Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Gegenwart und Zukunft der Freilichtbühne

Das ist vielleicht für die Leiter der meisten Naturtheater, vor allen Dingen
aber für die reinen Spekulanten unter ihnen eine peinliche Tatsache, sie läßt
sich aber nicht leugnen. Der Schritt von der Kunst zur Natur, aus dem
geschlossenen Hause ins Freie hinaus erweist sich jetzt doch als tiefgreifender,
als folgenschwerer, als es anfangs den Anschein hatte.

Die Form ist über den Inhalt hinausgewachsen; wir haben keine große
Dramatik, die der neugeschaffenen Kunststätte angepaßt wäre.

Diesem Mangel ist auch nicht mit kleinen Kunstmittelchen abzuhelfen.
Man hat versucht, in das Naturbild an Stelle einer realistischen Dekoration,
die das Stück vorschreibt, eine völlig neutrale zu setzen, einige graue Leinewand¬
kulissen, die nur den Zweck haben, die Handlung von der natürlichen Umgebung
abzuheben, ihr einen umfassenden Rahmen zu geben, dessen Ausgestaltung den
Anforderungen des Stückes entsprechend der Phantasie des Zuschauers über¬
lassen bleibt*).

Dabei wird aber die Mitwirkung der Natur im Bühnenbilde, auf die es
doch bei einer Freilichtbühne gerade ankommt, völlig zurückgedrängt, aufgehoben.
Selbst wenn jene neutrale Dekoration die Natur noch zur Bildung eines
natürlichen Prospektes heranzieht, wie es bei der gedachten Salomeaufführung
zum Beispiel geschah, so wird dadurch an dem Effekt wenig oder nichts geändert.

Das Schlimmere bei der Verwendung von neutralen Kulissen oder Deko¬
rationen ist aber, daß auch durch sie ein schlimmer Mißton, ein Stilkontrast in
das Bühnenbild hineingetragen wird, der unerträglich wirkt. Die volle Lebendig¬
keit und Plastik der Natur tritt nirgends mehr, gewaltiger und übergreifender
hervor als in: Gegensatz zu einer solchen neutralen Dekoration und dem von
ihr verkörperten theatermäßigen Schein. Eine einheitliche Einfühlung in das
Bühnenbild wird deshalb stets unmöglich, die lebendige Natur greift immer
wieder jauchzend und siegend mit machtvoller Hand in unser Gemüt, das gegen¬
über der Dekoration und den Vorgängen aus der Bühne sich der ästhetischen
Illusion hingeben möchte, sie ergreift immer wieder Besitz von den Bahnen
unseres Wahrnehmens, Denkens und Fühlens und stellt den ästhetischen Schein
als das hin, was er ist, eben Schein, während er uns doch zu ästhetischer
Wahrheit werden möchte. Nirgends erscheint uns auch der gute Schauspieler
so sehr als Komödiant wie auf einer solchen Freilichtbühne.

Etwas gemildert wird jener schwere stilwidrige Kontrast auf der Freilicht¬
bühne mit neutraler Dekoration, wenn man ihn nicht der grellen Beleuchtung
des Tageslichtes aussetzt, sondern die Aufführung auf die Stunden der Dämme¬
rung und des Abends verlegt. Eine schwache künstliche Beleuchtung in der
Dunkelheit, wenn sie in das gerade aufgeführte Stück paßt, verwischt allerdings
die Grenzen zwischen Natur und Kunst, zwischen Wahrheit und Schein und
schafft dadurch den Boden für das Zustandekommen der ästhetischen Illusion.



") Aufführung der "Snlome" in Blnnkenesc bei Hamburg.
Gegenwart und Zukunft der Freilichtbühne

Das ist vielleicht für die Leiter der meisten Naturtheater, vor allen Dingen
aber für die reinen Spekulanten unter ihnen eine peinliche Tatsache, sie läßt
sich aber nicht leugnen. Der Schritt von der Kunst zur Natur, aus dem
geschlossenen Hause ins Freie hinaus erweist sich jetzt doch als tiefgreifender,
als folgenschwerer, als es anfangs den Anschein hatte.

Die Form ist über den Inhalt hinausgewachsen; wir haben keine große
Dramatik, die der neugeschaffenen Kunststätte angepaßt wäre.

Diesem Mangel ist auch nicht mit kleinen Kunstmittelchen abzuhelfen.
Man hat versucht, in das Naturbild an Stelle einer realistischen Dekoration,
die das Stück vorschreibt, eine völlig neutrale zu setzen, einige graue Leinewand¬
kulissen, die nur den Zweck haben, die Handlung von der natürlichen Umgebung
abzuheben, ihr einen umfassenden Rahmen zu geben, dessen Ausgestaltung den
Anforderungen des Stückes entsprechend der Phantasie des Zuschauers über¬
lassen bleibt*).

Dabei wird aber die Mitwirkung der Natur im Bühnenbilde, auf die es
doch bei einer Freilichtbühne gerade ankommt, völlig zurückgedrängt, aufgehoben.
Selbst wenn jene neutrale Dekoration die Natur noch zur Bildung eines
natürlichen Prospektes heranzieht, wie es bei der gedachten Salomeaufführung
zum Beispiel geschah, so wird dadurch an dem Effekt wenig oder nichts geändert.

Das Schlimmere bei der Verwendung von neutralen Kulissen oder Deko¬
rationen ist aber, daß auch durch sie ein schlimmer Mißton, ein Stilkontrast in
das Bühnenbild hineingetragen wird, der unerträglich wirkt. Die volle Lebendig¬
keit und Plastik der Natur tritt nirgends mehr, gewaltiger und übergreifender
hervor als in: Gegensatz zu einer solchen neutralen Dekoration und dem von
ihr verkörperten theatermäßigen Schein. Eine einheitliche Einfühlung in das
Bühnenbild wird deshalb stets unmöglich, die lebendige Natur greift immer
wieder jauchzend und siegend mit machtvoller Hand in unser Gemüt, das gegen¬
über der Dekoration und den Vorgängen aus der Bühne sich der ästhetischen
Illusion hingeben möchte, sie ergreift immer wieder Besitz von den Bahnen
unseres Wahrnehmens, Denkens und Fühlens und stellt den ästhetischen Schein
als das hin, was er ist, eben Schein, während er uns doch zu ästhetischer
Wahrheit werden möchte. Nirgends erscheint uns auch der gute Schauspieler
so sehr als Komödiant wie auf einer solchen Freilichtbühne.

Etwas gemildert wird jener schwere stilwidrige Kontrast auf der Freilicht¬
bühne mit neutraler Dekoration, wenn man ihn nicht der grellen Beleuchtung
des Tageslichtes aussetzt, sondern die Aufführung auf die Stunden der Dämme¬
rung und des Abends verlegt. Eine schwache künstliche Beleuchtung in der
Dunkelheit, wenn sie in das gerade aufgeführte Stück paßt, verwischt allerdings
die Grenzen zwischen Natur und Kunst, zwischen Wahrheit und Schein und
schafft dadurch den Boden für das Zustandekommen der ästhetischen Illusion.



") Aufführung der „Snlome" in Blnnkenesc bei Hamburg.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0455" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319402"/>
          <fw type="header" place="top"> Gegenwart und Zukunft der Freilichtbühne</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2155"> Das ist vielleicht für die Leiter der meisten Naturtheater, vor allen Dingen<lb/>
aber für die reinen Spekulanten unter ihnen eine peinliche Tatsache, sie läßt<lb/>
sich aber nicht leugnen. Der Schritt von der Kunst zur Natur, aus dem<lb/>
geschlossenen Hause ins Freie hinaus erweist sich jetzt doch als tiefgreifender,<lb/>
als folgenschwerer, als es anfangs den Anschein hatte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2156"> Die Form ist über den Inhalt hinausgewachsen; wir haben keine große<lb/>
Dramatik, die der neugeschaffenen Kunststätte angepaßt wäre.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2157"> Diesem Mangel ist auch nicht mit kleinen Kunstmittelchen abzuhelfen.<lb/>
Man hat versucht, in das Naturbild an Stelle einer realistischen Dekoration,<lb/>
die das Stück vorschreibt, eine völlig neutrale zu setzen, einige graue Leinewand¬<lb/>
kulissen, die nur den Zweck haben, die Handlung von der natürlichen Umgebung<lb/>
abzuheben, ihr einen umfassenden Rahmen zu geben, dessen Ausgestaltung den<lb/>
Anforderungen des Stückes entsprechend der Phantasie des Zuschauers über¬<lb/>
lassen bleibt*).</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2158"> Dabei wird aber die Mitwirkung der Natur im Bühnenbilde, auf die es<lb/>
doch bei einer Freilichtbühne gerade ankommt, völlig zurückgedrängt, aufgehoben.<lb/>
Selbst wenn jene neutrale Dekoration die Natur noch zur Bildung eines<lb/>
natürlichen Prospektes heranzieht, wie es bei der gedachten Salomeaufführung<lb/>
zum Beispiel geschah, so wird dadurch an dem Effekt wenig oder nichts geändert.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2159"> Das Schlimmere bei der Verwendung von neutralen Kulissen oder Deko¬<lb/>
rationen ist aber, daß auch durch sie ein schlimmer Mißton, ein Stilkontrast in<lb/>
das Bühnenbild hineingetragen wird, der unerträglich wirkt. Die volle Lebendig¬<lb/>
keit und Plastik der Natur tritt nirgends mehr, gewaltiger und übergreifender<lb/>
hervor als in: Gegensatz zu einer solchen neutralen Dekoration und dem von<lb/>
ihr verkörperten theatermäßigen Schein. Eine einheitliche Einfühlung in das<lb/>
Bühnenbild wird deshalb stets unmöglich, die lebendige Natur greift immer<lb/>
wieder jauchzend und siegend mit machtvoller Hand in unser Gemüt, das gegen¬<lb/>
über der Dekoration und den Vorgängen aus der Bühne sich der ästhetischen<lb/>
Illusion hingeben möchte, sie ergreift immer wieder Besitz von den Bahnen<lb/>
unseres Wahrnehmens, Denkens und Fühlens und stellt den ästhetischen Schein<lb/>
als das hin, was er ist, eben Schein, während er uns doch zu ästhetischer<lb/>
Wahrheit werden möchte. Nirgends erscheint uns auch der gute Schauspieler<lb/>
so sehr als Komödiant wie auf einer solchen Freilichtbühne.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2160"> Etwas gemildert wird jener schwere stilwidrige Kontrast auf der Freilicht¬<lb/>
bühne mit neutraler Dekoration, wenn man ihn nicht der grellen Beleuchtung<lb/>
des Tageslichtes aussetzt, sondern die Aufführung auf die Stunden der Dämme¬<lb/>
rung und des Abends verlegt. Eine schwache künstliche Beleuchtung in der<lb/>
Dunkelheit, wenn sie in das gerade aufgeführte Stück paßt, verwischt allerdings<lb/>
die Grenzen zwischen Natur und Kunst, zwischen Wahrheit und Schein und<lb/>
schafft dadurch den Boden für das Zustandekommen der ästhetischen Illusion.</p><lb/>
          <note xml:id="FID_27" place="foot"> ") Aufführung der &#x201E;Snlome" in Blnnkenesc bei Hamburg.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0455] Gegenwart und Zukunft der Freilichtbühne Das ist vielleicht für die Leiter der meisten Naturtheater, vor allen Dingen aber für die reinen Spekulanten unter ihnen eine peinliche Tatsache, sie läßt sich aber nicht leugnen. Der Schritt von der Kunst zur Natur, aus dem geschlossenen Hause ins Freie hinaus erweist sich jetzt doch als tiefgreifender, als folgenschwerer, als es anfangs den Anschein hatte. Die Form ist über den Inhalt hinausgewachsen; wir haben keine große Dramatik, die der neugeschaffenen Kunststätte angepaßt wäre. Diesem Mangel ist auch nicht mit kleinen Kunstmittelchen abzuhelfen. Man hat versucht, in das Naturbild an Stelle einer realistischen Dekoration, die das Stück vorschreibt, eine völlig neutrale zu setzen, einige graue Leinewand¬ kulissen, die nur den Zweck haben, die Handlung von der natürlichen Umgebung abzuheben, ihr einen umfassenden Rahmen zu geben, dessen Ausgestaltung den Anforderungen des Stückes entsprechend der Phantasie des Zuschauers über¬ lassen bleibt*). Dabei wird aber die Mitwirkung der Natur im Bühnenbilde, auf die es doch bei einer Freilichtbühne gerade ankommt, völlig zurückgedrängt, aufgehoben. Selbst wenn jene neutrale Dekoration die Natur noch zur Bildung eines natürlichen Prospektes heranzieht, wie es bei der gedachten Salomeaufführung zum Beispiel geschah, so wird dadurch an dem Effekt wenig oder nichts geändert. Das Schlimmere bei der Verwendung von neutralen Kulissen oder Deko¬ rationen ist aber, daß auch durch sie ein schlimmer Mißton, ein Stilkontrast in das Bühnenbild hineingetragen wird, der unerträglich wirkt. Die volle Lebendig¬ keit und Plastik der Natur tritt nirgends mehr, gewaltiger und übergreifender hervor als in: Gegensatz zu einer solchen neutralen Dekoration und dem von ihr verkörperten theatermäßigen Schein. Eine einheitliche Einfühlung in das Bühnenbild wird deshalb stets unmöglich, die lebendige Natur greift immer wieder jauchzend und siegend mit machtvoller Hand in unser Gemüt, das gegen¬ über der Dekoration und den Vorgängen aus der Bühne sich der ästhetischen Illusion hingeben möchte, sie ergreift immer wieder Besitz von den Bahnen unseres Wahrnehmens, Denkens und Fühlens und stellt den ästhetischen Schein als das hin, was er ist, eben Schein, während er uns doch zu ästhetischer Wahrheit werden möchte. Nirgends erscheint uns auch der gute Schauspieler so sehr als Komödiant wie auf einer solchen Freilichtbühne. Etwas gemildert wird jener schwere stilwidrige Kontrast auf der Freilicht¬ bühne mit neutraler Dekoration, wenn man ihn nicht der grellen Beleuchtung des Tageslichtes aussetzt, sondern die Aufführung auf die Stunden der Dämme¬ rung und des Abends verlegt. Eine schwache künstliche Beleuchtung in der Dunkelheit, wenn sie in das gerade aufgeführte Stück paßt, verwischt allerdings die Grenzen zwischen Natur und Kunst, zwischen Wahrheit und Schein und schafft dadurch den Boden für das Zustandekommen der ästhetischen Illusion. ") Aufführung der „Snlome" in Blnnkenesc bei Hamburg.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/455
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/455>, abgerufen am 01.01.2025.