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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Gegenwart und Zukunft der Freilichtbühne

Das geschieht aber natürlich wieder auf Kosten der Natur; die Dunkelheit
neutralisiert auch alle natürlichen Bestandteile des Bühnenbildes und gleicht sie
den künstlichen an. Von dem Eigentümlichen unserer naturalistischen Freilicht¬
bühne bleibt hier also so gut wie nichts übrig, nur die Zuschauer sitzen im Freien
statt im geschlossenen Hause. Das ist der einzige Unterschied von der festen
Bühne im geschlossenen Gebäude.

Oder doch -- bei weitem gefehlt! Es ist nur der einzige äußerliche Unterschied.
Ein gewaltiger Nachteil dieser Bühne ist bisher noch unberücksichtigt geblieben.

Gerade auf der halbdunklen Freilichtbühne tritt ein Mangel zutage, der
vielleicht mit am schwerstell wiegen muß bei ihrer ästhetischen Einschätzung, es
ist ihre verderbliche Wirkung auf die Schauspielkunst.

Die Freilichtbühne ist der Ruin unserer modernen Schauspielkunst. Darauf
haben einsichtige Kritiker schon mehrfach hingewiesen, z. B. hat es kürzlich der
dänische Kritiker Hermann Bang in einer Artikelfolge über die Freilichttheater
und ihre Gefahren für den künstlerischen Geschmack in der Zeitung "Koeben-
havn" getan.

Gerade die feinsten und für unsere naturalistischen Schauspieler wichtigsten
mimischen Mittel sind im Freilichttheater wirkungslos. Die im Durchschnitt
allzu große Entfernung der Zuschauer von der Bühne macht die Mimik des
Gesichts, vor allem die Ausdruckskraft des Blickes, die Sprache des menschlichen
Auges unverständlich, sie läßt aber auch die diskrete, fein nuancierte Geste nicht
zu ihrem Rechte gelangen. Was bleibt da aber von den Ausdrucksmitteln
naturalistischer Schauspielkunst noch übrig?

Die Modulation der seelenvollen Sprache?

Wie steht es aber mit der Akustik des Freilichttheaters? Es muß ein
besonders günstiger Zufall sein, wenn die nicht geschlossene Bühne und der noch
offenere Zuschauerraum eine gute Akustik aufweisen. In den meisten Fällen
sinken aus der reichen Skala von modnlatorischen und dynamischen Ausdrucks¬
werten, welche die Sprache besitzt, die unteren und mittleren Stufen auf der
Freilichtbühne wirkungslos zu Boden. Dem Schauspieler bleiben nur die
stärksten Grade als Ausdrucksmittel zur Verfügung: das Pathos, sowohl das
heroische als auch das sentimentale, und das Schreien.

Rufen wir es uns noch einmal ins Gedächtnis zurück: von allen schau¬
spielerischem Ausdrucksmitteln läßt die Freilichtbühne nur die große, ja gewalt¬
same Geste, gepaart mit Pathos und übergroßer Dynamik des Sprechtons,
vulgo Schreien zur Geltung kommen.

Zwingt man daher unseren Schauspielerstand dazu, sich diesen Verhältnissen
anzupassen, und gewöhnt er sich daran, so bedeutet das einen Rückschritt unserer
Schauspielkunst um Jahrzehnte, wenn nicht mehr. Man hört heute ja schon
zuweilen kreischende, selbst überschlagende Stimmen auf der Freilichtbühne. Auch
eine strenge Übung und ein Training auf genaue Artikulation und Tonbildung
wird daran nicht viel ändern können, kaum etwas bessern.


Gegenwart und Zukunft der Freilichtbühne

Das geschieht aber natürlich wieder auf Kosten der Natur; die Dunkelheit
neutralisiert auch alle natürlichen Bestandteile des Bühnenbildes und gleicht sie
den künstlichen an. Von dem Eigentümlichen unserer naturalistischen Freilicht¬
bühne bleibt hier also so gut wie nichts übrig, nur die Zuschauer sitzen im Freien
statt im geschlossenen Hause. Das ist der einzige Unterschied von der festen
Bühne im geschlossenen Gebäude.

Oder doch — bei weitem gefehlt! Es ist nur der einzige äußerliche Unterschied.
Ein gewaltiger Nachteil dieser Bühne ist bisher noch unberücksichtigt geblieben.

Gerade auf der halbdunklen Freilichtbühne tritt ein Mangel zutage, der
vielleicht mit am schwerstell wiegen muß bei ihrer ästhetischen Einschätzung, es
ist ihre verderbliche Wirkung auf die Schauspielkunst.

Die Freilichtbühne ist der Ruin unserer modernen Schauspielkunst. Darauf
haben einsichtige Kritiker schon mehrfach hingewiesen, z. B. hat es kürzlich der
dänische Kritiker Hermann Bang in einer Artikelfolge über die Freilichttheater
und ihre Gefahren für den künstlerischen Geschmack in der Zeitung „Koeben-
havn" getan.

Gerade die feinsten und für unsere naturalistischen Schauspieler wichtigsten
mimischen Mittel sind im Freilichttheater wirkungslos. Die im Durchschnitt
allzu große Entfernung der Zuschauer von der Bühne macht die Mimik des
Gesichts, vor allem die Ausdruckskraft des Blickes, die Sprache des menschlichen
Auges unverständlich, sie läßt aber auch die diskrete, fein nuancierte Geste nicht
zu ihrem Rechte gelangen. Was bleibt da aber von den Ausdrucksmitteln
naturalistischer Schauspielkunst noch übrig?

Die Modulation der seelenvollen Sprache?

Wie steht es aber mit der Akustik des Freilichttheaters? Es muß ein
besonders günstiger Zufall sein, wenn die nicht geschlossene Bühne und der noch
offenere Zuschauerraum eine gute Akustik aufweisen. In den meisten Fällen
sinken aus der reichen Skala von modnlatorischen und dynamischen Ausdrucks¬
werten, welche die Sprache besitzt, die unteren und mittleren Stufen auf der
Freilichtbühne wirkungslos zu Boden. Dem Schauspieler bleiben nur die
stärksten Grade als Ausdrucksmittel zur Verfügung: das Pathos, sowohl das
heroische als auch das sentimentale, und das Schreien.

Rufen wir es uns noch einmal ins Gedächtnis zurück: von allen schau¬
spielerischem Ausdrucksmitteln läßt die Freilichtbühne nur die große, ja gewalt¬
same Geste, gepaart mit Pathos und übergroßer Dynamik des Sprechtons,
vulgo Schreien zur Geltung kommen.

Zwingt man daher unseren Schauspielerstand dazu, sich diesen Verhältnissen
anzupassen, und gewöhnt er sich daran, so bedeutet das einen Rückschritt unserer
Schauspielkunst um Jahrzehnte, wenn nicht mehr. Man hört heute ja schon
zuweilen kreischende, selbst überschlagende Stimmen auf der Freilichtbühne. Auch
eine strenge Übung und ein Training auf genaue Artikulation und Tonbildung
wird daran nicht viel ändern können, kaum etwas bessern.


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[0456] Gegenwart und Zukunft der Freilichtbühne Das geschieht aber natürlich wieder auf Kosten der Natur; die Dunkelheit neutralisiert auch alle natürlichen Bestandteile des Bühnenbildes und gleicht sie den künstlichen an. Von dem Eigentümlichen unserer naturalistischen Freilicht¬ bühne bleibt hier also so gut wie nichts übrig, nur die Zuschauer sitzen im Freien statt im geschlossenen Hause. Das ist der einzige Unterschied von der festen Bühne im geschlossenen Gebäude. Oder doch — bei weitem gefehlt! Es ist nur der einzige äußerliche Unterschied. Ein gewaltiger Nachteil dieser Bühne ist bisher noch unberücksichtigt geblieben. Gerade auf der halbdunklen Freilichtbühne tritt ein Mangel zutage, der vielleicht mit am schwerstell wiegen muß bei ihrer ästhetischen Einschätzung, es ist ihre verderbliche Wirkung auf die Schauspielkunst. Die Freilichtbühne ist der Ruin unserer modernen Schauspielkunst. Darauf haben einsichtige Kritiker schon mehrfach hingewiesen, z. B. hat es kürzlich der dänische Kritiker Hermann Bang in einer Artikelfolge über die Freilichttheater und ihre Gefahren für den künstlerischen Geschmack in der Zeitung „Koeben- havn" getan. Gerade die feinsten und für unsere naturalistischen Schauspieler wichtigsten mimischen Mittel sind im Freilichttheater wirkungslos. Die im Durchschnitt allzu große Entfernung der Zuschauer von der Bühne macht die Mimik des Gesichts, vor allem die Ausdruckskraft des Blickes, die Sprache des menschlichen Auges unverständlich, sie läßt aber auch die diskrete, fein nuancierte Geste nicht zu ihrem Rechte gelangen. Was bleibt da aber von den Ausdrucksmitteln naturalistischer Schauspielkunst noch übrig? Die Modulation der seelenvollen Sprache? Wie steht es aber mit der Akustik des Freilichttheaters? Es muß ein besonders günstiger Zufall sein, wenn die nicht geschlossene Bühne und der noch offenere Zuschauerraum eine gute Akustik aufweisen. In den meisten Fällen sinken aus der reichen Skala von modnlatorischen und dynamischen Ausdrucks¬ werten, welche die Sprache besitzt, die unteren und mittleren Stufen auf der Freilichtbühne wirkungslos zu Boden. Dem Schauspieler bleiben nur die stärksten Grade als Ausdrucksmittel zur Verfügung: das Pathos, sowohl das heroische als auch das sentimentale, und das Schreien. Rufen wir es uns noch einmal ins Gedächtnis zurück: von allen schau¬ spielerischem Ausdrucksmitteln läßt die Freilichtbühne nur die große, ja gewalt¬ same Geste, gepaart mit Pathos und übergroßer Dynamik des Sprechtons, vulgo Schreien zur Geltung kommen. Zwingt man daher unseren Schauspielerstand dazu, sich diesen Verhältnissen anzupassen, und gewöhnt er sich daran, so bedeutet das einen Rückschritt unserer Schauspielkunst um Jahrzehnte, wenn nicht mehr. Man hört heute ja schon zuweilen kreischende, selbst überschlagende Stimmen auf der Freilichtbühne. Auch eine strenge Übung und ein Training auf genaue Artikulation und Tonbildung wird daran nicht viel ändern können, kaum etwas bessern.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/456>, abgerufen am 04.01.2025.