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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Das hohe Selbstgefühl, mit dem Theodor
Storm, der von mir hochverehrte Lyriker und
Novellist, von seinen eigenen Märchen spricht --
es sind streng genommen nur drei, denn der
auch von ihm selbst verurteilte "Hinzelmeier"
und der Scherz "Der kleine Häwelmann"
kommen nicht in Betracht --, habe ich immer
als ein Zeichen aufgefaßt, daß gerade Märchen
seine Stärke nicht waren. Was einem schwer
fällt, schätzt man bekanntlich am meisten. Die
drei Märchen Storms zeigen trotz hoher
Poetischer Vorzüge (Stimmungsmalerei, treff¬
liche Naturschilderung, künstlerisch knapper
Stil) keinen einheitlichen Märcheucharakter,
Siorm hat es selbst gefühlt und erteilt
eigentlich nur der "Negentrude" den Titel
Märchen. "Bulemcmns Haus" ist ihm eher
"eine seltsame Historie", "Der Spiegel des
Cyprianus" eine "Sage". So verhält es sich
auch. Und so ist denn im Grunde genommen
keins von den dreien ein rechtes Märchen,
denn in der "Regentrude" läuft -- wie schon
Müsiner, wenn auch gar zu zaghaft, in be¬
sagtem Aufsatz andeutet -- die Dorfgeschichte
neben dem Märchenhaften einher, verbindet
sich nicht mit diesem unlöslich, wie es von
Rechts wegen in der Wunderwelt des Märchens
doch sein soll.

Auch die Originalität der drei Geschichten
ist anfechtbar. "Die Regentrude" ist auf einem
Volksmärchen, "Der Spiegel des Chpricmus"
auf einer Volkssage aufgebaut, und "Bule-
mauns Haus" weist unverkennbare Beein¬
flussung durch einen der Lieblingsdichter
Storms, E. Th. A. Hoffmann, auf.

Hiernach ist es höchst befremdlich -- nicht
daß Sturm diese drei Versuche so hoch ein¬
schätzen konnte, dies habe ich eingangs zu
erklären versucht --, sondern daß er ein so
absprechendes Urteil über Andersen fällen
konnte, diesen Märchendichter von Gottes
Gnaden, der Natürlichkeit mit sprudelnder
Erfindungsgabe vereint und bei hoher Kunst
des Vortrags Gemüt und Geist gleicherweise
erquickt., Kein Geringerer als Jakob Grimm
war es, der von Andersens Märchen sagte,
daß viele davon ins Volk übergehen und zu
wirklichen Volksmärchen werden würden. Auch
schuf Andersen damit eine ganz neue Form,
die vor ihm nicht da war, erwies also, auch
hierin eine ausgesprochene Originalität. Wie
ganz anders eigenartig und verschwenderisch-

[Spaltenumbruch]

reich erscheint er als Märchenerzähler gegen
Storm mit seinen drei einzig derAnempfindung
abgerungenen ProdultenI Und was will es
besagen, wenn Storm erklärt: eS komme ihm
beim Lesen der Andersenschen Märchen immer
so vor, als wenn der Dichter sich nur gro߬
mütig zur Fugend herabgelassen habe!
Andersen trifft gerade den kindlichen Ton
bewundernswert-mühelos, er erzählt nur
ohne Anspruch frisch drauf los und ohne viel
Brimborium darum zu machen.

Daß er nicht den Ton der Grimmschen
oder Bechsteinschen Märchen nachzuahmen
sucht, ist ein Vorzug und! ein Zeichen seines
echten KünstlertumS. Es war nicht sein Ton,
und so vermied er ihn. Grimm und Bechstein
erzählen ja nur -- wenn auch höchst fein¬
fühlig -- das wieder, was Jahrhunderte hin¬
durch von Mund zu Mund gegangen und
sozusagen durch die Volksseele filtriert worden
war. Diese Märchen bewußt nachzuahmen,
würde so verkehrt sein, wie wenn ein Dichter
der Jetztzeit -- was allerdings vorkommt,
dem Kundigen aber nur ein Lächeln ab¬
nötigt -- ein "Lied im Volkston" dichtet.

Und doch ist gerade in der Zeit, da Storm
an Kuh und andere so stolz von seinem
Märchenschaffen und geringschätzig von dem
seiner Zeitgenossen schrieb, ein echter Märchen¬
dichter aufgetreten, der jene naive Empfin¬
dungsweise der Volksmärchenerzähler besaß
und ihr kunstvoll Ausdruck zu geben verstand:
Richard Leander. Sollte Storm die "Träume¬
reien an französischen Kaminen" -- sie er¬
schienen im großen Kriegsjahr und wurden
draußen im Felde verfaßt, daher ihr Titel --
nie zu Gesicht bekommen haben? Wenn aber,
wäre es denkbar, daß er ihren richtigen Wert
nicht erkannt hätte?

- Auch Viktor Blüthgens "Hesperiden" --
erschienen 1878, aber schon Jahre vorher in
Jugendblättern veröffentlicht -- hätten einem
so leidenschaftlichen Märchenliebhaber wie
Storm eigentlich in die Hände kommen müssen.
Das sind gleichfalls Erzeugnisse eines echten
Märchendichters, der aus dem Vollen schöpft
und in gar manchem seiner graziös-fein¬
fühligen, farbegesättigten Märchendichtungen
die Gattung erweitert hat. Märchen wie
"Allerseelennncht", "Der Totengräber" --
um nur einige zu nennen -- schreibt ihm
keiner nach.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Das hohe Selbstgefühl, mit dem Theodor
Storm, der von mir hochverehrte Lyriker und
Novellist, von seinen eigenen Märchen spricht —
es sind streng genommen nur drei, denn der
auch von ihm selbst verurteilte „Hinzelmeier"
und der Scherz „Der kleine Häwelmann"
kommen nicht in Betracht —, habe ich immer
als ein Zeichen aufgefaßt, daß gerade Märchen
seine Stärke nicht waren. Was einem schwer
fällt, schätzt man bekanntlich am meisten. Die
drei Märchen Storms zeigen trotz hoher
Poetischer Vorzüge (Stimmungsmalerei, treff¬
liche Naturschilderung, künstlerisch knapper
Stil) keinen einheitlichen Märcheucharakter,
Siorm hat es selbst gefühlt und erteilt
eigentlich nur der „Negentrude" den Titel
Märchen. „Bulemcmns Haus" ist ihm eher
„eine seltsame Historie", „Der Spiegel des
Cyprianus" eine „Sage". So verhält es sich
auch. Und so ist denn im Grunde genommen
keins von den dreien ein rechtes Märchen,
denn in der „Regentrude" läuft — wie schon
Müsiner, wenn auch gar zu zaghaft, in be¬
sagtem Aufsatz andeutet — die Dorfgeschichte
neben dem Märchenhaften einher, verbindet
sich nicht mit diesem unlöslich, wie es von
Rechts wegen in der Wunderwelt des Märchens
doch sein soll.

Auch die Originalität der drei Geschichten
ist anfechtbar. „Die Regentrude" ist auf einem
Volksmärchen, „Der Spiegel des Chpricmus"
auf einer Volkssage aufgebaut, und „Bule-
mauns Haus" weist unverkennbare Beein¬
flussung durch einen der Lieblingsdichter
Storms, E. Th. A. Hoffmann, auf.

Hiernach ist es höchst befremdlich — nicht
daß Sturm diese drei Versuche so hoch ein¬
schätzen konnte, dies habe ich eingangs zu
erklären versucht —, sondern daß er ein so
absprechendes Urteil über Andersen fällen
konnte, diesen Märchendichter von Gottes
Gnaden, der Natürlichkeit mit sprudelnder
Erfindungsgabe vereint und bei hoher Kunst
des Vortrags Gemüt und Geist gleicherweise
erquickt., Kein Geringerer als Jakob Grimm
war es, der von Andersens Märchen sagte,
daß viele davon ins Volk übergehen und zu
wirklichen Volksmärchen werden würden. Auch
schuf Andersen damit eine ganz neue Form,
die vor ihm nicht da war, erwies also, auch
hierin eine ausgesprochene Originalität. Wie
ganz anders eigenartig und verschwenderisch-

[Spaltenumbruch]

reich erscheint er als Märchenerzähler gegen
Storm mit seinen drei einzig derAnempfindung
abgerungenen ProdultenI Und was will es
besagen, wenn Storm erklärt: eS komme ihm
beim Lesen der Andersenschen Märchen immer
so vor, als wenn der Dichter sich nur gro߬
mütig zur Fugend herabgelassen habe!
Andersen trifft gerade den kindlichen Ton
bewundernswert-mühelos, er erzählt nur
ohne Anspruch frisch drauf los und ohne viel
Brimborium darum zu machen.

Daß er nicht den Ton der Grimmschen
oder Bechsteinschen Märchen nachzuahmen
sucht, ist ein Vorzug und! ein Zeichen seines
echten KünstlertumS. Es war nicht sein Ton,
und so vermied er ihn. Grimm und Bechstein
erzählen ja nur — wenn auch höchst fein¬
fühlig — das wieder, was Jahrhunderte hin¬
durch von Mund zu Mund gegangen und
sozusagen durch die Volksseele filtriert worden
war. Diese Märchen bewußt nachzuahmen,
würde so verkehrt sein, wie wenn ein Dichter
der Jetztzeit — was allerdings vorkommt,
dem Kundigen aber nur ein Lächeln ab¬
nötigt — ein „Lied im Volkston" dichtet.

Und doch ist gerade in der Zeit, da Storm
an Kuh und andere so stolz von seinem
Märchenschaffen und geringschätzig von dem
seiner Zeitgenossen schrieb, ein echter Märchen¬
dichter aufgetreten, der jene naive Empfin¬
dungsweise der Volksmärchenerzähler besaß
und ihr kunstvoll Ausdruck zu geben verstand:
Richard Leander. Sollte Storm die „Träume¬
reien an französischen Kaminen" — sie er¬
schienen im großen Kriegsjahr und wurden
draußen im Felde verfaßt, daher ihr Titel —
nie zu Gesicht bekommen haben? Wenn aber,
wäre es denkbar, daß er ihren richtigen Wert
nicht erkannt hätte?

- Auch Viktor Blüthgens „Hesperiden" —
erschienen 1878, aber schon Jahre vorher in
Jugendblättern veröffentlicht — hätten einem
so leidenschaftlichen Märchenliebhaber wie
Storm eigentlich in die Hände kommen müssen.
Das sind gleichfalls Erzeugnisse eines echten
Märchendichters, der aus dem Vollen schöpft
und in gar manchem seiner graziös-fein¬
fühligen, farbegesättigten Märchendichtungen
die Gattung erweitert hat. Märchen wie
„Allerseelennncht", „Der Totengräber" —
um nur einige zu nennen — schreibt ihm
keiner nach.

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[0385] Maßgebliches und Unmaßgebliches Das hohe Selbstgefühl, mit dem Theodor Storm, der von mir hochverehrte Lyriker und Novellist, von seinen eigenen Märchen spricht — es sind streng genommen nur drei, denn der auch von ihm selbst verurteilte „Hinzelmeier" und der Scherz „Der kleine Häwelmann" kommen nicht in Betracht —, habe ich immer als ein Zeichen aufgefaßt, daß gerade Märchen seine Stärke nicht waren. Was einem schwer fällt, schätzt man bekanntlich am meisten. Die drei Märchen Storms zeigen trotz hoher Poetischer Vorzüge (Stimmungsmalerei, treff¬ liche Naturschilderung, künstlerisch knapper Stil) keinen einheitlichen Märcheucharakter, Siorm hat es selbst gefühlt und erteilt eigentlich nur der „Negentrude" den Titel Märchen. „Bulemcmns Haus" ist ihm eher „eine seltsame Historie", „Der Spiegel des Cyprianus" eine „Sage". So verhält es sich auch. Und so ist denn im Grunde genommen keins von den dreien ein rechtes Märchen, denn in der „Regentrude" läuft — wie schon Müsiner, wenn auch gar zu zaghaft, in be¬ sagtem Aufsatz andeutet — die Dorfgeschichte neben dem Märchenhaften einher, verbindet sich nicht mit diesem unlöslich, wie es von Rechts wegen in der Wunderwelt des Märchens doch sein soll. Auch die Originalität der drei Geschichten ist anfechtbar. „Die Regentrude" ist auf einem Volksmärchen, „Der Spiegel des Chpricmus" auf einer Volkssage aufgebaut, und „Bule- mauns Haus" weist unverkennbare Beein¬ flussung durch einen der Lieblingsdichter Storms, E. Th. A. Hoffmann, auf. Hiernach ist es höchst befremdlich — nicht daß Sturm diese drei Versuche so hoch ein¬ schätzen konnte, dies habe ich eingangs zu erklären versucht —, sondern daß er ein so absprechendes Urteil über Andersen fällen konnte, diesen Märchendichter von Gottes Gnaden, der Natürlichkeit mit sprudelnder Erfindungsgabe vereint und bei hoher Kunst des Vortrags Gemüt und Geist gleicherweise erquickt., Kein Geringerer als Jakob Grimm war es, der von Andersens Märchen sagte, daß viele davon ins Volk übergehen und zu wirklichen Volksmärchen werden würden. Auch schuf Andersen damit eine ganz neue Form, die vor ihm nicht da war, erwies also, auch hierin eine ausgesprochene Originalität. Wie ganz anders eigenartig und verschwenderisch- reich erscheint er als Märchenerzähler gegen Storm mit seinen drei einzig derAnempfindung abgerungenen ProdultenI Und was will es besagen, wenn Storm erklärt: eS komme ihm beim Lesen der Andersenschen Märchen immer so vor, als wenn der Dichter sich nur gro߬ mütig zur Fugend herabgelassen habe! Andersen trifft gerade den kindlichen Ton bewundernswert-mühelos, er erzählt nur ohne Anspruch frisch drauf los und ohne viel Brimborium darum zu machen. Daß er nicht den Ton der Grimmschen oder Bechsteinschen Märchen nachzuahmen sucht, ist ein Vorzug und! ein Zeichen seines echten KünstlertumS. Es war nicht sein Ton, und so vermied er ihn. Grimm und Bechstein erzählen ja nur — wenn auch höchst fein¬ fühlig — das wieder, was Jahrhunderte hin¬ durch von Mund zu Mund gegangen und sozusagen durch die Volksseele filtriert worden war. Diese Märchen bewußt nachzuahmen, würde so verkehrt sein, wie wenn ein Dichter der Jetztzeit — was allerdings vorkommt, dem Kundigen aber nur ein Lächeln ab¬ nötigt — ein „Lied im Volkston" dichtet. Und doch ist gerade in der Zeit, da Storm an Kuh und andere so stolz von seinem Märchenschaffen und geringschätzig von dem seiner Zeitgenossen schrieb, ein echter Märchen¬ dichter aufgetreten, der jene naive Empfin¬ dungsweise der Volksmärchenerzähler besaß und ihr kunstvoll Ausdruck zu geben verstand: Richard Leander. Sollte Storm die „Träume¬ reien an französischen Kaminen" — sie er¬ schienen im großen Kriegsjahr und wurden draußen im Felde verfaßt, daher ihr Titel — nie zu Gesicht bekommen haben? Wenn aber, wäre es denkbar, daß er ihren richtigen Wert nicht erkannt hätte? - Auch Viktor Blüthgens „Hesperiden" — erschienen 1878, aber schon Jahre vorher in Jugendblättern veröffentlicht — hätten einem so leidenschaftlichen Märchenliebhaber wie Storm eigentlich in die Hände kommen müssen. Das sind gleichfalls Erzeugnisse eines echten Märchendichters, der aus dem Vollen schöpft und in gar manchem seiner graziös-fein¬ fühligen, farbegesättigten Märchendichtungen die Gattung erweitert hat. Märchen wie „Allerseelennncht", „Der Totengräber" — um nur einige zu nennen — schreibt ihm keiner nach.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/385>, abgerufen am 29.12.2024.