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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Jas deutsch-französische Grenzproblem

schnitten zu werden, so kann die mit Mund und Gehirn versehene Hälfte fort¬
leben, die andere noch eine Zeitlang. Schlauchtiere, z, B. den bekannten grünen
Armpolypen, kann man durch Querschnitte in mehrere Teile zerlegen, von denen
jeder wieder ein vollständiges, lebensfähiges Einzeltier bildet. Bei Pflanzen
werden solche Schnitte außerordentlich häufig ausgeführt, nämlich beim Beschneiden
der Bäume und Sträucher. Niemals aber kann ein solcher operativer Eingriff
in der Mittellinie geführt werden; er würde sicher tödlich wirken. Ja weitaus
in den meisten Fällen hat die Natur selbst die organisierten Körper in gesonderte
Regionen oder Provinzen zerlegt. So besteht jedes Insekt durch Quereinschnitte
aus Kopf, Brust und Hinterleib. In jeder dieser Provinzen werden besondere
Arbeitsleistungen verrichtet, während der Zusammenhang des Ganzen durch die
der Länge nach verlaufenden Werkzeuge der Ernährung, des Kreislaufes und
der Reizleitung gewährleistet ist.

Übertragen wir diese der Biologie entnommenen Vorstellungen auf das
geographische Grenzproblem, so stellen die Flußgebiete die Individuen vor; ihre
Hauptwasserscheiden sind die natürlichen Hauptgrenzen; die Wasserscheiden der
Nebenflüsse kommen als natürliche Grenzen zweiten Ranges in Betracht. Die
Stromlinie selbst aber ist das gerade Gegenteil einer solchen natürlichen Grenze.
Sie ist vielmehr die Hauptlebensader einer organischen Einheit der Erdober¬
fläche. Dementsprechend hat eine Landesgrenze um so mehr den Anspruch auf
die Eigenschaft der Naturgemäßheit, als sie mit den Wasserscheiden der Ströme
zusammenfällt. Sind aber Unterabteilungen nötig, z. B. Provinzgrenzen, oder
zwingen andere Verhältnisse die Grenzlinie zu einer wesentlichen Abweichung
von der Hauptwasserscheide, so dürfen diese Marken nur quer zur Richtung der
Hauptflüsse verlaufen.

Prüfen wir nun die Lage der Grenzlinien, wie sie die Landkarte zeigt, so
ersehen wir leicht, daß sie im wesentlichen den oben entwickelten Vorstellungen
entsprechen. Auch dies läßt vermuten, daß wir es mit einem wirklichen Natur¬
gesetz zu tun haben, das allen Dingen Stärke und Dauer verleiht, die ihm
entsprechen, aber alles schwächen und vernichten hilft, das ihm widerstreitet, und
dies führt unmittelbar auf einen weiteren Grundgedanken, mit dessen Hilfe die
Naturwissenschaft viele ihrer Probleme auf einfache und naturgemäße Weise
gelöst hat. Die alltägliche Beobachtung zeigt, daß die Nachkommen eines
Elternpaares im Tier- und Pflanzenreich, selbst wenn sie nach Tausenden
zählen, zwar einander ähnlich, aber niemals vollkommen gleich sind, und wie
die Individuen einer Art so äußerlich schwanken, so sind sie auch innerlich,
d. h. in ihren Eigenschaften verschieden. Das hat wichtige Folgen. Es wandern
z. B. viele Europäer in tropische Klimate aus. Von diesen Menschen werden
unter sonst gleichen Verhältnissen diejenigen am gesündesten bleiben und sich
zur Züchtung einer tropenfähigen Rasse am meisten eignen, deren Haut zur
Bildung von dunklem Pigment neigt. Oder: von einem Fluß werden in seine
Schotterablagerungen zahlreiche Reste von Tieren und Pflanzen mit eingeschlemmt.


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schnitten zu werden, so kann die mit Mund und Gehirn versehene Hälfte fort¬
leben, die andere noch eine Zeitlang. Schlauchtiere, z, B. den bekannten grünen
Armpolypen, kann man durch Querschnitte in mehrere Teile zerlegen, von denen
jeder wieder ein vollständiges, lebensfähiges Einzeltier bildet. Bei Pflanzen
werden solche Schnitte außerordentlich häufig ausgeführt, nämlich beim Beschneiden
der Bäume und Sträucher. Niemals aber kann ein solcher operativer Eingriff
in der Mittellinie geführt werden; er würde sicher tödlich wirken. Ja weitaus
in den meisten Fällen hat die Natur selbst die organisierten Körper in gesonderte
Regionen oder Provinzen zerlegt. So besteht jedes Insekt durch Quereinschnitte
aus Kopf, Brust und Hinterleib. In jeder dieser Provinzen werden besondere
Arbeitsleistungen verrichtet, während der Zusammenhang des Ganzen durch die
der Länge nach verlaufenden Werkzeuge der Ernährung, des Kreislaufes und
der Reizleitung gewährleistet ist.

Übertragen wir diese der Biologie entnommenen Vorstellungen auf das
geographische Grenzproblem, so stellen die Flußgebiete die Individuen vor; ihre
Hauptwasserscheiden sind die natürlichen Hauptgrenzen; die Wasserscheiden der
Nebenflüsse kommen als natürliche Grenzen zweiten Ranges in Betracht. Die
Stromlinie selbst aber ist das gerade Gegenteil einer solchen natürlichen Grenze.
Sie ist vielmehr die Hauptlebensader einer organischen Einheit der Erdober¬
fläche. Dementsprechend hat eine Landesgrenze um so mehr den Anspruch auf
die Eigenschaft der Naturgemäßheit, als sie mit den Wasserscheiden der Ströme
zusammenfällt. Sind aber Unterabteilungen nötig, z. B. Provinzgrenzen, oder
zwingen andere Verhältnisse die Grenzlinie zu einer wesentlichen Abweichung
von der Hauptwasserscheide, so dürfen diese Marken nur quer zur Richtung der
Hauptflüsse verlaufen.

Prüfen wir nun die Lage der Grenzlinien, wie sie die Landkarte zeigt, so
ersehen wir leicht, daß sie im wesentlichen den oben entwickelten Vorstellungen
entsprechen. Auch dies läßt vermuten, daß wir es mit einem wirklichen Natur¬
gesetz zu tun haben, das allen Dingen Stärke und Dauer verleiht, die ihm
entsprechen, aber alles schwächen und vernichten hilft, das ihm widerstreitet, und
dies führt unmittelbar auf einen weiteren Grundgedanken, mit dessen Hilfe die
Naturwissenschaft viele ihrer Probleme auf einfache und naturgemäße Weise
gelöst hat. Die alltägliche Beobachtung zeigt, daß die Nachkommen eines
Elternpaares im Tier- und Pflanzenreich, selbst wenn sie nach Tausenden
zählen, zwar einander ähnlich, aber niemals vollkommen gleich sind, und wie
die Individuen einer Art so äußerlich schwanken, so sind sie auch innerlich,
d. h. in ihren Eigenschaften verschieden. Das hat wichtige Folgen. Es wandern
z. B. viele Europäer in tropische Klimate aus. Von diesen Menschen werden
unter sonst gleichen Verhältnissen diejenigen am gesündesten bleiben und sich
zur Züchtung einer tropenfähigen Rasse am meisten eignen, deren Haut zur
Bildung von dunklem Pigment neigt. Oder: von einem Fluß werden in seine
Schotterablagerungen zahlreiche Reste von Tieren und Pflanzen mit eingeschlemmt.


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[0414] Jas deutsch-französische Grenzproblem schnitten zu werden, so kann die mit Mund und Gehirn versehene Hälfte fort¬ leben, die andere noch eine Zeitlang. Schlauchtiere, z, B. den bekannten grünen Armpolypen, kann man durch Querschnitte in mehrere Teile zerlegen, von denen jeder wieder ein vollständiges, lebensfähiges Einzeltier bildet. Bei Pflanzen werden solche Schnitte außerordentlich häufig ausgeführt, nämlich beim Beschneiden der Bäume und Sträucher. Niemals aber kann ein solcher operativer Eingriff in der Mittellinie geführt werden; er würde sicher tödlich wirken. Ja weitaus in den meisten Fällen hat die Natur selbst die organisierten Körper in gesonderte Regionen oder Provinzen zerlegt. So besteht jedes Insekt durch Quereinschnitte aus Kopf, Brust und Hinterleib. In jeder dieser Provinzen werden besondere Arbeitsleistungen verrichtet, während der Zusammenhang des Ganzen durch die der Länge nach verlaufenden Werkzeuge der Ernährung, des Kreislaufes und der Reizleitung gewährleistet ist. Übertragen wir diese der Biologie entnommenen Vorstellungen auf das geographische Grenzproblem, so stellen die Flußgebiete die Individuen vor; ihre Hauptwasserscheiden sind die natürlichen Hauptgrenzen; die Wasserscheiden der Nebenflüsse kommen als natürliche Grenzen zweiten Ranges in Betracht. Die Stromlinie selbst aber ist das gerade Gegenteil einer solchen natürlichen Grenze. Sie ist vielmehr die Hauptlebensader einer organischen Einheit der Erdober¬ fläche. Dementsprechend hat eine Landesgrenze um so mehr den Anspruch auf die Eigenschaft der Naturgemäßheit, als sie mit den Wasserscheiden der Ströme zusammenfällt. Sind aber Unterabteilungen nötig, z. B. Provinzgrenzen, oder zwingen andere Verhältnisse die Grenzlinie zu einer wesentlichen Abweichung von der Hauptwasserscheide, so dürfen diese Marken nur quer zur Richtung der Hauptflüsse verlaufen. Prüfen wir nun die Lage der Grenzlinien, wie sie die Landkarte zeigt, so ersehen wir leicht, daß sie im wesentlichen den oben entwickelten Vorstellungen entsprechen. Auch dies läßt vermuten, daß wir es mit einem wirklichen Natur¬ gesetz zu tun haben, das allen Dingen Stärke und Dauer verleiht, die ihm entsprechen, aber alles schwächen und vernichten hilft, das ihm widerstreitet, und dies führt unmittelbar auf einen weiteren Grundgedanken, mit dessen Hilfe die Naturwissenschaft viele ihrer Probleme auf einfache und naturgemäße Weise gelöst hat. Die alltägliche Beobachtung zeigt, daß die Nachkommen eines Elternpaares im Tier- und Pflanzenreich, selbst wenn sie nach Tausenden zählen, zwar einander ähnlich, aber niemals vollkommen gleich sind, und wie die Individuen einer Art so äußerlich schwanken, so sind sie auch innerlich, d. h. in ihren Eigenschaften verschieden. Das hat wichtige Folgen. Es wandern z. B. viele Europäer in tropische Klimate aus. Von diesen Menschen werden unter sonst gleichen Verhältnissen diejenigen am gesündesten bleiben und sich zur Züchtung einer tropenfähigen Rasse am meisten eignen, deren Haut zur Bildung von dunklem Pigment neigt. Oder: von einem Fluß werden in seine Schotterablagerungen zahlreiche Reste von Tieren und Pflanzen mit eingeschlemmt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/414>, abgerufen am 04.01.2025.