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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

wirkliche, nur aufgehängt habe, es bittet
wiederholt um die goldenen Kugeln zum
Spielen. Nach und nach gereizt durch so viel
unbegreifliches Versagen unserseits, experi¬
mentiert es bewußt. Es fragt, warum die
Blumen an einer anderen Tapete nicht ver¬
welken; es bittet hartnäckig um einen Strauß
davon, und als wir ihm immer wieder sagen,
er sei ja gemalt, wird es endlich zornig und
ruft: "Er soll aber nicht gemalt seinl"

Endlich hat es begriffen, daß es mit den
gemalten Dingen eine besondere Bewandtnis
habe, daß man sie jedenfalls nicht bekommen
kann. Über einen Tierbilderbogen gebeugt,
fragt es oft, wo die Wohnungen dieser Tiere
seien, wo ihr Wald sei, und, wenn er nicht
da sei, wer sie aus ihrem Wald heraus
hierher gebracht habe. Und so bei den Blumen
der Tapete, wer sie dort angebracht habe,
und warum. Die dargestellten Dinge dünken
ihm nun nimmer in ihrem natürlichen Sein
befindlich, sondern verbannt, mit Gewalt an
den Ort des Bildes geschleppt. Sie erscheinen
ihm noch plastisch, aber -- nach einer viertel¬
jährigen Beobachtung entdeckte ich es erst --
sie scheinen ihm angeklebt I Das Wort "malen"
hatte eS sich offenbar als ankleben zurechtgelegt.
So wie ich das begriffen und das Zauber¬
wort gefunden habe, bedient auch das Kindlein
sich dieses Ausdrucks und fragt nun einfach
bei jedem Bilde, wer dieses Ding dahin
geklebt habe; daß eS dabei noch tausend
Ängste ausstehen muß, für Kinder, die ver¬
hungern müssen, für Buben, die ewig ge¬
prügelt werden, ist selbstverständlich. Und
schon greift es nach der Möglichkeit, dem
Bilde nicht ganz zu glauben und es für eine
flüchtigere Realität gegenüber der wahren,
beständigen zu halten. Das Struwwelpeter¬
bild (das ihm sehr unpädagvgischerweise in
die Hand fällt) mit den vom Brande allein
übrig gebliebenen Schuhen des unfolgsamen
kleinen P-mlinchens erfüllt es mit tiefem Ent¬
setzen; meinen Trost, daß das Paulinchen
jetzt nimmer verbrannt sei und in Wien wohne,
nimmt es bebend an, nichts ohne sich fest
borzunehmen (offenbar zur Kontrolle, ob das
Paulinchen nicht doch etwa verbrannt sei),
es nächstens in Wien zu besuchen. Solche
Auswege möchte es sich, mit dreieinhalb
Jahren, obgleich halb ungläubig, überall
suggerieren lassen, wo ihm die volle Realität

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einer Darstellung zu schrecklich wäre. Der
nächste Schritt ist eS nun, jedes Bild, sowie
auch jede Erzählung, durchaus nur als
Bericht eines wirklichen, nicht gerade in der
Vergangenheit liegenden Geschehens, als
Darstellung einer wirklichen, fernen Person
aufzufassen; damit aber wäre die Stufe, auf
welcher der ungebildete Geist mich des Er¬
wachsenen im allgemeinen steht, erreicht, der
auch jede Geschichte für wahr und jedes Bild
für ein Porträt hält, und, von der Forderung
dieser "Wahrhaftigkeit" aus, sich höchstens zu
der Kritik der "Verlogenheit", wenn ihm ein
Märchen gar zu bunt wird, aufschwingen
kann. Die Einsicht von der Idealität des
künstlerischen Gegenstandes kann also beim
Kinde schon nicht mehr durch bloßes natür¬
liches Reiferwerden, sondern nur durch Bildung
erlangt werden.

Indessen hat eS diesen Schritt noch nicht
getan; noch hält es die Abbildung selber lange
genug für plastische Wirklichkeit. Doch schon
scheint mir, als es dreidreiviertel Jahre zählt,
eine ganz leise Koketterie mit alten Irrtümern
darin zu liegen, wenn es, im Jubel über ein
neues Kleid mit einer Sternenborte, fragt:
"Woher hast du die Sternlein? Hast du sie
von: Himmel geholt?" Auch sieht man ihm
an, daß es eine Rekapitulation aus vielen
Belehrungen ist, wenn es endlich einmal beim
Anblick pulverisierter Bronze ausruft: "Das
ist gar kein wirkliches Gold, das ist nurFarbe-
goldl" Es ist, als wäre es einen: längst
gesuchten Betrug auf der Spur! Doch selbst
aus dieser Bemerkung läßt sich noch rückwärts
schließen, wie lange ihm jeder Anblick, z. B.
der eines goldenen Streifens, ein Plastisches
Gebilde bedeutete. Im Augenblick solcher Er¬
kenntnisse schießt es übrigens sofort über das
Ziel hinaus. Es hat ein Weißes Mützchen
mit einem von einer älteren Freundin schön
mit blauer Seide hiueingestickten Monogramm.
Man sagt ihm, daß diese Buchstaben seinen
Namen bedeuten. Das Kind, da es nun
einmal glaubt, daß Erwachsene auf Bildern
mancherlei sehen, was es nicht sieht, z. B. die
Enten des Jägers, behauptet von nun an,
im Mützchen sei ein blauer Adnlbert Sy. --
obwohl es in diese"? Fall doch wissen muß,
daß die Parallele zwischen Original und Mono¬
gramm nur eine abstrakte sein kann, von
Identität gar nicht zu reden. Es überstürzt

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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wirkliche, nur aufgehängt habe, es bittet
wiederholt um die goldenen Kugeln zum
Spielen. Nach und nach gereizt durch so viel
unbegreifliches Versagen unserseits, experi¬
mentiert es bewußt. Es fragt, warum die
Blumen an einer anderen Tapete nicht ver¬
welken; es bittet hartnäckig um einen Strauß
davon, und als wir ihm immer wieder sagen,
er sei ja gemalt, wird es endlich zornig und
ruft: „Er soll aber nicht gemalt seinl"

Endlich hat es begriffen, daß es mit den
gemalten Dingen eine besondere Bewandtnis
habe, daß man sie jedenfalls nicht bekommen
kann. Über einen Tierbilderbogen gebeugt,
fragt es oft, wo die Wohnungen dieser Tiere
seien, wo ihr Wald sei, und, wenn er nicht
da sei, wer sie aus ihrem Wald heraus
hierher gebracht habe. Und so bei den Blumen
der Tapete, wer sie dort angebracht habe,
und warum. Die dargestellten Dinge dünken
ihm nun nimmer in ihrem natürlichen Sein
befindlich, sondern verbannt, mit Gewalt an
den Ort des Bildes geschleppt. Sie erscheinen
ihm noch plastisch, aber — nach einer viertel¬
jährigen Beobachtung entdeckte ich es erst —
sie scheinen ihm angeklebt I Das Wort „malen"
hatte eS sich offenbar als ankleben zurechtgelegt.
So wie ich das begriffen und das Zauber¬
wort gefunden habe, bedient auch das Kindlein
sich dieses Ausdrucks und fragt nun einfach
bei jedem Bilde, wer dieses Ding dahin
geklebt habe; daß eS dabei noch tausend
Ängste ausstehen muß, für Kinder, die ver¬
hungern müssen, für Buben, die ewig ge¬
prügelt werden, ist selbstverständlich. Und
schon greift es nach der Möglichkeit, dem
Bilde nicht ganz zu glauben und es für eine
flüchtigere Realität gegenüber der wahren,
beständigen zu halten. Das Struwwelpeter¬
bild (das ihm sehr unpädagvgischerweise in
die Hand fällt) mit den vom Brande allein
übrig gebliebenen Schuhen des unfolgsamen
kleinen P-mlinchens erfüllt es mit tiefem Ent¬
setzen; meinen Trost, daß das Paulinchen
jetzt nimmer verbrannt sei und in Wien wohne,
nimmt es bebend an, nichts ohne sich fest
borzunehmen (offenbar zur Kontrolle, ob das
Paulinchen nicht doch etwa verbrannt sei),
es nächstens in Wien zu besuchen. Solche
Auswege möchte es sich, mit dreieinhalb
Jahren, obgleich halb ungläubig, überall
suggerieren lassen, wo ihm die volle Realität

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einer Darstellung zu schrecklich wäre. Der
nächste Schritt ist eS nun, jedes Bild, sowie
auch jede Erzählung, durchaus nur als
Bericht eines wirklichen, nicht gerade in der
Vergangenheit liegenden Geschehens, als
Darstellung einer wirklichen, fernen Person
aufzufassen; damit aber wäre die Stufe, auf
welcher der ungebildete Geist mich des Er¬
wachsenen im allgemeinen steht, erreicht, der
auch jede Geschichte für wahr und jedes Bild
für ein Porträt hält, und, von der Forderung
dieser „Wahrhaftigkeit" aus, sich höchstens zu
der Kritik der „Verlogenheit", wenn ihm ein
Märchen gar zu bunt wird, aufschwingen
kann. Die Einsicht von der Idealität des
künstlerischen Gegenstandes kann also beim
Kinde schon nicht mehr durch bloßes natür¬
liches Reiferwerden, sondern nur durch Bildung
erlangt werden.

Indessen hat eS diesen Schritt noch nicht
getan; noch hält es die Abbildung selber lange
genug für plastische Wirklichkeit. Doch schon
scheint mir, als es dreidreiviertel Jahre zählt,
eine ganz leise Koketterie mit alten Irrtümern
darin zu liegen, wenn es, im Jubel über ein
neues Kleid mit einer Sternenborte, fragt:
„Woher hast du die Sternlein? Hast du sie
von: Himmel geholt?" Auch sieht man ihm
an, daß es eine Rekapitulation aus vielen
Belehrungen ist, wenn es endlich einmal beim
Anblick pulverisierter Bronze ausruft: „Das
ist gar kein wirkliches Gold, das ist nurFarbe-
goldl" Es ist, als wäre es einen: längst
gesuchten Betrug auf der Spur! Doch selbst
aus dieser Bemerkung läßt sich noch rückwärts
schließen, wie lange ihm jeder Anblick, z. B.
der eines goldenen Streifens, ein Plastisches
Gebilde bedeutete. Im Augenblick solcher Er¬
kenntnisse schießt es übrigens sofort über das
Ziel hinaus. Es hat ein Weißes Mützchen
mit einem von einer älteren Freundin schön
mit blauer Seide hiueingestickten Monogramm.
Man sagt ihm, daß diese Buchstaben seinen
Namen bedeuten. Das Kind, da es nun
einmal glaubt, daß Erwachsene auf Bildern
mancherlei sehen, was es nicht sieht, z. B. die
Enten des Jägers, behauptet von nun an,
im Mützchen sei ein blauer Adnlbert Sy. —
obwohl es in diese»? Fall doch wissen muß,
daß die Parallele zwischen Original und Mono¬
gramm nur eine abstrakte sein kann, von
Identität gar nicht zu reden. Es überstürzt

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[0383] Maßgebliches und Unmaßgebliches wirkliche, nur aufgehängt habe, es bittet wiederholt um die goldenen Kugeln zum Spielen. Nach und nach gereizt durch so viel unbegreifliches Versagen unserseits, experi¬ mentiert es bewußt. Es fragt, warum die Blumen an einer anderen Tapete nicht ver¬ welken; es bittet hartnäckig um einen Strauß davon, und als wir ihm immer wieder sagen, er sei ja gemalt, wird es endlich zornig und ruft: „Er soll aber nicht gemalt seinl" Endlich hat es begriffen, daß es mit den gemalten Dingen eine besondere Bewandtnis habe, daß man sie jedenfalls nicht bekommen kann. Über einen Tierbilderbogen gebeugt, fragt es oft, wo die Wohnungen dieser Tiere seien, wo ihr Wald sei, und, wenn er nicht da sei, wer sie aus ihrem Wald heraus hierher gebracht habe. Und so bei den Blumen der Tapete, wer sie dort angebracht habe, und warum. Die dargestellten Dinge dünken ihm nun nimmer in ihrem natürlichen Sein befindlich, sondern verbannt, mit Gewalt an den Ort des Bildes geschleppt. Sie erscheinen ihm noch plastisch, aber — nach einer viertel¬ jährigen Beobachtung entdeckte ich es erst — sie scheinen ihm angeklebt I Das Wort „malen" hatte eS sich offenbar als ankleben zurechtgelegt. So wie ich das begriffen und das Zauber¬ wort gefunden habe, bedient auch das Kindlein sich dieses Ausdrucks und fragt nun einfach bei jedem Bilde, wer dieses Ding dahin geklebt habe; daß eS dabei noch tausend Ängste ausstehen muß, für Kinder, die ver¬ hungern müssen, für Buben, die ewig ge¬ prügelt werden, ist selbstverständlich. Und schon greift es nach der Möglichkeit, dem Bilde nicht ganz zu glauben und es für eine flüchtigere Realität gegenüber der wahren, beständigen zu halten. Das Struwwelpeter¬ bild (das ihm sehr unpädagvgischerweise in die Hand fällt) mit den vom Brande allein übrig gebliebenen Schuhen des unfolgsamen kleinen P-mlinchens erfüllt es mit tiefem Ent¬ setzen; meinen Trost, daß das Paulinchen jetzt nimmer verbrannt sei und in Wien wohne, nimmt es bebend an, nichts ohne sich fest borzunehmen (offenbar zur Kontrolle, ob das Paulinchen nicht doch etwa verbrannt sei), es nächstens in Wien zu besuchen. Solche Auswege möchte es sich, mit dreieinhalb Jahren, obgleich halb ungläubig, überall suggerieren lassen, wo ihm die volle Realität einer Darstellung zu schrecklich wäre. Der nächste Schritt ist eS nun, jedes Bild, sowie auch jede Erzählung, durchaus nur als Bericht eines wirklichen, nicht gerade in der Vergangenheit liegenden Geschehens, als Darstellung einer wirklichen, fernen Person aufzufassen; damit aber wäre die Stufe, auf welcher der ungebildete Geist mich des Er¬ wachsenen im allgemeinen steht, erreicht, der auch jede Geschichte für wahr und jedes Bild für ein Porträt hält, und, von der Forderung dieser „Wahrhaftigkeit" aus, sich höchstens zu der Kritik der „Verlogenheit", wenn ihm ein Märchen gar zu bunt wird, aufschwingen kann. Die Einsicht von der Idealität des künstlerischen Gegenstandes kann also beim Kinde schon nicht mehr durch bloßes natür¬ liches Reiferwerden, sondern nur durch Bildung erlangt werden. Indessen hat eS diesen Schritt noch nicht getan; noch hält es die Abbildung selber lange genug für plastische Wirklichkeit. Doch schon scheint mir, als es dreidreiviertel Jahre zählt, eine ganz leise Koketterie mit alten Irrtümern darin zu liegen, wenn es, im Jubel über ein neues Kleid mit einer Sternenborte, fragt: „Woher hast du die Sternlein? Hast du sie von: Himmel geholt?" Auch sieht man ihm an, daß es eine Rekapitulation aus vielen Belehrungen ist, wenn es endlich einmal beim Anblick pulverisierter Bronze ausruft: „Das ist gar kein wirkliches Gold, das ist nurFarbe- goldl" Es ist, als wäre es einen: längst gesuchten Betrug auf der Spur! Doch selbst aus dieser Bemerkung läßt sich noch rückwärts schließen, wie lange ihm jeder Anblick, z. B. der eines goldenen Streifens, ein Plastisches Gebilde bedeutete. Im Augenblick solcher Er¬ kenntnisse schießt es übrigens sofort über das Ziel hinaus. Es hat ein Weißes Mützchen mit einem von einer älteren Freundin schön mit blauer Seide hiueingestickten Monogramm. Man sagt ihm, daß diese Buchstaben seinen Namen bedeuten. Das Kind, da es nun einmal glaubt, daß Erwachsene auf Bildern mancherlei sehen, was es nicht sieht, z. B. die Enten des Jägers, behauptet von nun an, im Mützchen sei ein blauer Adnlbert Sy. — obwohl es in diese»? Fall doch wissen muß, daß die Parallele zwischen Original und Mono¬ gramm nur eine abstrakte sein kann, von Identität gar nicht zu reden. Es überstürzt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/383>, abgerufen am 04.01.2025.