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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Das deutsch-französische Grenzproblem

in Amerika hüben und drüben am Lorenzo denkt, das haben die amerikanischen
Anträge auf Angliederung Kanadas an die Vereinigten Staaten neuerdings
bewiesen. Jetzt kriselt es auch am Rio Grande.

Das oberrheinische Tal läßt sich gut mit dem Untat vergleichen. In diesem
sind seit vielen Jahrtausenden Kulturstaaten in Blüte gewesen. Aber niemals
ist eine Grenze derselben den Fluß entlang gezogen worden, sondern immer
senkrecht zu ihm.

Ganz allgemein bekannt ist der Begriff der Staatswirtschaft. Indem die
Menschen nach ihren Fähigkeiten einander in die Hände arbeiten, steigern sie
den Wert des Lebensinhaltes und des höheren Lebensgenusses bis zu dem Grade,
den wir die höhere Kultur oder Bildung nennen. Diese Staatswirtschaft wurzelt
aber wesentlich in der Naturwirtschaft eines Ländergebiets, nämlich in den von
der Natur gegebenen Möglichkeiten zur Arbeit. Auch in dieser Hinsicht bilden
die Stromgebiete geschlossene Individualitäten. Zur Charakterisierung derselben
tragen alle bereits angeführten Merkmale bei: daß alle Talungen eines Strom¬
gebiets untereinander in offenem Zusammenhang stehen und nach der Mittellinie
hin zentralisiert sind; daß alle Bewegungen, auch die der Menschen, nach dem
Hauptstrom hin durch die Schwerkraft unterstützt, die Bewegungen von diesem
nach dem Rand hin gehemmt werden; daß infolgedessen das Wasser durch seine
stets gleichbleibende Bewegung immer nur nach der Mitte hin weist; daß es
die Talmulden durch Abtragung ihrer Wandungen ausweitet, den Schotter aber
anderwärts wieder auflagert und so den Talboden einebnet; daß dadurch gerade
in den Tälern ein Mindestmaß von Hemmungen für den menschlichen Verkehr
geschaffen wird; daß die verschiedenen Höhenschichten, Gesteinsarten und klima¬
tischen Verhältnisse eine gegenseitige Ergänzung von Feld- und Wiesenbau, Wald¬
bau und Bergbau innerhalb eines Flußgebietes mit sich bringen; daß endlich
die Flüsse selbst als ursprünglichste Beförderungslinien für Natur- und Kunst¬
produkte tätig sind. Alle diese Dinge und Eigenschaften sind es, die von jeher
durch ihre gröbere, sinnlich wahrnehmbare, oder feinere, suggestive Wirkung den
menschlichen Scharungen, Volksstämmen und Blutsverwandtschaften, Gauverbäuden
und Hundertschaften die Stromgebiete oder deren Abschnitte als zusmwnen-
gehörige Landschafts- und Wirtschaftsbezirke bezeichnet haben. Dies wird man
offenbar am treffendsten an Beispielen erkennen, die in die Zeiten zurückreichen,
da mau die natürlichen Wirtschaftsgebiete noch nicht mit Hilfe von Landkarten
suchen und abgrenzen konnte, z. B. zur Zeit der Völkerwanderung. Am Ende
derselben saßen im unteren Elbebecken, die Ostfalen. im mittleren und unteren
Weserbecken die Engern, im Emsbeckm die Westfalen, am Mittel- und Nieder¬
rhein beiderseits die Rheinfranken, im Maingebiet die Mainfranken, im Ober¬
rheinbecken die Alemanen, im Maas- und oberen Moselgebiet die Lothringer,
im oberen Nhonegebiet die Burgunder, in der Poebene die Langobarden, an
der oberen Donan die Bayern, im Unstrutgebiet die Thüringer und im Fulda-
und Oberlahngebiet die Hessen. Man denke auch an die feindlichen Brüder in


Das deutsch-französische Grenzproblem

in Amerika hüben und drüben am Lorenzo denkt, das haben die amerikanischen
Anträge auf Angliederung Kanadas an die Vereinigten Staaten neuerdings
bewiesen. Jetzt kriselt es auch am Rio Grande.

Das oberrheinische Tal läßt sich gut mit dem Untat vergleichen. In diesem
sind seit vielen Jahrtausenden Kulturstaaten in Blüte gewesen. Aber niemals
ist eine Grenze derselben den Fluß entlang gezogen worden, sondern immer
senkrecht zu ihm.

Ganz allgemein bekannt ist der Begriff der Staatswirtschaft. Indem die
Menschen nach ihren Fähigkeiten einander in die Hände arbeiten, steigern sie
den Wert des Lebensinhaltes und des höheren Lebensgenusses bis zu dem Grade,
den wir die höhere Kultur oder Bildung nennen. Diese Staatswirtschaft wurzelt
aber wesentlich in der Naturwirtschaft eines Ländergebiets, nämlich in den von
der Natur gegebenen Möglichkeiten zur Arbeit. Auch in dieser Hinsicht bilden
die Stromgebiete geschlossene Individualitäten. Zur Charakterisierung derselben
tragen alle bereits angeführten Merkmale bei: daß alle Talungen eines Strom¬
gebiets untereinander in offenem Zusammenhang stehen und nach der Mittellinie
hin zentralisiert sind; daß alle Bewegungen, auch die der Menschen, nach dem
Hauptstrom hin durch die Schwerkraft unterstützt, die Bewegungen von diesem
nach dem Rand hin gehemmt werden; daß infolgedessen das Wasser durch seine
stets gleichbleibende Bewegung immer nur nach der Mitte hin weist; daß es
die Talmulden durch Abtragung ihrer Wandungen ausweitet, den Schotter aber
anderwärts wieder auflagert und so den Talboden einebnet; daß dadurch gerade
in den Tälern ein Mindestmaß von Hemmungen für den menschlichen Verkehr
geschaffen wird; daß die verschiedenen Höhenschichten, Gesteinsarten und klima¬
tischen Verhältnisse eine gegenseitige Ergänzung von Feld- und Wiesenbau, Wald¬
bau und Bergbau innerhalb eines Flußgebietes mit sich bringen; daß endlich
die Flüsse selbst als ursprünglichste Beförderungslinien für Natur- und Kunst¬
produkte tätig sind. Alle diese Dinge und Eigenschaften sind es, die von jeher
durch ihre gröbere, sinnlich wahrnehmbare, oder feinere, suggestive Wirkung den
menschlichen Scharungen, Volksstämmen und Blutsverwandtschaften, Gauverbäuden
und Hundertschaften die Stromgebiete oder deren Abschnitte als zusmwnen-
gehörige Landschafts- und Wirtschaftsbezirke bezeichnet haben. Dies wird man
offenbar am treffendsten an Beispielen erkennen, die in die Zeiten zurückreichen,
da mau die natürlichen Wirtschaftsgebiete noch nicht mit Hilfe von Landkarten
suchen und abgrenzen konnte, z. B. zur Zeit der Völkerwanderung. Am Ende
derselben saßen im unteren Elbebecken, die Ostfalen. im mittleren und unteren
Weserbecken die Engern, im Emsbeckm die Westfalen, am Mittel- und Nieder¬
rhein beiderseits die Rheinfranken, im Maingebiet die Mainfranken, im Ober¬
rheinbecken die Alemanen, im Maas- und oberen Moselgebiet die Lothringer,
im oberen Nhonegebiet die Burgunder, in der Poebene die Langobarden, an
der oberen Donan die Bayern, im Unstrutgebiet die Thüringer und im Fulda-
und Oberlahngebiet die Hessen. Man denke auch an die feindlichen Brüder in


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[0416] Das deutsch-französische Grenzproblem in Amerika hüben und drüben am Lorenzo denkt, das haben die amerikanischen Anträge auf Angliederung Kanadas an die Vereinigten Staaten neuerdings bewiesen. Jetzt kriselt es auch am Rio Grande. Das oberrheinische Tal läßt sich gut mit dem Untat vergleichen. In diesem sind seit vielen Jahrtausenden Kulturstaaten in Blüte gewesen. Aber niemals ist eine Grenze derselben den Fluß entlang gezogen worden, sondern immer senkrecht zu ihm. Ganz allgemein bekannt ist der Begriff der Staatswirtschaft. Indem die Menschen nach ihren Fähigkeiten einander in die Hände arbeiten, steigern sie den Wert des Lebensinhaltes und des höheren Lebensgenusses bis zu dem Grade, den wir die höhere Kultur oder Bildung nennen. Diese Staatswirtschaft wurzelt aber wesentlich in der Naturwirtschaft eines Ländergebiets, nämlich in den von der Natur gegebenen Möglichkeiten zur Arbeit. Auch in dieser Hinsicht bilden die Stromgebiete geschlossene Individualitäten. Zur Charakterisierung derselben tragen alle bereits angeführten Merkmale bei: daß alle Talungen eines Strom¬ gebiets untereinander in offenem Zusammenhang stehen und nach der Mittellinie hin zentralisiert sind; daß alle Bewegungen, auch die der Menschen, nach dem Hauptstrom hin durch die Schwerkraft unterstützt, die Bewegungen von diesem nach dem Rand hin gehemmt werden; daß infolgedessen das Wasser durch seine stets gleichbleibende Bewegung immer nur nach der Mitte hin weist; daß es die Talmulden durch Abtragung ihrer Wandungen ausweitet, den Schotter aber anderwärts wieder auflagert und so den Talboden einebnet; daß dadurch gerade in den Tälern ein Mindestmaß von Hemmungen für den menschlichen Verkehr geschaffen wird; daß die verschiedenen Höhenschichten, Gesteinsarten und klima¬ tischen Verhältnisse eine gegenseitige Ergänzung von Feld- und Wiesenbau, Wald¬ bau und Bergbau innerhalb eines Flußgebietes mit sich bringen; daß endlich die Flüsse selbst als ursprünglichste Beförderungslinien für Natur- und Kunst¬ produkte tätig sind. Alle diese Dinge und Eigenschaften sind es, die von jeher durch ihre gröbere, sinnlich wahrnehmbare, oder feinere, suggestive Wirkung den menschlichen Scharungen, Volksstämmen und Blutsverwandtschaften, Gauverbäuden und Hundertschaften die Stromgebiete oder deren Abschnitte als zusmwnen- gehörige Landschafts- und Wirtschaftsbezirke bezeichnet haben. Dies wird man offenbar am treffendsten an Beispielen erkennen, die in die Zeiten zurückreichen, da mau die natürlichen Wirtschaftsgebiete noch nicht mit Hilfe von Landkarten suchen und abgrenzen konnte, z. B. zur Zeit der Völkerwanderung. Am Ende derselben saßen im unteren Elbebecken, die Ostfalen. im mittleren und unteren Weserbecken die Engern, im Emsbeckm die Westfalen, am Mittel- und Nieder¬ rhein beiderseits die Rheinfranken, im Maingebiet die Mainfranken, im Ober¬ rheinbecken die Alemanen, im Maas- und oberen Moselgebiet die Lothringer, im oberen Nhonegebiet die Burgunder, in der Poebene die Langobarden, an der oberen Donan die Bayern, im Unstrutgebiet die Thüringer und im Fulda- und Oberlahngebiet die Hessen. Man denke auch an die feindlichen Brüder in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/416>, abgerufen am 06.01.2025.