Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.Reichsspiegel Die Notwendigkeit, Nachschüsse auf die mit Bankkredit gekauften Wertpapiere zu Eine besonders unerfreuliche Begleiterscheinung der rückgängiger Börsentendenz Grenzboten III 1S11 65
Reichsspiegel Die Notwendigkeit, Nachschüsse auf die mit Bankkredit gekauften Wertpapiere zu Eine besonders unerfreuliche Begleiterscheinung der rückgängiger Börsentendenz Grenzboten III 1S11 65
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Reichsspiegel
Die Notwendigkeit, Nachschüsse auf die mit Bankkredit gekauften Wertpapiere zu
leisten, die Furcht, den erlittenen Verlust ins Ungemessene wachsen zu sehen, die
ablehnende Haltung der Banken und Depositenkassen, welche plötzlich in der Kredit¬
gewährung ebenso rigoros werden als sie vordem freigebig erschienen, erzwingt
immer neue Verkäufe. Dieser Prozeß wird sich daher, wenn auch unter Schwan¬
kungen, so lange fortsetzen, bis eine genügende Reinigung des Marktes von
schwachen Elementen erfolgt ist. Diesen Zeitpunkt vorauszusehen ist natürlich
unmöglich. Erschwert wird jedenfalls die Situation dadurch, daß die gleichzeitig
in New Aork auftretende Deroute dem Publikum außerordentliche Verluste zugefügt
hat. Der Kursrückgang in New Jork kam so überraschend, war anscheinend so
unmotiviert und nahm sofort derartige Dimensionen an, daß ein Rückzug nicht
mehr möglich war. Wenn man bedenkt, daß das Kursniveau der hauptsäch¬
lichsten amerikanischen Spielpapiere um 10, 15 ja 20 Prozent binnen vierzehn
Tagen gefallen ist, daß zu diesen Werten u. a. auch die Kanada-Aktie gehört, die
man auf Grund ihrer besonderen Verhältnisse als ein Papier von fast unbegrenzter
Steigerungsfähigkeit betrachten wollte und deshalb mit Vorliebe zur spekulativen
Anlage wählte, so ist es nicht schwer einzusehen, daß die erlittenen Verluste
ganz beträchtliche sind und die Widerstandskraft gegen die Schwankungen an der
heimischen Börse lahmlegen müssen. Und als zweiter Punkt kommt hinsichtlich
der Beurteilung der Gesamtlage in Betracht, daß eine starke und dauernde Ver¬
schlechterung der Börsentendenz in der Regel eine ungünstige Rückwirkung auf die
allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse ausübt. Die Börse hat einen starken und
naturgemäßen Einfluß auf die Konjunktur, so lebhaft man das auch von gewisser
Seite bestreitet. Sie wirkt suggestiv. Das zeigt sich sowohl im Stadium der
Aufwärtsbewegung, als besonders scharf beim Niedergang. Nicht nur die materiellen
Verluste, welche die Börse selbst und in weit höherem Umfang das Privat¬
publikum erleiden, kommen als eine schwerwiegende Einbuße an Nationaleinkommen
und Kaufkraft in Betracht, sondern mehr noch der Rückgang des Vertrauens, der
wirtschaftlichen Zuversicht, das Schwinden von Unternehmungslust und Tatkraft.
Solche psychischen Zustände sind ansteckend und sie verbreiten sich nur allzuschnell
von der Börse aus in die Kreise von Handel, Gewerbe und Industrie, vornehmlich
dann, wenn auch die Banken, dieses wichtige Mittelglied zwischen Produktion und
Geldmarkt, in ihrer Geschäftspolitik und Kreditgewährung erkennbare Zurückhaltung
zu üben anfangen. Diese Erscheinung ist schon jetzt in Amerika deutlich erkennbar.
Die Börsenderoute hat den Eisenmarkt, der gerade einen kräftigen Anlauf zur
Besserung genommen hatte, auf das ungünstigste beeinflußt, wie aus dein letzten
Bericht des Iron zu ersehen ist. Und dieser ungünstige Marktbericht ver¬
schärft nun wieder seinerseits die Mißstimmung der Börse. Es wäre daher zu
wünschen, daß die augenblickliche unerfreuliche Börsenlage nicht in ein schleichendes
Siechtum ausarte. Vielleicht, daß die günstige Lösung des Marokkokonflikts, die
ja bevorzustehen scheint, und die leichte Disposition des Geldmarkts der Börse die
Kraft verleihen, die Krisis schnell zu überwinden.
Eine besonders unerfreuliche Begleiterscheinung der rückgängiger Börsentendenz
war es, daß auch unsere dre.'iprozentige Neichsanleihe mit in den Strudel
der Bewegung gezogen wurde. War auch die Kurseinbuße von einem halben
Prozent, den sie am kritischen Tage erlitt, absolut genommen nicht beträchtlich, so
Grenzboten III 1S11 65
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