Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das deutsch-französische Grenzproblem

die Oberlehensherren der Welt sein, scheiterten aber im Kampf mit den Italienern
und dem Papst. Die Wasserscheide der Alpen wirkte dabei als mächtiger Faktor
gegen die Kaiser und für die Italiener. Der Papst hatte im Schlußakt dieses
Kampfes die Franzosen zu Hilfe gerufen. Sie faßten in Süditalien festen Fuß
und nahmen später selbst das Problem der römisch-deutschen Kaiser auf, nämlich
die apenninische Halbinsel zu erobern. Dies war ihnen verhältnismäßig leicht
gemacht, weil die Kaiser nach dem Interregnum fast nur noch die Vergrößerung
ihrer Hausmacht im Auge hatten. Aber die Franzosen sahen bald ein, daß die
trennende Wirkung der Alpen einer festen Angliederung Italiens an Frankreich
die allergrößten Schwierigkeiten bereiten würde. Viel sicherer schien ihnen eine
andere, nicht minder wertvolle Aufgabe lösbar, nämlich ihre Ostgrenze durch das
schöne, fruchtbare, volk- und städtereiche Land am Rhein zu erweitern. Damals --
es war zur Zeit der Reformation und unmittelbar nach derselben -- fügten die
Franzosen ihrem Glaubensbekenntnis das neue Dogma hinzu, daß der Rhein
die von der Natur gesetzte Grenze zwischen Frankreich und Deutschland sei.
Eine kluge Politik, unterstützt von der deutschen Uneinigkeit und durch kriegerische
Unternehmungen, ließen die Franzosen in der Lösung ihrer Aufgabe so gute
Fortschritte machen, daß sie mit dem westfälischen Frieden den Oberrhein erreichten
und zwar im Bereiche derjenigen Strecke des Flusses, wo er wegen seines reißenden
Laufes für den menschlichen Verkehr wenig in Betracht kam. Beinahe hätten
sie schon vierzig Jahre vorher auch den Niederrhein besetzt. Denn dort waren
zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts die Herzogtümer Jülich, Kleve, Berg
und die Grafschaft Mark frei geworden, und der Kaiser, der Kurfürst von Branden¬
burg, der Fürst von Pfalz-Neuburg und König Heinrich der Vierte von Frank¬
reich stritten sich um deren Besitz. Schon hatte letzterer ein Heer von hundert¬
tausend Mann ausgerüstet, um Hand auf die Herzogtümer an: Rhein zu legen;
da traf ihn der Dolch des Mörders. Durch die Besonnenheit, die Kurbranden¬
burg im weiteren Verlaufe des Erbstreites an den Tag legte, behauptete es sich
schließlich in Kleve und Mark. So haben zu fast gleicher Zeit die alte Gro߬
macht Frankreich und der (als solcher noch nicht erkannte) Großmachtembryo
Brandenburg am Rhein Fuß gefaßt: ersterer am Oberlauf, letzterer am Unter¬
lauf. In diesem scheinbar unbedeutenden Zusammentreffen hat in Wirklichkeit
der Keim zu großen Dingen gesteckt, nämlich zur Vernichtung der französischen
Macht im Rheingebiet.

Um zu ermessen, was die Verwirklichung des französischen Eroberungsplanes
für das Deutschtum bedeutete, muß man dreierlei erwägen: 1. daß das Rhein¬
land im Mittelalter die kulturelle und Machtmitte Deutschlands war; 2. daß
ein außerordentlich reicher Kranz von Sagen und Liedern den Strom verherr¬
lichte und ihn im deutschen Nationalbewußtsein zu einen: der wenigen Ideale
machte, die im Chaos der politischen Zerrissenheit nicht ins Wanken geraten
waren; daß dieser Jungbrunnen deutschen Gemütslebens aber versiegen mußte,
sobald am linken Rheinufer die Franzosen saßen; 3. daß die Eroberer nun und


Das deutsch-französische Grenzproblem

die Oberlehensherren der Welt sein, scheiterten aber im Kampf mit den Italienern
und dem Papst. Die Wasserscheide der Alpen wirkte dabei als mächtiger Faktor
gegen die Kaiser und für die Italiener. Der Papst hatte im Schlußakt dieses
Kampfes die Franzosen zu Hilfe gerufen. Sie faßten in Süditalien festen Fuß
und nahmen später selbst das Problem der römisch-deutschen Kaiser auf, nämlich
die apenninische Halbinsel zu erobern. Dies war ihnen verhältnismäßig leicht
gemacht, weil die Kaiser nach dem Interregnum fast nur noch die Vergrößerung
ihrer Hausmacht im Auge hatten. Aber die Franzosen sahen bald ein, daß die
trennende Wirkung der Alpen einer festen Angliederung Italiens an Frankreich
die allergrößten Schwierigkeiten bereiten würde. Viel sicherer schien ihnen eine
andere, nicht minder wertvolle Aufgabe lösbar, nämlich ihre Ostgrenze durch das
schöne, fruchtbare, volk- und städtereiche Land am Rhein zu erweitern. Damals —
es war zur Zeit der Reformation und unmittelbar nach derselben — fügten die
Franzosen ihrem Glaubensbekenntnis das neue Dogma hinzu, daß der Rhein
die von der Natur gesetzte Grenze zwischen Frankreich und Deutschland sei.
Eine kluge Politik, unterstützt von der deutschen Uneinigkeit und durch kriegerische
Unternehmungen, ließen die Franzosen in der Lösung ihrer Aufgabe so gute
Fortschritte machen, daß sie mit dem westfälischen Frieden den Oberrhein erreichten
und zwar im Bereiche derjenigen Strecke des Flusses, wo er wegen seines reißenden
Laufes für den menschlichen Verkehr wenig in Betracht kam. Beinahe hätten
sie schon vierzig Jahre vorher auch den Niederrhein besetzt. Denn dort waren
zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts die Herzogtümer Jülich, Kleve, Berg
und die Grafschaft Mark frei geworden, und der Kaiser, der Kurfürst von Branden¬
burg, der Fürst von Pfalz-Neuburg und König Heinrich der Vierte von Frank¬
reich stritten sich um deren Besitz. Schon hatte letzterer ein Heer von hundert¬
tausend Mann ausgerüstet, um Hand auf die Herzogtümer an: Rhein zu legen;
da traf ihn der Dolch des Mörders. Durch die Besonnenheit, die Kurbranden¬
burg im weiteren Verlaufe des Erbstreites an den Tag legte, behauptete es sich
schließlich in Kleve und Mark. So haben zu fast gleicher Zeit die alte Gro߬
macht Frankreich und der (als solcher noch nicht erkannte) Großmachtembryo
Brandenburg am Rhein Fuß gefaßt: ersterer am Oberlauf, letzterer am Unter¬
lauf. In diesem scheinbar unbedeutenden Zusammentreffen hat in Wirklichkeit
der Keim zu großen Dingen gesteckt, nämlich zur Vernichtung der französischen
Macht im Rheingebiet.

Um zu ermessen, was die Verwirklichung des französischen Eroberungsplanes
für das Deutschtum bedeutete, muß man dreierlei erwägen: 1. daß das Rhein¬
land im Mittelalter die kulturelle und Machtmitte Deutschlands war; 2. daß
ein außerordentlich reicher Kranz von Sagen und Liedern den Strom verherr¬
lichte und ihn im deutschen Nationalbewußtsein zu einen: der wenigen Ideale
machte, die im Chaos der politischen Zerrissenheit nicht ins Wanken geraten
waren; daß dieser Jungbrunnen deutschen Gemütslebens aber versiegen mußte,
sobald am linken Rheinufer die Franzosen saßen; 3. daß die Eroberer nun und


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0418" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319365"/>
          <fw type="header" place="top"> Das deutsch-französische Grenzproblem</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2041" prev="#ID_2040"> die Oberlehensherren der Welt sein, scheiterten aber im Kampf mit den Italienern<lb/>
und dem Papst. Die Wasserscheide der Alpen wirkte dabei als mächtiger Faktor<lb/>
gegen die Kaiser und für die Italiener. Der Papst hatte im Schlußakt dieses<lb/>
Kampfes die Franzosen zu Hilfe gerufen. Sie faßten in Süditalien festen Fuß<lb/>
und nahmen später selbst das Problem der römisch-deutschen Kaiser auf, nämlich<lb/>
die apenninische Halbinsel zu erobern. Dies war ihnen verhältnismäßig leicht<lb/>
gemacht, weil die Kaiser nach dem Interregnum fast nur noch die Vergrößerung<lb/>
ihrer Hausmacht im Auge hatten. Aber die Franzosen sahen bald ein, daß die<lb/>
trennende Wirkung der Alpen einer festen Angliederung Italiens an Frankreich<lb/>
die allergrößten Schwierigkeiten bereiten würde. Viel sicherer schien ihnen eine<lb/>
andere, nicht minder wertvolle Aufgabe lösbar, nämlich ihre Ostgrenze durch das<lb/>
schöne, fruchtbare, volk- und städtereiche Land am Rhein zu erweitern. Damals &#x2014;<lb/>
es war zur Zeit der Reformation und unmittelbar nach derselben &#x2014; fügten die<lb/>
Franzosen ihrem Glaubensbekenntnis das neue Dogma hinzu, daß der Rhein<lb/>
die von der Natur gesetzte Grenze zwischen Frankreich und Deutschland sei.<lb/>
Eine kluge Politik, unterstützt von der deutschen Uneinigkeit und durch kriegerische<lb/>
Unternehmungen, ließen die Franzosen in der Lösung ihrer Aufgabe so gute<lb/>
Fortschritte machen, daß sie mit dem westfälischen Frieden den Oberrhein erreichten<lb/>
und zwar im Bereiche derjenigen Strecke des Flusses, wo er wegen seines reißenden<lb/>
Laufes für den menschlichen Verkehr wenig in Betracht kam. Beinahe hätten<lb/>
sie schon vierzig Jahre vorher auch den Niederrhein besetzt. Denn dort waren<lb/>
zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts die Herzogtümer Jülich, Kleve, Berg<lb/>
und die Grafschaft Mark frei geworden, und der Kaiser, der Kurfürst von Branden¬<lb/>
burg, der Fürst von Pfalz-Neuburg und König Heinrich der Vierte von Frank¬<lb/>
reich stritten sich um deren Besitz. Schon hatte letzterer ein Heer von hundert¬<lb/>
tausend Mann ausgerüstet, um Hand auf die Herzogtümer an: Rhein zu legen;<lb/>
da traf ihn der Dolch des Mörders. Durch die Besonnenheit, die Kurbranden¬<lb/>
burg im weiteren Verlaufe des Erbstreites an den Tag legte, behauptete es sich<lb/>
schließlich in Kleve und Mark. So haben zu fast gleicher Zeit die alte Gro߬<lb/>
macht Frankreich und der (als solcher noch nicht erkannte) Großmachtembryo<lb/>
Brandenburg am Rhein Fuß gefaßt: ersterer am Oberlauf, letzterer am Unter¬<lb/>
lauf. In diesem scheinbar unbedeutenden Zusammentreffen hat in Wirklichkeit<lb/>
der Keim zu großen Dingen gesteckt, nämlich zur Vernichtung der französischen<lb/>
Macht im Rheingebiet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2042" next="#ID_2043"> Um zu ermessen, was die Verwirklichung des französischen Eroberungsplanes<lb/>
für das Deutschtum bedeutete, muß man dreierlei erwägen: 1. daß das Rhein¬<lb/>
land im Mittelalter die kulturelle und Machtmitte Deutschlands war; 2. daß<lb/>
ein außerordentlich reicher Kranz von Sagen und Liedern den Strom verherr¬<lb/>
lichte und ihn im deutschen Nationalbewußtsein zu einen: der wenigen Ideale<lb/>
machte, die im Chaos der politischen Zerrissenheit nicht ins Wanken geraten<lb/>
waren; daß dieser Jungbrunnen deutschen Gemütslebens aber versiegen mußte,<lb/>
sobald am linken Rheinufer die Franzosen saßen; 3. daß die Eroberer nun und</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0418] Das deutsch-französische Grenzproblem die Oberlehensherren der Welt sein, scheiterten aber im Kampf mit den Italienern und dem Papst. Die Wasserscheide der Alpen wirkte dabei als mächtiger Faktor gegen die Kaiser und für die Italiener. Der Papst hatte im Schlußakt dieses Kampfes die Franzosen zu Hilfe gerufen. Sie faßten in Süditalien festen Fuß und nahmen später selbst das Problem der römisch-deutschen Kaiser auf, nämlich die apenninische Halbinsel zu erobern. Dies war ihnen verhältnismäßig leicht gemacht, weil die Kaiser nach dem Interregnum fast nur noch die Vergrößerung ihrer Hausmacht im Auge hatten. Aber die Franzosen sahen bald ein, daß die trennende Wirkung der Alpen einer festen Angliederung Italiens an Frankreich die allergrößten Schwierigkeiten bereiten würde. Viel sicherer schien ihnen eine andere, nicht minder wertvolle Aufgabe lösbar, nämlich ihre Ostgrenze durch das schöne, fruchtbare, volk- und städtereiche Land am Rhein zu erweitern. Damals — es war zur Zeit der Reformation und unmittelbar nach derselben — fügten die Franzosen ihrem Glaubensbekenntnis das neue Dogma hinzu, daß der Rhein die von der Natur gesetzte Grenze zwischen Frankreich und Deutschland sei. Eine kluge Politik, unterstützt von der deutschen Uneinigkeit und durch kriegerische Unternehmungen, ließen die Franzosen in der Lösung ihrer Aufgabe so gute Fortschritte machen, daß sie mit dem westfälischen Frieden den Oberrhein erreichten und zwar im Bereiche derjenigen Strecke des Flusses, wo er wegen seines reißenden Laufes für den menschlichen Verkehr wenig in Betracht kam. Beinahe hätten sie schon vierzig Jahre vorher auch den Niederrhein besetzt. Denn dort waren zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts die Herzogtümer Jülich, Kleve, Berg und die Grafschaft Mark frei geworden, und der Kaiser, der Kurfürst von Branden¬ burg, der Fürst von Pfalz-Neuburg und König Heinrich der Vierte von Frank¬ reich stritten sich um deren Besitz. Schon hatte letzterer ein Heer von hundert¬ tausend Mann ausgerüstet, um Hand auf die Herzogtümer an: Rhein zu legen; da traf ihn der Dolch des Mörders. Durch die Besonnenheit, die Kurbranden¬ burg im weiteren Verlaufe des Erbstreites an den Tag legte, behauptete es sich schließlich in Kleve und Mark. So haben zu fast gleicher Zeit die alte Gro߬ macht Frankreich und der (als solcher noch nicht erkannte) Großmachtembryo Brandenburg am Rhein Fuß gefaßt: ersterer am Oberlauf, letzterer am Unter¬ lauf. In diesem scheinbar unbedeutenden Zusammentreffen hat in Wirklichkeit der Keim zu großen Dingen gesteckt, nämlich zur Vernichtung der französischen Macht im Rheingebiet. Um zu ermessen, was die Verwirklichung des französischen Eroberungsplanes für das Deutschtum bedeutete, muß man dreierlei erwägen: 1. daß das Rhein¬ land im Mittelalter die kulturelle und Machtmitte Deutschlands war; 2. daß ein außerordentlich reicher Kranz von Sagen und Liedern den Strom verherr¬ lichte und ihn im deutschen Nationalbewußtsein zu einen: der wenigen Ideale machte, die im Chaos der politischen Zerrissenheit nicht ins Wanken geraten waren; daß dieser Jungbrunnen deutschen Gemütslebens aber versiegen mußte, sobald am linken Rheinufer die Franzosen saßen; 3. daß die Eroberer nun und

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/418
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/418>, abgerufen am 06.01.2025.