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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

sich. Wie es bisher im Bilde nur die Wirk¬
lichkeit sah, so glaubt es jetzt selbst im Un¬
wirklichen, Abstrakten, in der Schrift, in irgend¬
welchen Zeichen ein Bild verborgen. In diesem
Stadium, erschüttert in dein Glauben an die
Realität, ja selbst an die Vollständigkeit seiner
Beobachtungen, ist es auch sonst jeder Täuschung
zugänglich: Man könnte in seiner Gegenwart
behaupten, den "schwarzen Mann" zu sehen,
und eS würde nicht daran zweifeln -- abgesehen
davon, ob es sich daraufhin selbst einbildete,
ihn zu erblicken oder nicht.

Doch mit dein letzten Beispiel kommen wir
noch zu einer anderen Seite, von der aus das
Kindlein gegen die Wirrnis ankämpfen muß.

In früher Zeit scheint ihm einmal keinerlei
Identität bewußt und jede Wiederholung oder
Vervielfältigung in Zeit und Raum etwas
Neues und Fürsichseiendes gewesen zu sein.
Es hatte eine sehr bevorzugte Freundin Hilde,
welche oftmals vor seinen Fenstern vorbeilief.
Natürlich erkannte es sie unter jedcrBedingung.
Eines Sonntagmorgens, das Kindlein war
etwa eindreiviertel Jahre alt, kam das kleine
Mädchen zweimal hintereinander, doch einmal
im gewohnten Alltagskleid, einmal im Sonn¬
tagsputz am Fenster vorüber, wo das Kindlein
stand; beim zweitenmal wendete es sich zu
uns und sagte: "Auch diese Hilde hab ich gern."
Ähnliche Beweise eines mangelndenJdentitäts-
begriffcS gab es uns damals noch öfter. Sein
frühzeitiges und exaktes Sprechen erleichterte
solche Beobachtungen ganz besonders.

Indessen scheint diese Trennung des Identi¬
schen schon eine höhere Stufe gegenüber einer
ersten Zeit gewesen zu sein, wo ihm alles,
was sich irgendwie ähnlich war, das gleiche
und nämliche schien. Es ist kein Zweifel, daß
dem einjährigen, eben stammelnden Kinde
jedes Pferd und jeder Hund, der ihm auf der
Straße begegnete, Pferd und Hund schlechtweg
schien, ohne Bezug auf Einheit oder Vielheit,
so wie für uns der reine Begriff außerhalb
der Zahl schwebt. So Pflegte es auch von
frühester Zeit an sämtliche Madonnen, Aphro¬
diten usw. im Zimmer, obwohl es jede ein¬
zelne für sich stets wiedererkannte, "Mama"
zu nennen, sie also mit seiner Mama begriff¬
lich zu identifizieren. (Eine wirkliche andere
Frau nannte es nie "Mama".) Und erst mit
dreieinhalb Jahren fing es an, jede dieser
Gestalten für sich "diese Mama", zum Unter¬

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schied von der einen zu nennen. Und nur
die Gewaltsamkeit, mit der es sich aus der
Empfindung einer allgemeinen Identität los¬
reißen mußte, erklärt mir den Nachdruck und
die Mühe, mit der eS das Wörtchen "diese"
spricht. Auch erklärt sich daraus die Über¬
stürzung in neuen Irrtum, indem es z. B. in
einem Bilderbuch, das fortlaufend die Ge¬
schichte eines Bären erzählt, noch mit drei¬
dreiviertel Jahren auf jeder Seite einen
anderen, "diesen Bären", zu finden glaubt.
Es will auseinander halten, ordnen, erkennen I
Übrigens ist es seltsam, wie sehr der Verlauf
der Erkenntnisentwicklung nach rechts und
links in Extreme abirre, bis er endlich eine
ruhige Bahn gewonnen halt

Doch nun, da das Kindlein dem Wirk¬
lichen schon auf der Spur ist, und die geister¬
hafte reine Welt des Auges ihm immer
wahrer wird, bemüht es sich mit stets ver¬
stärkter Energie, aller Täuschung zu entrinnen
und jedes Rätsel zu lösen. In der Tram¬
bahn von unseren: Hause wegfahrend, bemerkt
es staunend, daß die Häuser der Straße alle
zu unseren: Hause hinausliefen; aufs glitzernde
Bächlein deutend, fragt eS: "Ist das die
Spiegelsonne?" Und wo der Felsenvorsprung
die Flut des Baches bricht und das Kind wie
auf einer Brücke über den Wellen schwebt,
fragt es: "Wohin fließt der Fels? Hinauf
oder hinunter?" Oder indem es über die
Schatten der Baumstämme, die schwarz auf
dem Wege liegen, tritt, forscht es nach ihrer
Natur, denn es merkt bereits, daß, wo für
das Auge dieses Dunkle, Balkenartige ist, für
die Sohle nichts vorhanden ist. Zugleich
fragt es freiwillig nach der Zahl weniger
beisammenstehender Menschen oder Bäume,
und mit einem allgemeinen, unermüdlichen
"Warum? warum?" sucht es einzudringen
in das Innere jedes Seins und Geschehens,
um alles recht ans dem Chaos zu lösen, das
es solange und so geheimnisvoll umschlungen
Lrika Rheinsch- hielt.

Literatur

Zu "Storms Märchen". Der unlängst
in diesem Blatte veröffentlichte Aufsatz
W. Mühlners "Storms Märchen" gibt zu
einigen Betrachtungen über das Märchen über¬
haupt Anlaß, die hier mitzuteilen vielleicht
gestattet sein mag.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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sich. Wie es bisher im Bilde nur die Wirk¬
lichkeit sah, so glaubt es jetzt selbst im Un¬
wirklichen, Abstrakten, in der Schrift, in irgend¬
welchen Zeichen ein Bild verborgen. In diesem
Stadium, erschüttert in dein Glauben an die
Realität, ja selbst an die Vollständigkeit seiner
Beobachtungen, ist es auch sonst jeder Täuschung
zugänglich: Man könnte in seiner Gegenwart
behaupten, den „schwarzen Mann" zu sehen,
und eS würde nicht daran zweifeln — abgesehen
davon, ob es sich daraufhin selbst einbildete,
ihn zu erblicken oder nicht.

Doch mit dein letzten Beispiel kommen wir
noch zu einer anderen Seite, von der aus das
Kindlein gegen die Wirrnis ankämpfen muß.

In früher Zeit scheint ihm einmal keinerlei
Identität bewußt und jede Wiederholung oder
Vervielfältigung in Zeit und Raum etwas
Neues und Fürsichseiendes gewesen zu sein.
Es hatte eine sehr bevorzugte Freundin Hilde,
welche oftmals vor seinen Fenstern vorbeilief.
Natürlich erkannte es sie unter jedcrBedingung.
Eines Sonntagmorgens, das Kindlein war
etwa eindreiviertel Jahre alt, kam das kleine
Mädchen zweimal hintereinander, doch einmal
im gewohnten Alltagskleid, einmal im Sonn¬
tagsputz am Fenster vorüber, wo das Kindlein
stand; beim zweitenmal wendete es sich zu
uns und sagte: „Auch diese Hilde hab ich gern."
Ähnliche Beweise eines mangelndenJdentitäts-
begriffcS gab es uns damals noch öfter. Sein
frühzeitiges und exaktes Sprechen erleichterte
solche Beobachtungen ganz besonders.

Indessen scheint diese Trennung des Identi¬
schen schon eine höhere Stufe gegenüber einer
ersten Zeit gewesen zu sein, wo ihm alles,
was sich irgendwie ähnlich war, das gleiche
und nämliche schien. Es ist kein Zweifel, daß
dem einjährigen, eben stammelnden Kinde
jedes Pferd und jeder Hund, der ihm auf der
Straße begegnete, Pferd und Hund schlechtweg
schien, ohne Bezug auf Einheit oder Vielheit,
so wie für uns der reine Begriff außerhalb
der Zahl schwebt. So Pflegte es auch von
frühester Zeit an sämtliche Madonnen, Aphro¬
diten usw. im Zimmer, obwohl es jede ein¬
zelne für sich stets wiedererkannte, „Mama"
zu nennen, sie also mit seiner Mama begriff¬
lich zu identifizieren. (Eine wirkliche andere
Frau nannte es nie „Mama".) Und erst mit
dreieinhalb Jahren fing es an, jede dieser
Gestalten für sich „diese Mama", zum Unter¬

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schied von der einen zu nennen. Und nur
die Gewaltsamkeit, mit der es sich aus der
Empfindung einer allgemeinen Identität los¬
reißen mußte, erklärt mir den Nachdruck und
die Mühe, mit der eS das Wörtchen „diese"
spricht. Auch erklärt sich daraus die Über¬
stürzung in neuen Irrtum, indem es z. B. in
einem Bilderbuch, das fortlaufend die Ge¬
schichte eines Bären erzählt, noch mit drei¬
dreiviertel Jahren auf jeder Seite einen
anderen, „diesen Bären", zu finden glaubt.
Es will auseinander halten, ordnen, erkennen I
Übrigens ist es seltsam, wie sehr der Verlauf
der Erkenntnisentwicklung nach rechts und
links in Extreme abirre, bis er endlich eine
ruhige Bahn gewonnen halt

Doch nun, da das Kindlein dem Wirk¬
lichen schon auf der Spur ist, und die geister¬
hafte reine Welt des Auges ihm immer
wahrer wird, bemüht es sich mit stets ver¬
stärkter Energie, aller Täuschung zu entrinnen
und jedes Rätsel zu lösen. In der Tram¬
bahn von unseren: Hause wegfahrend, bemerkt
es staunend, daß die Häuser der Straße alle
zu unseren: Hause hinausliefen; aufs glitzernde
Bächlein deutend, fragt eS: „Ist das die
Spiegelsonne?" Und wo der Felsenvorsprung
die Flut des Baches bricht und das Kind wie
auf einer Brücke über den Wellen schwebt,
fragt es: „Wohin fließt der Fels? Hinauf
oder hinunter?" Oder indem es über die
Schatten der Baumstämme, die schwarz auf
dem Wege liegen, tritt, forscht es nach ihrer
Natur, denn es merkt bereits, daß, wo für
das Auge dieses Dunkle, Balkenartige ist, für
die Sohle nichts vorhanden ist. Zugleich
fragt es freiwillig nach der Zahl weniger
beisammenstehender Menschen oder Bäume,
und mit einem allgemeinen, unermüdlichen
„Warum? warum?" sucht es einzudringen
in das Innere jedes Seins und Geschehens,
um alles recht ans dem Chaos zu lösen, das
es solange und so geheimnisvoll umschlungen
Lrika Rheinsch- hielt.

Literatur

Zu „Storms Märchen". Der unlängst
in diesem Blatte veröffentlichte Aufsatz
W. Mühlners „Storms Märchen" gibt zu
einigen Betrachtungen über das Märchen über¬
haupt Anlaß, die hier mitzuteilen vielleicht
gestattet sein mag.

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[0384] Maßgebliches und Unmaßgebliches sich. Wie es bisher im Bilde nur die Wirk¬ lichkeit sah, so glaubt es jetzt selbst im Un¬ wirklichen, Abstrakten, in der Schrift, in irgend¬ welchen Zeichen ein Bild verborgen. In diesem Stadium, erschüttert in dein Glauben an die Realität, ja selbst an die Vollständigkeit seiner Beobachtungen, ist es auch sonst jeder Täuschung zugänglich: Man könnte in seiner Gegenwart behaupten, den „schwarzen Mann" zu sehen, und eS würde nicht daran zweifeln — abgesehen davon, ob es sich daraufhin selbst einbildete, ihn zu erblicken oder nicht. Doch mit dein letzten Beispiel kommen wir noch zu einer anderen Seite, von der aus das Kindlein gegen die Wirrnis ankämpfen muß. In früher Zeit scheint ihm einmal keinerlei Identität bewußt und jede Wiederholung oder Vervielfältigung in Zeit und Raum etwas Neues und Fürsichseiendes gewesen zu sein. Es hatte eine sehr bevorzugte Freundin Hilde, welche oftmals vor seinen Fenstern vorbeilief. Natürlich erkannte es sie unter jedcrBedingung. Eines Sonntagmorgens, das Kindlein war etwa eindreiviertel Jahre alt, kam das kleine Mädchen zweimal hintereinander, doch einmal im gewohnten Alltagskleid, einmal im Sonn¬ tagsputz am Fenster vorüber, wo das Kindlein stand; beim zweitenmal wendete es sich zu uns und sagte: „Auch diese Hilde hab ich gern." Ähnliche Beweise eines mangelndenJdentitäts- begriffcS gab es uns damals noch öfter. Sein frühzeitiges und exaktes Sprechen erleichterte solche Beobachtungen ganz besonders. Indessen scheint diese Trennung des Identi¬ schen schon eine höhere Stufe gegenüber einer ersten Zeit gewesen zu sein, wo ihm alles, was sich irgendwie ähnlich war, das gleiche und nämliche schien. Es ist kein Zweifel, daß dem einjährigen, eben stammelnden Kinde jedes Pferd und jeder Hund, der ihm auf der Straße begegnete, Pferd und Hund schlechtweg schien, ohne Bezug auf Einheit oder Vielheit, so wie für uns der reine Begriff außerhalb der Zahl schwebt. So Pflegte es auch von frühester Zeit an sämtliche Madonnen, Aphro¬ diten usw. im Zimmer, obwohl es jede ein¬ zelne für sich stets wiedererkannte, „Mama" zu nennen, sie also mit seiner Mama begriff¬ lich zu identifizieren. (Eine wirkliche andere Frau nannte es nie „Mama".) Und erst mit dreieinhalb Jahren fing es an, jede dieser Gestalten für sich „diese Mama", zum Unter¬ schied von der einen zu nennen. Und nur die Gewaltsamkeit, mit der es sich aus der Empfindung einer allgemeinen Identität los¬ reißen mußte, erklärt mir den Nachdruck und die Mühe, mit der eS das Wörtchen „diese" spricht. Auch erklärt sich daraus die Über¬ stürzung in neuen Irrtum, indem es z. B. in einem Bilderbuch, das fortlaufend die Ge¬ schichte eines Bären erzählt, noch mit drei¬ dreiviertel Jahren auf jeder Seite einen anderen, „diesen Bären", zu finden glaubt. Es will auseinander halten, ordnen, erkennen I Übrigens ist es seltsam, wie sehr der Verlauf der Erkenntnisentwicklung nach rechts und links in Extreme abirre, bis er endlich eine ruhige Bahn gewonnen halt Doch nun, da das Kindlein dem Wirk¬ lichen schon auf der Spur ist, und die geister¬ hafte reine Welt des Auges ihm immer wahrer wird, bemüht es sich mit stets ver¬ stärkter Energie, aller Täuschung zu entrinnen und jedes Rätsel zu lösen. In der Tram¬ bahn von unseren: Hause wegfahrend, bemerkt es staunend, daß die Häuser der Straße alle zu unseren: Hause hinausliefen; aufs glitzernde Bächlein deutend, fragt eS: „Ist das die Spiegelsonne?" Und wo der Felsenvorsprung die Flut des Baches bricht und das Kind wie auf einer Brücke über den Wellen schwebt, fragt es: „Wohin fließt der Fels? Hinauf oder hinunter?" Oder indem es über die Schatten der Baumstämme, die schwarz auf dem Wege liegen, tritt, forscht es nach ihrer Natur, denn es merkt bereits, daß, wo für das Auge dieses Dunkle, Balkenartige ist, für die Sohle nichts vorhanden ist. Zugleich fragt es freiwillig nach der Zahl weniger beisammenstehender Menschen oder Bäume, und mit einem allgemeinen, unermüdlichen „Warum? warum?" sucht es einzudringen in das Innere jedes Seins und Geschehens, um alles recht ans dem Chaos zu lösen, das es solange und so geheimnisvoll umschlungen Lrika Rheinsch- hielt. Literatur Zu „Storms Märchen". Der unlängst in diesem Blatte veröffentlichte Aufsatz W. Mühlners „Storms Märchen" gibt zu einigen Betrachtungen über das Märchen über¬ haupt Anlaß, die hier mitzuteilen vielleicht gestattet sein mag.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/384>, abgerufen am 01.01.2025.