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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Das deutsch-französische Grenzproblem

nimmer am linken Ufer dauernd Halt gemacht hätten, weil beide Seiten des
Stromgebiets organisch zueinander gehören. Dementsprechend haben die Haupt¬
träger des französischen Eroberungsplanes auch gehandelt, gleich den römischen
Cäsaren. Ludwig der Vierzehnte und Napoleon der Erste haben beide mit
Waffengewalt oder in der Form von engeren Bündnissen das ganze Rheingebiet
(mit Ausnahme des Mainlandes) an Frankreich angegliedert oder anzugliedern
versucht, und so ist der weitausschauende Plan der französischen Politik zweimal,
wenn auch nur ganz vorübergehend, verwirklicht gewesen, und beide Fälle haben
deutlich gezeigt, daß Frankreich in letzter Linie nicht bei dem Strom stehen
geblieben wäre. Ob es wollte oder nicht: der Widerstreit zwischen der natür¬
lichen und wirtschaftlichen Bedeutung des Rheins als einer Hauptverkehrs¬
ader und der ihm aufgezwungenen Rolle einer Grenze zwischen rivalisierenden
Mächten hätten eine derartige Anzahl von Jnteressenkämpfen heraufbeschworen,
daß Frankreich früher oder später Hand auch auf die rechte Seite des Strom¬
gebiets hätte legen müssen.

Daß es die große Ausgabe, die es sich am Rhein gestellt hatte, nicht dauernd
in seinem Sinn hat lösen können, hat neben dem Widerstand auf deutscher Seite
noch zwei wesentliche Gründe. Der erste Grund ist für die politische Moral
charakteristisch. Während die Franzosen sich die gute Gelegenheit zunutze machten,
die ihnen die deutsche Uneinigkeit bot, lockten sie sich eben durch diese Händel
am Rhein noch einen anderen gefährlichen Feind auf den Hals, nämlich die
Engländer. Sie benutzten die Bindung der französischen Kriegsmacht zu Land,
um die kommerzielle und koloniale Weltmachtstellung Frankreichs durch eine Reihe
von Seekriegen zu brechen. Diese Kämpfe zu Wasser waren für Frankreich
äußerst nachteilig und schwächend: sie verschlangen ungeheure Summen, ruinierten
seinen blühenden Welthandel und brachten es um ein großes Kolonialreich. Der
andere Hauptgrund für das Mißlingen des großen ftanzösischen Planes war die
Knickung der Macht Napoleons durch das Klima und die Einöden Rußlands.

Der Wirbelsturm von Ereignissen, den Napoleon der Erste über Europa
dahingeführt hat, hinterließ auch die Rheinfrage in einer neuen Fassung. Das
Rheingebiet hatte bis 1806 unter dem Schutze des fast tausendjährigen deutsch¬
römischen Kaisertums gestanden. Nun hatte sich dieses aufgelöst, und es schien
w deutschen Westen kein entsprechendes Gegengewicht mehr zur Spannkraft der
französischen Macht zu geben. Die Aussichten waren demnach für Frankreich
günstiger geworden, indes doch nur am Oberrhein; denn auch am Mittel- und
Niederrhein war eine bemerkenswerte Verschiebung eingetreten. Hundert Jahre
nach jenen ersten kleinen Erwerbungen an: Niederrhein hatte Brandenburg-Preußen
ihnen die Ländchen Mörs und Geldern hinzugefügt, und wieder hundert Jahre
später, eben am Ende der napoleonischen Zeit. Cöln. Aachen. Jülich. Trier und
Berg. Dieser ansehnliche Besitz beunruhigte Frankreich indes kaum. Denn der
Kern von Preußens Kraft lag in: Osten, jenseits der Elbe, vollständig abgetrennt
von seinem rheinischen Besitz durch einen Streifen von Mittel- und Kleinstaaten.


Das deutsch-französische Grenzproblem

nimmer am linken Ufer dauernd Halt gemacht hätten, weil beide Seiten des
Stromgebiets organisch zueinander gehören. Dementsprechend haben die Haupt¬
träger des französischen Eroberungsplanes auch gehandelt, gleich den römischen
Cäsaren. Ludwig der Vierzehnte und Napoleon der Erste haben beide mit
Waffengewalt oder in der Form von engeren Bündnissen das ganze Rheingebiet
(mit Ausnahme des Mainlandes) an Frankreich angegliedert oder anzugliedern
versucht, und so ist der weitausschauende Plan der französischen Politik zweimal,
wenn auch nur ganz vorübergehend, verwirklicht gewesen, und beide Fälle haben
deutlich gezeigt, daß Frankreich in letzter Linie nicht bei dem Strom stehen
geblieben wäre. Ob es wollte oder nicht: der Widerstreit zwischen der natür¬
lichen und wirtschaftlichen Bedeutung des Rheins als einer Hauptverkehrs¬
ader und der ihm aufgezwungenen Rolle einer Grenze zwischen rivalisierenden
Mächten hätten eine derartige Anzahl von Jnteressenkämpfen heraufbeschworen,
daß Frankreich früher oder später Hand auch auf die rechte Seite des Strom¬
gebiets hätte legen müssen.

Daß es die große Ausgabe, die es sich am Rhein gestellt hatte, nicht dauernd
in seinem Sinn hat lösen können, hat neben dem Widerstand auf deutscher Seite
noch zwei wesentliche Gründe. Der erste Grund ist für die politische Moral
charakteristisch. Während die Franzosen sich die gute Gelegenheit zunutze machten,
die ihnen die deutsche Uneinigkeit bot, lockten sie sich eben durch diese Händel
am Rhein noch einen anderen gefährlichen Feind auf den Hals, nämlich die
Engländer. Sie benutzten die Bindung der französischen Kriegsmacht zu Land,
um die kommerzielle und koloniale Weltmachtstellung Frankreichs durch eine Reihe
von Seekriegen zu brechen. Diese Kämpfe zu Wasser waren für Frankreich
äußerst nachteilig und schwächend: sie verschlangen ungeheure Summen, ruinierten
seinen blühenden Welthandel und brachten es um ein großes Kolonialreich. Der
andere Hauptgrund für das Mißlingen des großen ftanzösischen Planes war die
Knickung der Macht Napoleons durch das Klima und die Einöden Rußlands.

Der Wirbelsturm von Ereignissen, den Napoleon der Erste über Europa
dahingeführt hat, hinterließ auch die Rheinfrage in einer neuen Fassung. Das
Rheingebiet hatte bis 1806 unter dem Schutze des fast tausendjährigen deutsch¬
römischen Kaisertums gestanden. Nun hatte sich dieses aufgelöst, und es schien
w deutschen Westen kein entsprechendes Gegengewicht mehr zur Spannkraft der
französischen Macht zu geben. Die Aussichten waren demnach für Frankreich
günstiger geworden, indes doch nur am Oberrhein; denn auch am Mittel- und
Niederrhein war eine bemerkenswerte Verschiebung eingetreten. Hundert Jahre
nach jenen ersten kleinen Erwerbungen an: Niederrhein hatte Brandenburg-Preußen
ihnen die Ländchen Mörs und Geldern hinzugefügt, und wieder hundert Jahre
später, eben am Ende der napoleonischen Zeit. Cöln. Aachen. Jülich. Trier und
Berg. Dieser ansehnliche Besitz beunruhigte Frankreich indes kaum. Denn der
Kern von Preußens Kraft lag in: Osten, jenseits der Elbe, vollständig abgetrennt
von seinem rheinischen Besitz durch einen Streifen von Mittel- und Kleinstaaten.


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[0419] Das deutsch-französische Grenzproblem nimmer am linken Ufer dauernd Halt gemacht hätten, weil beide Seiten des Stromgebiets organisch zueinander gehören. Dementsprechend haben die Haupt¬ träger des französischen Eroberungsplanes auch gehandelt, gleich den römischen Cäsaren. Ludwig der Vierzehnte und Napoleon der Erste haben beide mit Waffengewalt oder in der Form von engeren Bündnissen das ganze Rheingebiet (mit Ausnahme des Mainlandes) an Frankreich angegliedert oder anzugliedern versucht, und so ist der weitausschauende Plan der französischen Politik zweimal, wenn auch nur ganz vorübergehend, verwirklicht gewesen, und beide Fälle haben deutlich gezeigt, daß Frankreich in letzter Linie nicht bei dem Strom stehen geblieben wäre. Ob es wollte oder nicht: der Widerstreit zwischen der natür¬ lichen und wirtschaftlichen Bedeutung des Rheins als einer Hauptverkehrs¬ ader und der ihm aufgezwungenen Rolle einer Grenze zwischen rivalisierenden Mächten hätten eine derartige Anzahl von Jnteressenkämpfen heraufbeschworen, daß Frankreich früher oder später Hand auch auf die rechte Seite des Strom¬ gebiets hätte legen müssen. Daß es die große Ausgabe, die es sich am Rhein gestellt hatte, nicht dauernd in seinem Sinn hat lösen können, hat neben dem Widerstand auf deutscher Seite noch zwei wesentliche Gründe. Der erste Grund ist für die politische Moral charakteristisch. Während die Franzosen sich die gute Gelegenheit zunutze machten, die ihnen die deutsche Uneinigkeit bot, lockten sie sich eben durch diese Händel am Rhein noch einen anderen gefährlichen Feind auf den Hals, nämlich die Engländer. Sie benutzten die Bindung der französischen Kriegsmacht zu Land, um die kommerzielle und koloniale Weltmachtstellung Frankreichs durch eine Reihe von Seekriegen zu brechen. Diese Kämpfe zu Wasser waren für Frankreich äußerst nachteilig und schwächend: sie verschlangen ungeheure Summen, ruinierten seinen blühenden Welthandel und brachten es um ein großes Kolonialreich. Der andere Hauptgrund für das Mißlingen des großen ftanzösischen Planes war die Knickung der Macht Napoleons durch das Klima und die Einöden Rußlands. Der Wirbelsturm von Ereignissen, den Napoleon der Erste über Europa dahingeführt hat, hinterließ auch die Rheinfrage in einer neuen Fassung. Das Rheingebiet hatte bis 1806 unter dem Schutze des fast tausendjährigen deutsch¬ römischen Kaisertums gestanden. Nun hatte sich dieses aufgelöst, und es schien w deutschen Westen kein entsprechendes Gegengewicht mehr zur Spannkraft der französischen Macht zu geben. Die Aussichten waren demnach für Frankreich günstiger geworden, indes doch nur am Oberrhein; denn auch am Mittel- und Niederrhein war eine bemerkenswerte Verschiebung eingetreten. Hundert Jahre nach jenen ersten kleinen Erwerbungen an: Niederrhein hatte Brandenburg-Preußen ihnen die Ländchen Mörs und Geldern hinzugefügt, und wieder hundert Jahre später, eben am Ende der napoleonischen Zeit. Cöln. Aachen. Jülich. Trier und Berg. Dieser ansehnliche Besitz beunruhigte Frankreich indes kaum. Denn der Kern von Preußens Kraft lag in: Osten, jenseits der Elbe, vollständig abgetrennt von seinem rheinischen Besitz durch einen Streifen von Mittel- und Kleinstaaten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/419>, abgerufen am 04.01.2025.