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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Das deutsch-französische Grenzproblem

Je härter diese organischen Reste sind, um so mehr widerstehen sie der Ver¬
nichtung und haben so Aussicht, als Versteinerungen dauernd erhalten zu werden.
Wenn also ein Ding in seineu Eigenschaften (namentlich den wesentlichen) den
äußeren Bedingungen des Daseins entspricht, so hat es im Kampf ums Dasein
die Unterstützung der Natur; es hat mehr Aussicht auf dauernden Bestand,
als die weniger zweckmäßig begabten. Sie verfallen leichter der Vernichtung.
Man nennt diesen allüberall waltenden Vorgang die natürliche Auslese.

Nun sind auch die Grenzen allen möglichen Veränderungen ausgesetzt
gewesen. Die Menschen können sie ziehen, wie sie wollen, und sie haben sie
in: Verlaufe der Geschichte in jedem möglichen Sinn verändert. Wenn aber
die oben abgeleiteten Grenzgesetze richtig sind, so müssen sich aus den zahlreichen
Verschiebungen gewisse Dauerformen erkennen lassen, und diese müssen dem
Gesetz entsprechen, daß sie in erster Linie die Hauptwasserscheiden, in zweiter
Linie die zu den Hauptflüssen quer verlaufenden Nebenwasserscheiden aufsuchen.
Ein Blick auf die Landkarte bestätigt dies reichlich. Hier nur einige Beispiele.
Aus dem Tohuwabohu der deutschen Vielstaaterei sind Staaten und Provinzen
hervorgegangen, in denen der Hauptfluß die Mittelader bildet. Davon gibt
es nur eine bemerkenswerte Ausnahme und zwar in der Ecke, wo die Franzosen
eine Zeitlang mit scheinbaren: Erfolg an der Verwirklichung ihres unnatürlichen
Grenzenideals gearbeitet haben, nämlich am Oberrhein. Die Grenzen Deutsch¬
lands gegen Rußland, Österreich, Frankreich, die Niederlande schneiden die
Strombecken entweder der Quere nach, oder sie suchen deutlich die Wasserscheiden
der Flußgebiete auf. Die an das Deutsche Reich angrenzenden Teile der
Schweiz sind die Becken der Aar und des Hochrheins. Beide werden durch
die quer verlaufende Grenze geschlossen. Die kurze Rheinstrecke zwischen dem
Untersee und Basel kommt als Verkehrsader nicht in Betracht; ebenso wenig
die Königsau, das Grenzflüßchen gegen Dänemark. Frankreich besteht aus dem
Seine-, Loire-, Garonne-, Rhone- und oberen Maasbecken. Alle seine Land¬
grenzen suchen die Wasserscheiden auf oder schneiden die Flußgebiete quer. An
der Widerstandsfähigkeit der Tschechen haben die Randgebirge Böhmens einen
Hauptanteil. Der geniale Preußenkönig Friedrich der Zweite setzte alles aufs
Spiel, um Österreich über die Wasserscheide des Odergebietes zurückzuwerfen,
weil er erkannte, daß Preußens Vormachtstellung im norddeutschen Tiefland
untrennbar damit verknüpft sein würde. An den Stellen aber, wo die Grenz-
sührung noch nicht im natürlichen Sinn erfolgt ist, wie an der unteren Donau,
am Amur in Ostasien. am Lorenzo und am Rio Grande del Norte in Amerika,
da sind bekanntlich die politischen Verhältnisse recht unsicher. Österreich hat sich
neuerdings einen Teil des rechten Savebeckens (Bosnien) angegliedert. Es fehlen
ihm noch die rechte Hälfte des Drinabeckens und das Morawagebiet, d. h. Serbien.
Sein wirtschaftlicher Anschluß an Österreich-Ungarn wird allein imstande sein,
seine Selbständigkeit für die Zukunft zu gewährleisten. Um die rechte Seite
des Amurbeckens, die Mandschurei, ringen die Russen schon lange. Wie man


Das deutsch-französische Grenzproblem

Je härter diese organischen Reste sind, um so mehr widerstehen sie der Ver¬
nichtung und haben so Aussicht, als Versteinerungen dauernd erhalten zu werden.
Wenn also ein Ding in seineu Eigenschaften (namentlich den wesentlichen) den
äußeren Bedingungen des Daseins entspricht, so hat es im Kampf ums Dasein
die Unterstützung der Natur; es hat mehr Aussicht auf dauernden Bestand,
als die weniger zweckmäßig begabten. Sie verfallen leichter der Vernichtung.
Man nennt diesen allüberall waltenden Vorgang die natürliche Auslese.

Nun sind auch die Grenzen allen möglichen Veränderungen ausgesetzt
gewesen. Die Menschen können sie ziehen, wie sie wollen, und sie haben sie
in: Verlaufe der Geschichte in jedem möglichen Sinn verändert. Wenn aber
die oben abgeleiteten Grenzgesetze richtig sind, so müssen sich aus den zahlreichen
Verschiebungen gewisse Dauerformen erkennen lassen, und diese müssen dem
Gesetz entsprechen, daß sie in erster Linie die Hauptwasserscheiden, in zweiter
Linie die zu den Hauptflüssen quer verlaufenden Nebenwasserscheiden aufsuchen.
Ein Blick auf die Landkarte bestätigt dies reichlich. Hier nur einige Beispiele.
Aus dem Tohuwabohu der deutschen Vielstaaterei sind Staaten und Provinzen
hervorgegangen, in denen der Hauptfluß die Mittelader bildet. Davon gibt
es nur eine bemerkenswerte Ausnahme und zwar in der Ecke, wo die Franzosen
eine Zeitlang mit scheinbaren: Erfolg an der Verwirklichung ihres unnatürlichen
Grenzenideals gearbeitet haben, nämlich am Oberrhein. Die Grenzen Deutsch¬
lands gegen Rußland, Österreich, Frankreich, die Niederlande schneiden die
Strombecken entweder der Quere nach, oder sie suchen deutlich die Wasserscheiden
der Flußgebiete auf. Die an das Deutsche Reich angrenzenden Teile der
Schweiz sind die Becken der Aar und des Hochrheins. Beide werden durch
die quer verlaufende Grenze geschlossen. Die kurze Rheinstrecke zwischen dem
Untersee und Basel kommt als Verkehrsader nicht in Betracht; ebenso wenig
die Königsau, das Grenzflüßchen gegen Dänemark. Frankreich besteht aus dem
Seine-, Loire-, Garonne-, Rhone- und oberen Maasbecken. Alle seine Land¬
grenzen suchen die Wasserscheiden auf oder schneiden die Flußgebiete quer. An
der Widerstandsfähigkeit der Tschechen haben die Randgebirge Böhmens einen
Hauptanteil. Der geniale Preußenkönig Friedrich der Zweite setzte alles aufs
Spiel, um Österreich über die Wasserscheide des Odergebietes zurückzuwerfen,
weil er erkannte, daß Preußens Vormachtstellung im norddeutschen Tiefland
untrennbar damit verknüpft sein würde. An den Stellen aber, wo die Grenz-
sührung noch nicht im natürlichen Sinn erfolgt ist, wie an der unteren Donau,
am Amur in Ostasien. am Lorenzo und am Rio Grande del Norte in Amerika,
da sind bekanntlich die politischen Verhältnisse recht unsicher. Österreich hat sich
neuerdings einen Teil des rechten Savebeckens (Bosnien) angegliedert. Es fehlen
ihm noch die rechte Hälfte des Drinabeckens und das Morawagebiet, d. h. Serbien.
Sein wirtschaftlicher Anschluß an Österreich-Ungarn wird allein imstande sein,
seine Selbständigkeit für die Zukunft zu gewährleisten. Um die rechte Seite
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[0415] Das deutsch-französische Grenzproblem Je härter diese organischen Reste sind, um so mehr widerstehen sie der Ver¬ nichtung und haben so Aussicht, als Versteinerungen dauernd erhalten zu werden. Wenn also ein Ding in seineu Eigenschaften (namentlich den wesentlichen) den äußeren Bedingungen des Daseins entspricht, so hat es im Kampf ums Dasein die Unterstützung der Natur; es hat mehr Aussicht auf dauernden Bestand, als die weniger zweckmäßig begabten. Sie verfallen leichter der Vernichtung. Man nennt diesen allüberall waltenden Vorgang die natürliche Auslese. Nun sind auch die Grenzen allen möglichen Veränderungen ausgesetzt gewesen. Die Menschen können sie ziehen, wie sie wollen, und sie haben sie in: Verlaufe der Geschichte in jedem möglichen Sinn verändert. Wenn aber die oben abgeleiteten Grenzgesetze richtig sind, so müssen sich aus den zahlreichen Verschiebungen gewisse Dauerformen erkennen lassen, und diese müssen dem Gesetz entsprechen, daß sie in erster Linie die Hauptwasserscheiden, in zweiter Linie die zu den Hauptflüssen quer verlaufenden Nebenwasserscheiden aufsuchen. Ein Blick auf die Landkarte bestätigt dies reichlich. Hier nur einige Beispiele. Aus dem Tohuwabohu der deutschen Vielstaaterei sind Staaten und Provinzen hervorgegangen, in denen der Hauptfluß die Mittelader bildet. Davon gibt es nur eine bemerkenswerte Ausnahme und zwar in der Ecke, wo die Franzosen eine Zeitlang mit scheinbaren: Erfolg an der Verwirklichung ihres unnatürlichen Grenzenideals gearbeitet haben, nämlich am Oberrhein. Die Grenzen Deutsch¬ lands gegen Rußland, Österreich, Frankreich, die Niederlande schneiden die Strombecken entweder der Quere nach, oder sie suchen deutlich die Wasserscheiden der Flußgebiete auf. Die an das Deutsche Reich angrenzenden Teile der Schweiz sind die Becken der Aar und des Hochrheins. Beide werden durch die quer verlaufende Grenze geschlossen. Die kurze Rheinstrecke zwischen dem Untersee und Basel kommt als Verkehrsader nicht in Betracht; ebenso wenig die Königsau, das Grenzflüßchen gegen Dänemark. Frankreich besteht aus dem Seine-, Loire-, Garonne-, Rhone- und oberen Maasbecken. Alle seine Land¬ grenzen suchen die Wasserscheiden auf oder schneiden die Flußgebiete quer. An der Widerstandsfähigkeit der Tschechen haben die Randgebirge Böhmens einen Hauptanteil. Der geniale Preußenkönig Friedrich der Zweite setzte alles aufs Spiel, um Österreich über die Wasserscheide des Odergebietes zurückzuwerfen, weil er erkannte, daß Preußens Vormachtstellung im norddeutschen Tiefland untrennbar damit verknüpft sein würde. An den Stellen aber, wo die Grenz- sührung noch nicht im natürlichen Sinn erfolgt ist, wie an der unteren Donau, am Amur in Ostasien. am Lorenzo und am Rio Grande del Norte in Amerika, da sind bekanntlich die politischen Verhältnisse recht unsicher. Österreich hat sich neuerdings einen Teil des rechten Savebeckens (Bosnien) angegliedert. Es fehlen ihm noch die rechte Hälfte des Drinabeckens und das Morawagebiet, d. h. Serbien. Sein wirtschaftlicher Anschluß an Österreich-Ungarn wird allein imstande sein, seine Selbständigkeit für die Zukunft zu gewährleisten. Um die rechte Seite des Amurbeckens, die Mandschurei, ringen die Russen schon lange. Wie man

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/415>, abgerufen am 06.01.2025.