Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.Christian Dietrich Grabbe geschlechtlicher Art, aber im Grunde sind sie nicht ärger als die der Schillerschen Grabbe war so wenig entwicklungsfähig, daß er allmählich durch die Praxis Da ist die Stimmung des Gothlanddichters in ganz runder Schleifung Übrigens ist Grabbe sich dieser Schwäche selbst bewußt, wie die begleitenden Und ebenso wenig gelingt ihm die reine Abtönung. Abgesehen von Stellen, Christian Dietrich Grabbe geschlechtlicher Art, aber im Grunde sind sie nicht ärger als die der Schillerschen Grabbe war so wenig entwicklungsfähig, daß er allmählich durch die Praxis Da ist die Stimmung des Gothlanddichters in ganz runder Schleifung Übrigens ist Grabbe sich dieser Schwäche selbst bewußt, wie die begleitenden Und ebenso wenig gelingt ihm die reine Abtönung. Abgesehen von Stellen, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0408" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319355"/> <fw type="header" place="top"> Christian Dietrich Grabbe</fw><lb/> <p xml:id="ID_2002" prev="#ID_2001"> geschlechtlicher Art, aber im Grunde sind sie nicht ärger als die der Schillerschen<lb/> Jugendtraum. In Kabale und Liebe ist eine Stelle, der ganz die gleiche<lb/> Vorstellung zugrunde liegt, wie die schmutzige Zote in Grabbes Gothland (III, 1<lb/> zu vergleichen mit Kabale und Liebe I, 5) und mit gewissem Recht verteidigt<lb/> Grabbe seinen Abschaum mit dem Hinweis auf Goethes Faust, wo zwar keusche<lb/> Striche gemacht seien, der Nein aber das Wüsteste erraten lasse. Es ist aber<lb/> doch ein gewaltiger Unterschied, nur nicht auf moralischem, sondern auf ästhetischem<lb/> Gebiet. Grabbes Zoten sind stillos und deshalb widerlich. Büchner, der ihm<lb/> am nächsten steht, Shakespeare, von dem er gelernt hat, Schiller, den er damals<lb/> glühend verehrte, und Goethe, mit dem er sich verteidigte, verstehen es, das<lb/> Gemeine zu stilisieren; das konnte Grabbe im Gothland noch nicht, es lag ihm<lb/> die gemeine Zote noch zu sehr auf der Zunge; die künstlerische Objektivität<lb/> hatte er noch nicht gewonnen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2003"> Grabbe war so wenig entwicklungsfähig, daß er allmählich durch die Praxis<lb/> nur lernte, was jeder im Leben lernt: die Wirkung berechnen. Er erlernte es<lb/> nicht, das Erlebnis zu gestalten, er gewann keine künstlerische Vertiefung, weil<lb/> er zu unstät war, den Stimmungsgehalt des persönlichen Erlebnisses festzuhalten.<lb/> Daher lernte er nie abzutönen und scharf zu prägen. Selten gelingt ihm eine<lb/> reine scharfe Prägung wie die:</p><lb/> <lg xml:id="POEMID_31" type="poem"> <l/> </lg><lb/> <p xml:id="ID_2004"> Da ist die Stimmung des Gothlanddichters in ganz runder Schleifung<lb/> vollkommen ausgedrückt. Aber das ist eine der wenigen Ausnahmen. Als ihn<lb/> 1835 Wolfgang Menzel auffordert, ihm etwas in „Schillers Album" zu schreiben,<lb/> bringt er nichts weiter zustande als ein Zitat aus Schiller (Unter allen ird'schen<lb/> Lösen usw.), dem er als eigenen Beitrag die geradezu dilettantischen Verse<lb/> beigibt:</p><lb/> <lg xml:id="POEMID_32" type="poem"> <l/> </lg><lb/> <p xml:id="ID_2005"> Übrigens ist Grabbe sich dieser Schwäche selbst bewußt, wie die begleitenden<lb/> Worte an Menzel beweisen: „Ich konnt's nicht anders machen, weil ich mich<lb/> nur auf verwickeltere dramatische Kompositionen verstehe, und selbst bei einer<lb/> großen Gelegenheit, wie diese von Schillers Denkmal, welche aber Talent der<lb/> Kürze fordert, nur so, wie geschehen, mich retten mußte. Kürze besitz' ich, doch<lb/> bloß, wo sie sich in weitläufige Handlung einsticht, nicht aber zu Denksprüchen."</p><lb/> <p xml:id="ID_2006" next="#ID_2007"> Und ebenso wenig gelingt ihm die reine Abtönung. Abgesehen von Stellen,<lb/> wo er mit Absicht die Stimmung, die er kaum gewonnen, jäh zerstört, und von<lb/> solchen, wo er den großen tragischen Stil dicht neben alberne Berliner Schnoddrig¬<lb/> keit setzt (im Napoleon), finden wir ihn oft außerstande, einen angeschlagenen<lb/> Ton durchzuhalten, bis er harmonisch verklungen; täppisch schlägt der Grabbe</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0408]
Christian Dietrich Grabbe
geschlechtlicher Art, aber im Grunde sind sie nicht ärger als die der Schillerschen
Jugendtraum. In Kabale und Liebe ist eine Stelle, der ganz die gleiche
Vorstellung zugrunde liegt, wie die schmutzige Zote in Grabbes Gothland (III, 1
zu vergleichen mit Kabale und Liebe I, 5) und mit gewissem Recht verteidigt
Grabbe seinen Abschaum mit dem Hinweis auf Goethes Faust, wo zwar keusche
Striche gemacht seien, der Nein aber das Wüsteste erraten lasse. Es ist aber
doch ein gewaltiger Unterschied, nur nicht auf moralischem, sondern auf ästhetischem
Gebiet. Grabbes Zoten sind stillos und deshalb widerlich. Büchner, der ihm
am nächsten steht, Shakespeare, von dem er gelernt hat, Schiller, den er damals
glühend verehrte, und Goethe, mit dem er sich verteidigte, verstehen es, das
Gemeine zu stilisieren; das konnte Grabbe im Gothland noch nicht, es lag ihm
die gemeine Zote noch zu sehr auf der Zunge; die künstlerische Objektivität
hatte er noch nicht gewonnen.
Grabbe war so wenig entwicklungsfähig, daß er allmählich durch die Praxis
nur lernte, was jeder im Leben lernt: die Wirkung berechnen. Er erlernte es
nicht, das Erlebnis zu gestalten, er gewann keine künstlerische Vertiefung, weil
er zu unstät war, den Stimmungsgehalt des persönlichen Erlebnisses festzuhalten.
Daher lernte er nie abzutönen und scharf zu prägen. Selten gelingt ihm eine
reine scharfe Prägung wie die:
Da ist die Stimmung des Gothlanddichters in ganz runder Schleifung
vollkommen ausgedrückt. Aber das ist eine der wenigen Ausnahmen. Als ihn
1835 Wolfgang Menzel auffordert, ihm etwas in „Schillers Album" zu schreiben,
bringt er nichts weiter zustande als ein Zitat aus Schiller (Unter allen ird'schen
Lösen usw.), dem er als eigenen Beitrag die geradezu dilettantischen Verse
beigibt:
Übrigens ist Grabbe sich dieser Schwäche selbst bewußt, wie die begleitenden
Worte an Menzel beweisen: „Ich konnt's nicht anders machen, weil ich mich
nur auf verwickeltere dramatische Kompositionen verstehe, und selbst bei einer
großen Gelegenheit, wie diese von Schillers Denkmal, welche aber Talent der
Kürze fordert, nur so, wie geschehen, mich retten mußte. Kürze besitz' ich, doch
bloß, wo sie sich in weitläufige Handlung einsticht, nicht aber zu Denksprüchen."
Und ebenso wenig gelingt ihm die reine Abtönung. Abgesehen von Stellen,
wo er mit Absicht die Stimmung, die er kaum gewonnen, jäh zerstört, und von
solchen, wo er den großen tragischen Stil dicht neben alberne Berliner Schnoddrig¬
keit setzt (im Napoleon), finden wir ihn oft außerstande, einen angeschlagenen
Ton durchzuhalten, bis er harmonisch verklungen; täppisch schlägt der Grabbe
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