Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.Reichsspiegel Verkehr; ungeheuer und unberechenbar ist der Schaden, der dem gesamten Wirt¬ Charakteristisch erscheint an den gegenwärtigen Vorgängen, daß die englischen Reichsspiegel Verkehr; ungeheuer und unberechenbar ist der Schaden, der dem gesamten Wirt¬ Charakteristisch erscheint an den gegenwärtigen Vorgängen, daß die englischen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0394" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319341"/> <fw type="header" place="top"> Reichsspiegel</fw><lb/> <p xml:id="ID_1965" prev="#ID_1964"> Verkehr; ungeheuer und unberechenbar ist der Schaden, der dem gesamten Wirt¬<lb/> schaftsleben der Nation und auch des Auslandes zugefügt wird. Liverpool ist ein<lb/> Hauptstapelplatz für den Baumwollhandel der Welt; die Lahmlegung desselben,<lb/> wenn auch nur für kurze Zeit, bedeutet unersetzliche Verluste für die englischen und<lb/> nicht minder die deutschen Spinnereien. Beträgt doch der Wert der jährlichen<lb/> Baumwolleinfuhr in Deutschland annähernd S00 Millionen Mark! Diese Ent¬<lb/> wicklung der englischen Arbeiterverhältnisse, die eine so fühlbare Rückwirkung auf<lb/> unsere Industrie auszuüben vermag, ist daher interessant genug, um ihr eine kurze<lb/> Beachtung zu widmen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1966" next="#ID_1967"> Charakteristisch erscheint an den gegenwärtigen Vorgängen, daß die englischen<lb/> Gewerkschaften, die Trabes Unions, nicht mehr Herr der Bewegung geblieben<lb/> sind und das Heft aus den Händen verloren haben. Man war bisher gewohnt,<lb/> die englischen Gewerkschaften hinsichtlich ihrer Disziplin als musterhaft, hin¬<lb/> sichtlich ihrer sozialpolitischen Wirksamkeit als ein unerreichtes Vorbild<lb/> anzusehen. Dem scheinen die turbulenter Arbeitseinstellungen, die Macht¬<lb/> losigkeit des Auftretens der Arbeiterführer und die allgemeine Disziplin-<lb/> losigkeit zu widersprechen. Dies erklärt sich daraus, daß die Träger der<lb/> Bewegung nicht sowohl die organisierten als die ungelernten Arbeiter sind. Aus<lb/> diesem Grunde haben es denn auch die Eisenbahngesellschaften abgelehnt, mit den<lb/> Gewerkschaften zu verhandeln, weil sie dieselben nicht als Vertreter der streikenden<lb/> Partei betrachten. Bei Lichte besehen erklären sich die Vorgänge daher gerade<lb/> dadurch, daß es sich um einen Kampf unorganisierter Arbeitermassen handelt, der<lb/> stets unüberlegter und maßloser geführt wird und beiden Teilen, vornehmlich aber<lb/> den Arbeitern selbst, zu größerem Schaden gereicht, als wenn eine wohldiszipli¬<lb/> nierte Organisation die Auseinandersetzung mit den Arbeitgebern in die Hand<lb/> nimmt. Diese hat ein ausgeprägteres Verantwortungsgefühl und ein unmittel¬<lb/> bares Bewußtsein von dem wirtschaftlichen Schaden einer allgemeinen Arbeits¬<lb/> einstellung, welche die mühsam gesammelten Unterstützungsgelder in wenigen Tagen<lb/> aufzehrt. Organisierte Arbeiter werden daher in der Regel, wenn auch tadelns¬<lb/> werte Mißgriffe nicht ausgeschlossen sind, doch nur in den zwingendsten Fällen zu<lb/> dem Kampfmittel der Arbeitseinstellung greifen, und im übrigen vorhandene Diffe¬<lb/> renzen mit den Arbeitgebern leicht im Wege der Vereinbarung regeln können,<lb/> sofern nur die letzteren Einsicht genug besitzen, die Notwendigkeit und die Wohltat<lb/> der Arbeiterorganisation anzuerkennen und nicht, wie das leider noch so vielfach<lb/> geschieht, den industriellen Arbeitsvertrag als einen Ausfluß ihrer eigenen privat¬<lb/> wirtschaftlichen Selbständigkeit betrachten, deren Antastung sie wie eine Selbst¬<lb/> erniedrigung empfinden. Ganz unabweisbar aber wird die Anerkennung der<lb/> Arbeiterorganisationen und die Regelung des Arbeitsverhältnisses durch Tarif¬<lb/> verträge, wenn die Unternehmer einen Betrieb führen, dessen ungestörte Aufrecht¬<lb/> erhaltung nicht nur in ihrem eigenen privatwirtschaftlichen, sondern im öffent¬<lb/> lichen Interesse liegt, wie bei den Eisenbahnen. Diese gehören, wie heute kein<lb/> Einsichtiger mehr bezweifelt, wegen ihrer öffentlichen Bedeutung überhaupt nicht<lb/> in die Hände von Erwerbsgesellschaften, sondern in die Hände des Staates. Wir<lb/> können uns glücklich preisen, daß solche beklagenswerten Erfahrungen, wie sie im<lb/> vorigen Jahr in Frankreich und gegenwärtig in England gemacht worden sind,<lb/> uns erspart bleiben werden. Gegen die Gemeingefährlichkeit der verbrecherischen</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0394]
Reichsspiegel
Verkehr; ungeheuer und unberechenbar ist der Schaden, der dem gesamten Wirt¬
schaftsleben der Nation und auch des Auslandes zugefügt wird. Liverpool ist ein
Hauptstapelplatz für den Baumwollhandel der Welt; die Lahmlegung desselben,
wenn auch nur für kurze Zeit, bedeutet unersetzliche Verluste für die englischen und
nicht minder die deutschen Spinnereien. Beträgt doch der Wert der jährlichen
Baumwolleinfuhr in Deutschland annähernd S00 Millionen Mark! Diese Ent¬
wicklung der englischen Arbeiterverhältnisse, die eine so fühlbare Rückwirkung auf
unsere Industrie auszuüben vermag, ist daher interessant genug, um ihr eine kurze
Beachtung zu widmen.
Charakteristisch erscheint an den gegenwärtigen Vorgängen, daß die englischen
Gewerkschaften, die Trabes Unions, nicht mehr Herr der Bewegung geblieben
sind und das Heft aus den Händen verloren haben. Man war bisher gewohnt,
die englischen Gewerkschaften hinsichtlich ihrer Disziplin als musterhaft, hin¬
sichtlich ihrer sozialpolitischen Wirksamkeit als ein unerreichtes Vorbild
anzusehen. Dem scheinen die turbulenter Arbeitseinstellungen, die Macht¬
losigkeit des Auftretens der Arbeiterführer und die allgemeine Disziplin-
losigkeit zu widersprechen. Dies erklärt sich daraus, daß die Träger der
Bewegung nicht sowohl die organisierten als die ungelernten Arbeiter sind. Aus
diesem Grunde haben es denn auch die Eisenbahngesellschaften abgelehnt, mit den
Gewerkschaften zu verhandeln, weil sie dieselben nicht als Vertreter der streikenden
Partei betrachten. Bei Lichte besehen erklären sich die Vorgänge daher gerade
dadurch, daß es sich um einen Kampf unorganisierter Arbeitermassen handelt, der
stets unüberlegter und maßloser geführt wird und beiden Teilen, vornehmlich aber
den Arbeitern selbst, zu größerem Schaden gereicht, als wenn eine wohldiszipli¬
nierte Organisation die Auseinandersetzung mit den Arbeitgebern in die Hand
nimmt. Diese hat ein ausgeprägteres Verantwortungsgefühl und ein unmittel¬
bares Bewußtsein von dem wirtschaftlichen Schaden einer allgemeinen Arbeits¬
einstellung, welche die mühsam gesammelten Unterstützungsgelder in wenigen Tagen
aufzehrt. Organisierte Arbeiter werden daher in der Regel, wenn auch tadelns¬
werte Mißgriffe nicht ausgeschlossen sind, doch nur in den zwingendsten Fällen zu
dem Kampfmittel der Arbeitseinstellung greifen, und im übrigen vorhandene Diffe¬
renzen mit den Arbeitgebern leicht im Wege der Vereinbarung regeln können,
sofern nur die letzteren Einsicht genug besitzen, die Notwendigkeit und die Wohltat
der Arbeiterorganisation anzuerkennen und nicht, wie das leider noch so vielfach
geschieht, den industriellen Arbeitsvertrag als einen Ausfluß ihrer eigenen privat¬
wirtschaftlichen Selbständigkeit betrachten, deren Antastung sie wie eine Selbst¬
erniedrigung empfinden. Ganz unabweisbar aber wird die Anerkennung der
Arbeiterorganisationen und die Regelung des Arbeitsverhältnisses durch Tarif¬
verträge, wenn die Unternehmer einen Betrieb führen, dessen ungestörte Aufrecht¬
erhaltung nicht nur in ihrem eigenen privatwirtschaftlichen, sondern im öffent¬
lichen Interesse liegt, wie bei den Eisenbahnen. Diese gehören, wie heute kein
Einsichtiger mehr bezweifelt, wegen ihrer öffentlichen Bedeutung überhaupt nicht
in die Hände von Erwerbsgesellschaften, sondern in die Hände des Staates. Wir
können uns glücklich preisen, daß solche beklagenswerten Erfahrungen, wie sie im
vorigen Jahr in Frankreich und gegenwärtig in England gemacht worden sind,
uns erspart bleiben werden. Gegen die Gemeingefährlichkeit der verbrecherischen
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