Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.Christian Dietrich Grabbe nur einzelne Stellen des Schädels spärlich bedeckte, abgerechnet -- alles schön. Es liegt in der Tat etwas Embryonenhaftes in Gmbbes ganzem Wesen Die schlappe sentimentale Dichtung seiner Zeit brachte ihn in den brutalen Christian Dietrich Grabbe nur einzelne Stellen des Schädels spärlich bedeckte, abgerechnet — alles schön. Es liegt in der Tat etwas Embryonenhaftes in Gmbbes ganzem Wesen Die schlappe sentimentale Dichtung seiner Zeit brachte ihn in den brutalen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0407" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319354"/> <fw type="header" place="top"> Christian Dietrich Grabbe</fw><lb/> <p xml:id="ID_1999" prev="#ID_1998"> nur einzelne Stellen des Schädels spärlich bedeckte, abgerechnet — alles schön.<lb/> Und von da hinunter alles häßlich, verworren, ungereimt! Ein schlaffer Mund,<lb/> verdrossen über dem Kinn hängend, das Kinn kaum vom Halse sich lösend, der<lb/> ganze untere Teil des Gesichts überhaupt so scheu zurückkriechend, wie der obere<lb/> sich frei und stolz vorbaute... Der Körper fein und zart — Hände und Füße<lb/> von solcher Kleinheit, daß sie mir unentwickelt vorkamen."</p><lb/> <p xml:id="ID_2000"> Es liegt in der Tat etwas Embryonenhaftes in Gmbbes ganzem Wesen<lb/> und daher auch in seiner Weltanschauung. Es ist verfehlt, die Weltanschauung<lb/> Gmbbes ernst zu nehmen; er hat keine gehabt. Über den knabenhaft über¬<lb/> treibender, sittlich und philosophisch unverankerten Pessimismus des aufgeklärten<lb/> Gymnasiasten ist er im Grunde nie hinausgekommen. Das war für ihn persönlich<lb/> schlimmer als für seine Dichtungen, deren Bedeutung auf einem ganz anderen<lb/> Gebiet liegen, als dem verdichteter Probleme oder persönlicher poetischer<lb/> Bekenntnisse. Grabbe ist der typische deutsche Stürmer und Dränger, daher ist<lb/> Zwar genug Tendenz in seinen Werken, aber doch nicht so ausgeprägt wie bei<lb/> der ersten Generation der Geniedichter: Klinger. Lenz und Wagner. Was ihn<lb/> bedeutsam macht, ist die geniale Auffassung der Geschichte, in der er unerreicht<lb/> ist. Was sein wüstes Leben interessant macht, ist der Kampf, den er allein<lb/> gegen alle geführt hat und gegen alles, was ihn umgab. Aus Gegensatz-<lb/> Wirkung ist sein ganzes Leben und Dichten zu erklären.</p><lb/> <p xml:id="ID_2001" next="#ID_2002"> Die schlappe sentimentale Dichtung seiner Zeit brachte ihn in den brutalen<lb/> Naturalismus seiner ersten Dramen; im Gothland war Grabbe echt, da ist auch<lb/> alles wie aus einem Guß, kein Schwanken im Stil; die rohe Wildheit seiner<lb/> Jünglingsjahre, Sie wahnsinnigen Orgien der Sinnlichkeit, die er selbst<lb/> feierte, spiegeln sich im Gothland fast unverarbeitet wider. Der Dichter muß<lb/> so dichten, wie er muß: Im Gothland hat Grabbe ganz das gegeben, was<lb/> Grabbe war, später hat er gesucht und gekünstelt; im Aufbau, in der realen<lb/> Möglichkeit der Charaktere, in knapperer Prägung vielleicht zugelernt — sein<lb/> Stil ist nie wieder so eindrucksvoll gewesen wie in dem Erstlingswerk, das<lb/> geschaffen ist aus einem übervollen, aber zerrissenen, gleichsam ausblutenden<lb/> Jünglingsherzcn. Die ungeheuersten Lästerungen der Gottheit und Menschlich¬<lb/> keit entsprachen seinem jähen Ausdrucksbedürfnis; wir glauben zwar nicht an<lb/> Gothlands Verwandlung, die psychologische Begründung ist schlecht, das ist aber<lb/> in Schillers Räubern nicht anders, und selbst Othellos blindwütige Eifersucht<lb/> müssen wir unerklärt hinnehmen, sie ist eben das gegebene Problem, die Basis,<lb/> auf der sich alles aufbauen soll. Auch Hebbels Maria Magdalena setzt uns<lb/> einen harten Brocken vor in Klaras Hingabe an Leonhard. Deswegen soll<lb/> man mit Grabbe nicht rechten: die Welt steckt voll psychologischer Rätsel. Der<lb/> Stil des Dichters entscheidet über die psychologische Möglichkeit besser als die<lb/> Statistik der Tatsachen: Und der Stil des Gothland, der vor den rohesten<lb/> Zoten nicht Halt macht, läßt das Wahnsinnigste und Widerlichste möglich erscheinen.<lb/> Es sträubt sich jedes Gefühl gegen die Wiederholung Grabbescher Wildheiten</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0407]
Christian Dietrich Grabbe
nur einzelne Stellen des Schädels spärlich bedeckte, abgerechnet — alles schön.
Und von da hinunter alles häßlich, verworren, ungereimt! Ein schlaffer Mund,
verdrossen über dem Kinn hängend, das Kinn kaum vom Halse sich lösend, der
ganze untere Teil des Gesichts überhaupt so scheu zurückkriechend, wie der obere
sich frei und stolz vorbaute... Der Körper fein und zart — Hände und Füße
von solcher Kleinheit, daß sie mir unentwickelt vorkamen."
Es liegt in der Tat etwas Embryonenhaftes in Gmbbes ganzem Wesen
und daher auch in seiner Weltanschauung. Es ist verfehlt, die Weltanschauung
Gmbbes ernst zu nehmen; er hat keine gehabt. Über den knabenhaft über¬
treibender, sittlich und philosophisch unverankerten Pessimismus des aufgeklärten
Gymnasiasten ist er im Grunde nie hinausgekommen. Das war für ihn persönlich
schlimmer als für seine Dichtungen, deren Bedeutung auf einem ganz anderen
Gebiet liegen, als dem verdichteter Probleme oder persönlicher poetischer
Bekenntnisse. Grabbe ist der typische deutsche Stürmer und Dränger, daher ist
Zwar genug Tendenz in seinen Werken, aber doch nicht so ausgeprägt wie bei
der ersten Generation der Geniedichter: Klinger. Lenz und Wagner. Was ihn
bedeutsam macht, ist die geniale Auffassung der Geschichte, in der er unerreicht
ist. Was sein wüstes Leben interessant macht, ist der Kampf, den er allein
gegen alle geführt hat und gegen alles, was ihn umgab. Aus Gegensatz-
Wirkung ist sein ganzes Leben und Dichten zu erklären.
Die schlappe sentimentale Dichtung seiner Zeit brachte ihn in den brutalen
Naturalismus seiner ersten Dramen; im Gothland war Grabbe echt, da ist auch
alles wie aus einem Guß, kein Schwanken im Stil; die rohe Wildheit seiner
Jünglingsjahre, Sie wahnsinnigen Orgien der Sinnlichkeit, die er selbst
feierte, spiegeln sich im Gothland fast unverarbeitet wider. Der Dichter muß
so dichten, wie er muß: Im Gothland hat Grabbe ganz das gegeben, was
Grabbe war, später hat er gesucht und gekünstelt; im Aufbau, in der realen
Möglichkeit der Charaktere, in knapperer Prägung vielleicht zugelernt — sein
Stil ist nie wieder so eindrucksvoll gewesen wie in dem Erstlingswerk, das
geschaffen ist aus einem übervollen, aber zerrissenen, gleichsam ausblutenden
Jünglingsherzcn. Die ungeheuersten Lästerungen der Gottheit und Menschlich¬
keit entsprachen seinem jähen Ausdrucksbedürfnis; wir glauben zwar nicht an
Gothlands Verwandlung, die psychologische Begründung ist schlecht, das ist aber
in Schillers Räubern nicht anders, und selbst Othellos blindwütige Eifersucht
müssen wir unerklärt hinnehmen, sie ist eben das gegebene Problem, die Basis,
auf der sich alles aufbauen soll. Auch Hebbels Maria Magdalena setzt uns
einen harten Brocken vor in Klaras Hingabe an Leonhard. Deswegen soll
man mit Grabbe nicht rechten: die Welt steckt voll psychologischer Rätsel. Der
Stil des Dichters entscheidet über die psychologische Möglichkeit besser als die
Statistik der Tatsachen: Und der Stil des Gothland, der vor den rohesten
Zoten nicht Halt macht, läßt das Wahnsinnigste und Widerlichste möglich erscheinen.
Es sträubt sich jedes Gefühl gegen die Wiederholung Grabbescher Wildheiten
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