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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Englische Politik

Ein rein politisches Thema, unter dem Eindruck der augenblicklichen Gegensätze
formuliert, aber historisch, d. h. in leidenschaftsloser Betrachtung und mit ge¬
rechtem Verständnis durchgeführt.

In großen Linien entwirft Marcks ein Bild von Englands auswärtiger
Politik -- eine Art Gipfelwanderung, möchte man sagen, durch vier Jahr¬
hunderte hindurch legen wir mit dem Historiker zurück; und die Einheitlichkeit
dieser Politik und ihrer Mittel ist es, die er überall hervorleuchten läßt. Aller¬
dings eine formelhafte Konstruktion wird niemand von ihm erwarten. Er
durfte es wagen, den Gegenstand so bestimmt und scheinbar nur in sich ruhend
abzugrenzen, weil ihm seine unendliche Bedingtheit und seine Verschlingung in
die gesamtenglische Entwicklung allezeit vor Augen blieb. Mit zu den an¬
ziehendsten Reizen seiner Darstellung gehört es, wie er das Räderwerk des
inneren und des äußeren Geschehens ineinandergreifen läßt.

Nur in kurzen Schlagworten sei auf die wesentlichen Ergebnisse dieser
Arbeit hingewiesen. Die Grundtatsache, auf die sich der große einheitliche Zu¬
sammenhang der englischen Politik aufbaut, ist Englands Jnsellage; sie hat in
dem englischen Wesen die nüchtern-männlichen Züge des Seevolkes ausgeprägt;
sie hat der inneren Entwicklung eine gewisse Ungestörtheit gesichert und Englands
Verhältnis zum Festland bestimmt. Seit den Tudors ist es erst eigentlich auf
sich selber gestellt; es hat zwar die Fühlung mit dem staatlichen und kulturellen
Gesamtleben Europas nicht preisgegeben. "Es hat sich beiseite gehalten, aber
niemals sich ganz entfernt." Dem protestantischen England ist in dem Spanien
Philipps des Zweiten der erste Weltgegner entstanden, gegen den es sein
ureigenstes System ins Feld führt: das jeweilige Bündnis mit dem Widersacher
des Todfeindes. Unter Elisabeth hat dieses Verfahren einen klassischen Aus¬
druck: "deckende Kontinentalpolitik, eigene Eroberung des Meeres, auf dem
Meere die letzte Entscheidung." Es lösten diese Epoche die Rückschläge des
beginnenden siebzehnten Jahrhunderts ab: innere Lähmung und innere Wirren!
Dann aber hat die gewaltige Leidenschaft des Puritanismus den Vorstoß auch
nach außen wieder aufgenommen und den Sieg über das unverhältnismäßig
erstarkte Holland und seine wirtschaftliche Größe errungen. Alsbald vereinigt
sich England mit der von ihm gebeugten See- und Handelsmacht gegen Frankreich,
den dritten in der Reihe seiner großen Gegner, zu einem Ringen von wurzeltiefer
nationaler Feindseligkeit, das an Leidenschaft die früheren überbot, alles,
Glauben, Kultur, Wirtschaft, Verfassung, Weltstellung in seinen Gegensatz
hineinzog und England in Weiten des Erdballs hinausführte, die das Zeitalter
der Elisabeth und auch Cromwells nicht geahnt hatten. Und auf dem Festland
fielen aus Gründen der allgemeinen Machtverhältnisse die Würfel in diesem
Kampf um die weite Welt. Denn in Wahrheit ist ja der Kolonialkrieg der
beiden Staaten in Norddeutschland und am Rhein entschieden worden. In¬
dessen, England hat keinen der großen europäischen Kriege des achtzehnten Jahr¬
hunderts angefacht, wohl aber hat es sie natürlich ausgenutzt und, solange es


Englische Politik

Ein rein politisches Thema, unter dem Eindruck der augenblicklichen Gegensätze
formuliert, aber historisch, d. h. in leidenschaftsloser Betrachtung und mit ge¬
rechtem Verständnis durchgeführt.

In großen Linien entwirft Marcks ein Bild von Englands auswärtiger
Politik — eine Art Gipfelwanderung, möchte man sagen, durch vier Jahr¬
hunderte hindurch legen wir mit dem Historiker zurück; und die Einheitlichkeit
dieser Politik und ihrer Mittel ist es, die er überall hervorleuchten läßt. Aller¬
dings eine formelhafte Konstruktion wird niemand von ihm erwarten. Er
durfte es wagen, den Gegenstand so bestimmt und scheinbar nur in sich ruhend
abzugrenzen, weil ihm seine unendliche Bedingtheit und seine Verschlingung in
die gesamtenglische Entwicklung allezeit vor Augen blieb. Mit zu den an¬
ziehendsten Reizen seiner Darstellung gehört es, wie er das Räderwerk des
inneren und des äußeren Geschehens ineinandergreifen läßt.

Nur in kurzen Schlagworten sei auf die wesentlichen Ergebnisse dieser
Arbeit hingewiesen. Die Grundtatsache, auf die sich der große einheitliche Zu¬
sammenhang der englischen Politik aufbaut, ist Englands Jnsellage; sie hat in
dem englischen Wesen die nüchtern-männlichen Züge des Seevolkes ausgeprägt;
sie hat der inneren Entwicklung eine gewisse Ungestörtheit gesichert und Englands
Verhältnis zum Festland bestimmt. Seit den Tudors ist es erst eigentlich auf
sich selber gestellt; es hat zwar die Fühlung mit dem staatlichen und kulturellen
Gesamtleben Europas nicht preisgegeben. „Es hat sich beiseite gehalten, aber
niemals sich ganz entfernt." Dem protestantischen England ist in dem Spanien
Philipps des Zweiten der erste Weltgegner entstanden, gegen den es sein
ureigenstes System ins Feld führt: das jeweilige Bündnis mit dem Widersacher
des Todfeindes. Unter Elisabeth hat dieses Verfahren einen klassischen Aus¬
druck: „deckende Kontinentalpolitik, eigene Eroberung des Meeres, auf dem
Meere die letzte Entscheidung." Es lösten diese Epoche die Rückschläge des
beginnenden siebzehnten Jahrhunderts ab: innere Lähmung und innere Wirren!
Dann aber hat die gewaltige Leidenschaft des Puritanismus den Vorstoß auch
nach außen wieder aufgenommen und den Sieg über das unverhältnismäßig
erstarkte Holland und seine wirtschaftliche Größe errungen. Alsbald vereinigt
sich England mit der von ihm gebeugten See- und Handelsmacht gegen Frankreich,
den dritten in der Reihe seiner großen Gegner, zu einem Ringen von wurzeltiefer
nationaler Feindseligkeit, das an Leidenschaft die früheren überbot, alles,
Glauben, Kultur, Wirtschaft, Verfassung, Weltstellung in seinen Gegensatz
hineinzog und England in Weiten des Erdballs hinausführte, die das Zeitalter
der Elisabeth und auch Cromwells nicht geahnt hatten. Und auf dem Festland
fielen aus Gründen der allgemeinen Machtverhältnisse die Würfel in diesem
Kampf um die weite Welt. Denn in Wahrheit ist ja der Kolonialkrieg der
beiden Staaten in Norddeutschland und am Rhein entschieden worden. In¬
dessen, England hat keinen der großen europäischen Kriege des achtzehnten Jahr¬
hunderts angefacht, wohl aber hat es sie natürlich ausgenutzt und, solange es


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[0450] Englische Politik Ein rein politisches Thema, unter dem Eindruck der augenblicklichen Gegensätze formuliert, aber historisch, d. h. in leidenschaftsloser Betrachtung und mit ge¬ rechtem Verständnis durchgeführt. In großen Linien entwirft Marcks ein Bild von Englands auswärtiger Politik — eine Art Gipfelwanderung, möchte man sagen, durch vier Jahr¬ hunderte hindurch legen wir mit dem Historiker zurück; und die Einheitlichkeit dieser Politik und ihrer Mittel ist es, die er überall hervorleuchten läßt. Aller¬ dings eine formelhafte Konstruktion wird niemand von ihm erwarten. Er durfte es wagen, den Gegenstand so bestimmt und scheinbar nur in sich ruhend abzugrenzen, weil ihm seine unendliche Bedingtheit und seine Verschlingung in die gesamtenglische Entwicklung allezeit vor Augen blieb. Mit zu den an¬ ziehendsten Reizen seiner Darstellung gehört es, wie er das Räderwerk des inneren und des äußeren Geschehens ineinandergreifen läßt. Nur in kurzen Schlagworten sei auf die wesentlichen Ergebnisse dieser Arbeit hingewiesen. Die Grundtatsache, auf die sich der große einheitliche Zu¬ sammenhang der englischen Politik aufbaut, ist Englands Jnsellage; sie hat in dem englischen Wesen die nüchtern-männlichen Züge des Seevolkes ausgeprägt; sie hat der inneren Entwicklung eine gewisse Ungestörtheit gesichert und Englands Verhältnis zum Festland bestimmt. Seit den Tudors ist es erst eigentlich auf sich selber gestellt; es hat zwar die Fühlung mit dem staatlichen und kulturellen Gesamtleben Europas nicht preisgegeben. „Es hat sich beiseite gehalten, aber niemals sich ganz entfernt." Dem protestantischen England ist in dem Spanien Philipps des Zweiten der erste Weltgegner entstanden, gegen den es sein ureigenstes System ins Feld führt: das jeweilige Bündnis mit dem Widersacher des Todfeindes. Unter Elisabeth hat dieses Verfahren einen klassischen Aus¬ druck: „deckende Kontinentalpolitik, eigene Eroberung des Meeres, auf dem Meere die letzte Entscheidung." Es lösten diese Epoche die Rückschläge des beginnenden siebzehnten Jahrhunderts ab: innere Lähmung und innere Wirren! Dann aber hat die gewaltige Leidenschaft des Puritanismus den Vorstoß auch nach außen wieder aufgenommen und den Sieg über das unverhältnismäßig erstarkte Holland und seine wirtschaftliche Größe errungen. Alsbald vereinigt sich England mit der von ihm gebeugten See- und Handelsmacht gegen Frankreich, den dritten in der Reihe seiner großen Gegner, zu einem Ringen von wurzeltiefer nationaler Feindseligkeit, das an Leidenschaft die früheren überbot, alles, Glauben, Kultur, Wirtschaft, Verfassung, Weltstellung in seinen Gegensatz hineinzog und England in Weiten des Erdballs hinausführte, die das Zeitalter der Elisabeth und auch Cromwells nicht geahnt hatten. Und auf dem Festland fielen aus Gründen der allgemeinen Machtverhältnisse die Würfel in diesem Kampf um die weite Welt. Denn in Wahrheit ist ja der Kolonialkrieg der beiden Staaten in Norddeutschland und am Rhein entschieden worden. In¬ dessen, England hat keinen der großen europäischen Kriege des achtzehnten Jahr¬ hunderts angefacht, wohl aber hat es sie natürlich ausgenutzt und, solange es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/450>, abgerufen am 29.12.2024.