausfraulichkeit und kindlicher
Unbesonnenheit, Verliebtheit und unnahbarer Ehrsamkeit, Typen sind Niklas
und der Vater. Ihre Darstellung verlangt von der charakterisierenden und
individualisierenden Kunst des Schauspielers wenig: Kostüm, Worte und
Handlungen tun rein inhaltlich schon das Nötige.



") Abbildung in Bühne und Welt XIII, 13 zum zitierten Artikel bon Dr. W. Pfeiffer.
Grenzboten III 1S11 57
Gegenwart und Zukunft der Freilichtbühne

Alle diese ästhetischen und stilistischen Dissonanzen rühren ja aber letzten
Endes aus einer einzigen Fehlerquelle her: man glaubte ohne weiteres unser
heutiges, unser lebendes Drama auf die Freilichtbühne verpflanzen zu können,
und sah nicht, daß es dort ohne seine wichtigste Stütze, die moderne Schauspiel¬
kunst, nicht zu leben vermochte.

Die Freilichtbühne ist auf malerische, auf Flächen- und Bildwirkung berechnet;
unser Drama, das auf Plastik, auf Tiefenwirkung abzielt, findet daher auf ihr
keinen Platz und sprengt an allen Seiten den Rahmen. Das leichte Bretter¬
gerüst der Sommerbühne trägt nicht die dramatische Wucht, die seelenschwere
Innerlichkeit tragischer Gestalten.

Welch ein sicheres Stilgefühl hat da wieder eine vergangene Zeit bewiesen,
und wie wenig von solchem Stilgefühl ist bei unserer Zeit zu finden! Goethe
hat nicht etwa die Iphigenie, wohl aber das Singspiel „Die Fischerin" für
das Naturtheater, nämlich das Gartentheater im Park zu Tiefurt gedichtet.

Wollen wir das Wertvolle, das auch die Freilichtbühne besitzt, erhalten
und ausnutzen, so müssen wir bei dem Stilgefühl jener Zeit in die Schule
gehen. Das heißt natürlich nicht, daß wir sie sklavisch nachahmen sollen, wenn
wir auch das Gute, das sie geschaffen hat, aufnehmen und uns daran freuen
dürfen. Darüber hinaus ist es aber unsere Aufgabe,, den Stil unserer eigenen
Zeit zu erkennen und ihm angepaßt etwas Neues zu schaffen.

Daher wäre es zunächst kein schlechter Gedanke, das stilisierte Gartentheater
der Goethezelt wieder ausleben zu lassen und Goethesche Singspiele, aber auch
die anderer, vielleicht sogar neue Schöpfungen darauf aufzuführen.

Daß unsere Gartenbaukunst wohl imstande ist, einen: solchen Unternehmen
eine würdige Stätte zu bieten, das beweist das von P. Behrens entworfene
Gartentheater aus der Mannheimer Ausstellung 1907").

Man wüßte nun wohl kaum eine Gattung der dramatischen Literatur zu
nennen, die sich besser für den intimen Rahmen des Gartentheaters eignete als
das Singspiel in der Art von Goethes „Fischerin" — allenfalls noch das
Verslustspiel.

An die Kunst des Schauspielers stellen solche Kleinigkeiten nicht allzu
große Ansprüche.

Die Grenzen aber, die ihr an dieser Stätte gesetzt sind, treten um so
weniger störend ins Bewußtsein, als die Figuren des Singspiels und des
Verslustspiels keine Individualitäten, sondern Typen sind.

Goethes Dortchen in der „Fischerin" ist der Typus des jungen Mädchens
aus der Biedermeierzeit mit seinem Gemisch von Hausfraulichkeit und kindlicher
Unbesonnenheit, Verliebtheit und unnahbarer Ehrsamkeit, Typen sind Niklas
und der Vater. Ihre Darstellung verlangt von der charakterisierenden und
individualisierenden Kunst des Schauspielers wenig: Kostüm, Worte und
Handlungen tun rein inhaltlich schon das Nötige.



") Abbildung in Bühne und Welt XIII, 13 zum zitierten Artikel bon Dr. W. Pfeiffer.
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[0457] Gegenwart und Zukunft der Freilichtbühne Alle diese ästhetischen und stilistischen Dissonanzen rühren ja aber letzten Endes aus einer einzigen Fehlerquelle her: man glaubte ohne weiteres unser heutiges, unser lebendes Drama auf die Freilichtbühne verpflanzen zu können, und sah nicht, daß es dort ohne seine wichtigste Stütze, die moderne Schauspiel¬ kunst, nicht zu leben vermochte. Die Freilichtbühne ist auf malerische, auf Flächen- und Bildwirkung berechnet; unser Drama, das auf Plastik, auf Tiefenwirkung abzielt, findet daher auf ihr keinen Platz und sprengt an allen Seiten den Rahmen. Das leichte Bretter¬ gerüst der Sommerbühne trägt nicht die dramatische Wucht, die seelenschwere Innerlichkeit tragischer Gestalten. Welch ein sicheres Stilgefühl hat da wieder eine vergangene Zeit bewiesen, und wie wenig von solchem Stilgefühl ist bei unserer Zeit zu finden! Goethe hat nicht etwa die Iphigenie, wohl aber das Singspiel „Die Fischerin" für das Naturtheater, nämlich das Gartentheater im Park zu Tiefurt gedichtet. Wollen wir das Wertvolle, das auch die Freilichtbühne besitzt, erhalten und ausnutzen, so müssen wir bei dem Stilgefühl jener Zeit in die Schule gehen. Das heißt natürlich nicht, daß wir sie sklavisch nachahmen sollen, wenn wir auch das Gute, das sie geschaffen hat, aufnehmen und uns daran freuen dürfen. Darüber hinaus ist es aber unsere Aufgabe,, den Stil unserer eigenen Zeit zu erkennen und ihm angepaßt etwas Neues zu schaffen. Daher wäre es zunächst kein schlechter Gedanke, das stilisierte Gartentheater der Goethezelt wieder ausleben zu lassen und Goethesche Singspiele, aber auch die anderer, vielleicht sogar neue Schöpfungen darauf aufzuführen. Daß unsere Gartenbaukunst wohl imstande ist, einen: solchen Unternehmen eine würdige Stätte zu bieten, das beweist das von P. Behrens entworfene Gartentheater aus der Mannheimer Ausstellung 1907"). Man wüßte nun wohl kaum eine Gattung der dramatischen Literatur zu nennen, die sich besser für den intimen Rahmen des Gartentheaters eignete als das Singspiel in der Art von Goethes „Fischerin" — allenfalls noch das Verslustspiel. An die Kunst des Schauspielers stellen solche Kleinigkeiten nicht allzu große Ansprüche. Die Grenzen aber, die ihr an dieser Stätte gesetzt sind, treten um so weniger störend ins Bewußtsein, als die Figuren des Singspiels und des Verslustspiels keine Individualitäten, sondern Typen sind. Goethes Dortchen in der „Fischerin" ist der Typus des jungen Mädchens aus der Biedermeierzeit mit seinem Gemisch von Hausfraulichkeit und kindlicher Unbesonnenheit, Verliebtheit und unnahbarer Ehrsamkeit, Typen sind Niklas und der Vater. Ihre Darstellung verlangt von der charakterisierenden und individualisierenden Kunst des Schauspielers wenig: Kostüm, Worte und Handlungen tun rein inhaltlich schon das Nötige. ") Abbildung in Bühne und Welt XIII, 13 zum zitierten Artikel bon Dr. W. Pfeiffer. Grenzboten III 1S11 57

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/457>, abgerufen am 01.01.2025.