Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

alles zum Munde führen wollen, ist allgemein
bekannt, und zwar natürlich ebenso körperliche
Gegenstände als solche, die sich gar nicht greifen
lassen, z. B. einen Lichtreflex auf einem glänzen¬
den Bilderrahmen. Alles, was ist, muß ge¬
schmeckt werden können, so etwa empfindet die
kindliche Seele. Daß das Kind dabei die
Gegenstände, die es für Nahrung hält, auch
ergreifen muß, um sie in den Mund zu
bringen, ist nur eine nebensächliche Erfahrung,
die für seine Beziehung zur Welt noch nicht
wesentlich ist, sondern mechanischen und un¬
bewußten Charakter hat. Auch beobachtet man
bei ganz kleinen Kindern, etwa bis zu einem
halben Jahre, daß sie, wenn sie hungrig sind,
einfach das Mäulchen weit offenstehen lassen,
ohne daß etwas zum Ergreifen und Jn-den-
Mund-Führen da wäre. Daß aber das Kind
diesen Nahrungscharakter der Welt selbst in
etwas späterem Alter noch empfindet, dafür
habe ich in meiner eigenen Kinderstube den
Beweis erlangt, indem das kleine Söhnchen
zwischen eineinhalb und eindreiviertel Jahren,
obgleich es äußerlich schon auf der nächsten
Stufe stand und nichts UneßbareS mehr zum
Munde führte, doch unzweifelhaft verriet, daß
es innerlich noch jenes Weltbewußtsein des
Allschmeckbaren in sich trage. In meinem Buche
"Das Kindlein" (Frauenverlag, München-
Grünwald) steht darüber folgende kurze Be¬
merkung :

"Komisch verhielt sich das kleine Sternchen,
Wenn man es näher nach seiner Identität
ausforschen wollte. Wenn man etwa fragte:
.Sternchen, wo bist du?', so sagte es: ,Da
bin ich', und breitete seine Arme aus; wenn
man es aber näher anging, etwa: ,Wo ist
denn das Sternchen, wer ist es denn?', so
riß es, so weit es konnte, sein kleines Mäulchen
auf und zeigte mit dem Fingerchen hinein auf
die Zunge. Kein Zweifel, daß es sich selbst
als das schmeckende Ich einPfand, -- zum
Unterschied von einer späteren Zeit, wo es
vielleicht ohne Ziererei die Hand auf sein
klopfendes Herzlein legen wird."

Mit dem vollendeten zweiten Jahre des
Kindleins ging diese Art Weltbild, wo Schmeck¬
bares vorherrscht, auch innerlich, soweit es
sich erkennen ließ, vollständig verloren. Die
höheren Sinne, Auge und Ohr, waren nun
genügend geschärft, um im allgemeinen als
äußere Wegweiser zu dienen, und hatten eine

[Spaltenumbruch]

Finke von Erfahrungen in dem Kinde auf¬
gestapelt. Doch waren jene Erfahrungen, wie
eine unbekannte Bilderschrift, zum großen Teil
noch unentziffert; noch war das Tastgefühl
unendlich innig mit Gesicht und Gehör ver¬
kettet, und der Kampf, sich von ihnen ab¬
zuheben und endlich ganz loszulösen, füllte
in unermüdlichen kleinen täglichen und stünd¬
lichen Gefechten die nächsten zwei Lebensjahre
des Kindes aus. Am Anfang des dritten
Jahres wurde er noch stumm und mit völliger
Ohnmacht geführt. Es gab nur eine äußere
Wirklichkeit, nämlich die körperliche, tastbare,
und jede gegenteilige Erfahrung wurde völlig
ungläubig aufgenommen und einfach nicht
verwertet. Das Kind steckte sein Rüschen ins
Bilderbuch und bildete sich ein, an den Blumen
darinnen zu riechen; es verlangte die Uhr
von dem Plakat und merkte es sich nicht, daß
man sie ihm niemals geben konnte. Doch
endlich wurde es aufmerksam, und das Rätsel
der Abbildung beschäftigte eS zwischen zwei¬
einhalb und dreieinhalb Jahren in intensivem
Studium. Wo es nur ein Bild, ein Blatt
mit irgendwelchen Linien in die Hand bekam,
forschte eS dem Unbegreiflichen nach. Zuerst
nahm es ein Bild mit seinem ganzen Inhalt
noch als volle Wirklichkeit, doch fiel ihm ihre
Beschränktheit auf. Auf einem Bilde war ein
Wald, ein Wolf darin und im Hintergrund
ein Jäger. Es wunderte sich, warum der
Wolf nie fortginge, der Jäger nie schösse.
Auf einem anderen Bilde schoß ein Jäger,
am Sumpfe stehend, seine Flinte ab; wir
sagten ihm, er ziele auf Enten. "Wo sind
die Enten, ich sehe sie nicht!" Es wendet das
Blatt um, -- da 'sind die Enten auch nicht.
Von nun an dreht es alle Bilder um. ES
fällt ihm aus, daß die Personen im Profil
nur ein Auge haben, daß vielen ein Arm
oder ein Bein fehlt. Ein Hund mit versteckten
Pfoten wurde deshalb lange von ihm mit
tiefstem Mitleid bedauert. Daß wir ihm
sagen, diese Gliedmaßen fehlten nicht, sie seien
nur unsichtbar, nimmt es dafür, sie seien
irgendwo versteckt, und es findet nun des
Suchens und Wendens erst recht kein Ende.
Das Zimmer wird frisch gemalt, mit goldenen
Festons am oberen Fries, mit einem Lorbeer¬
kranz und goldenen Beeren an der Decke.
Es schaut dem Maler bei seiner Arbeit zu
und ist trotzdem überzeugt, daß er die Kränze,

[Ende Spaltensatz]
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

alles zum Munde führen wollen, ist allgemein
bekannt, und zwar natürlich ebenso körperliche
Gegenstände als solche, die sich gar nicht greifen
lassen, z. B. einen Lichtreflex auf einem glänzen¬
den Bilderrahmen. Alles, was ist, muß ge¬
schmeckt werden können, so etwa empfindet die
kindliche Seele. Daß das Kind dabei die
Gegenstände, die es für Nahrung hält, auch
ergreifen muß, um sie in den Mund zu
bringen, ist nur eine nebensächliche Erfahrung,
die für seine Beziehung zur Welt noch nicht
wesentlich ist, sondern mechanischen und un¬
bewußten Charakter hat. Auch beobachtet man
bei ganz kleinen Kindern, etwa bis zu einem
halben Jahre, daß sie, wenn sie hungrig sind,
einfach das Mäulchen weit offenstehen lassen,
ohne daß etwas zum Ergreifen und Jn-den-
Mund-Führen da wäre. Daß aber das Kind
diesen Nahrungscharakter der Welt selbst in
etwas späterem Alter noch empfindet, dafür
habe ich in meiner eigenen Kinderstube den
Beweis erlangt, indem das kleine Söhnchen
zwischen eineinhalb und eindreiviertel Jahren,
obgleich es äußerlich schon auf der nächsten
Stufe stand und nichts UneßbareS mehr zum
Munde führte, doch unzweifelhaft verriet, daß
es innerlich noch jenes Weltbewußtsein des
Allschmeckbaren in sich trage. In meinem Buche
„Das Kindlein" (Frauenverlag, München-
Grünwald) steht darüber folgende kurze Be¬
merkung :

„Komisch verhielt sich das kleine Sternchen,
Wenn man es näher nach seiner Identität
ausforschen wollte. Wenn man etwa fragte:
.Sternchen, wo bist du?', so sagte es: ,Da
bin ich', und breitete seine Arme aus; wenn
man es aber näher anging, etwa: ,Wo ist
denn das Sternchen, wer ist es denn?', so
riß es, so weit es konnte, sein kleines Mäulchen
auf und zeigte mit dem Fingerchen hinein auf
die Zunge. Kein Zweifel, daß es sich selbst
als das schmeckende Ich einPfand, — zum
Unterschied von einer späteren Zeit, wo es
vielleicht ohne Ziererei die Hand auf sein
klopfendes Herzlein legen wird."

Mit dem vollendeten zweiten Jahre des
Kindleins ging diese Art Weltbild, wo Schmeck¬
bares vorherrscht, auch innerlich, soweit es
sich erkennen ließ, vollständig verloren. Die
höheren Sinne, Auge und Ohr, waren nun
genügend geschärft, um im allgemeinen als
äußere Wegweiser zu dienen, und hatten eine

[Spaltenumbruch]

Finke von Erfahrungen in dem Kinde auf¬
gestapelt. Doch waren jene Erfahrungen, wie
eine unbekannte Bilderschrift, zum großen Teil
noch unentziffert; noch war das Tastgefühl
unendlich innig mit Gesicht und Gehör ver¬
kettet, und der Kampf, sich von ihnen ab¬
zuheben und endlich ganz loszulösen, füllte
in unermüdlichen kleinen täglichen und stünd¬
lichen Gefechten die nächsten zwei Lebensjahre
des Kindes aus. Am Anfang des dritten
Jahres wurde er noch stumm und mit völliger
Ohnmacht geführt. Es gab nur eine äußere
Wirklichkeit, nämlich die körperliche, tastbare,
und jede gegenteilige Erfahrung wurde völlig
ungläubig aufgenommen und einfach nicht
verwertet. Das Kind steckte sein Rüschen ins
Bilderbuch und bildete sich ein, an den Blumen
darinnen zu riechen; es verlangte die Uhr
von dem Plakat und merkte es sich nicht, daß
man sie ihm niemals geben konnte. Doch
endlich wurde es aufmerksam, und das Rätsel
der Abbildung beschäftigte eS zwischen zwei¬
einhalb und dreieinhalb Jahren in intensivem
Studium. Wo es nur ein Bild, ein Blatt
mit irgendwelchen Linien in die Hand bekam,
forschte eS dem Unbegreiflichen nach. Zuerst
nahm es ein Bild mit seinem ganzen Inhalt
noch als volle Wirklichkeit, doch fiel ihm ihre
Beschränktheit auf. Auf einem Bilde war ein
Wald, ein Wolf darin und im Hintergrund
ein Jäger. Es wunderte sich, warum der
Wolf nie fortginge, der Jäger nie schösse.
Auf einem anderen Bilde schoß ein Jäger,
am Sumpfe stehend, seine Flinte ab; wir
sagten ihm, er ziele auf Enten. „Wo sind
die Enten, ich sehe sie nicht!" Es wendet das
Blatt um, — da 'sind die Enten auch nicht.
Von nun an dreht es alle Bilder um. ES
fällt ihm aus, daß die Personen im Profil
nur ein Auge haben, daß vielen ein Arm
oder ein Bein fehlt. Ein Hund mit versteckten
Pfoten wurde deshalb lange von ihm mit
tiefstem Mitleid bedauert. Daß wir ihm
sagen, diese Gliedmaßen fehlten nicht, sie seien
nur unsichtbar, nimmt es dafür, sie seien
irgendwo versteckt, und es findet nun des
Suchens und Wendens erst recht kein Ende.
Das Zimmer wird frisch gemalt, mit goldenen
Festons am oberen Fries, mit einem Lorbeer¬
kranz und goldenen Beeren an der Decke.
Es schaut dem Maler bei seiner Arbeit zu
und ist trotzdem überzeugt, daß er die Kränze,

[Ende Spaltensatz]
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0382" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319329"/>
            <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
            <cb type="start"/>
            <p xml:id="ID_1906" prev="#ID_1905"> alles zum Munde führen wollen, ist allgemein<lb/>
bekannt, und zwar natürlich ebenso körperliche<lb/>
Gegenstände als solche, die sich gar nicht greifen<lb/>
lassen, z. B. einen Lichtreflex auf einem glänzen¬<lb/>
den Bilderrahmen. Alles, was ist, muß ge¬<lb/>
schmeckt werden können, so etwa empfindet die<lb/>
kindliche Seele. Daß das Kind dabei die<lb/>
Gegenstände, die es für Nahrung hält, auch<lb/>
ergreifen muß, um sie in den Mund zu<lb/>
bringen, ist nur eine nebensächliche Erfahrung,<lb/>
die für seine Beziehung zur Welt noch nicht<lb/>
wesentlich ist, sondern mechanischen und un¬<lb/>
bewußten Charakter hat. Auch beobachtet man<lb/>
bei ganz kleinen Kindern, etwa bis zu einem<lb/>
halben Jahre, daß sie, wenn sie hungrig sind,<lb/>
einfach das Mäulchen weit offenstehen lassen,<lb/>
ohne daß etwas zum Ergreifen und Jn-den-<lb/>
Mund-Führen da wäre. Daß aber das Kind<lb/>
diesen Nahrungscharakter der Welt selbst in<lb/>
etwas späterem Alter noch empfindet, dafür<lb/>
habe ich in meiner eigenen Kinderstube den<lb/>
Beweis erlangt, indem das kleine Söhnchen<lb/>
zwischen eineinhalb und eindreiviertel Jahren,<lb/>
obgleich es äußerlich schon auf der nächsten<lb/>
Stufe stand und nichts UneßbareS mehr zum<lb/>
Munde führte, doch unzweifelhaft verriet, daß<lb/>
es innerlich noch jenes Weltbewußtsein des<lb/>
Allschmeckbaren in sich trage. In meinem Buche<lb/>
&#x201E;Das Kindlein" (Frauenverlag, München-<lb/>
Grünwald) steht darüber folgende kurze Be¬<lb/>
merkung :</p>
            <p xml:id="ID_1907"> &#x201E;Komisch verhielt sich das kleine Sternchen,<lb/>
Wenn man es näher nach seiner Identität<lb/>
ausforschen wollte. Wenn man etwa fragte:<lb/>
.Sternchen, wo bist du?', so sagte es: ,Da<lb/>
bin ich', und breitete seine Arme aus; wenn<lb/>
man es aber näher anging, etwa: ,Wo ist<lb/>
denn das Sternchen, wer ist es denn?', so<lb/>
riß es, so weit es konnte, sein kleines Mäulchen<lb/>
auf und zeigte mit dem Fingerchen hinein auf<lb/>
die Zunge. Kein Zweifel, daß es sich selbst<lb/>
als das schmeckende Ich einPfand, &#x2014; zum<lb/>
Unterschied von einer späteren Zeit, wo es<lb/>
vielleicht ohne Ziererei die Hand auf sein<lb/>
klopfendes Herzlein legen wird."</p>
            <p xml:id="ID_1908" next="#ID_1909"> Mit dem vollendeten zweiten Jahre des<lb/>
Kindleins ging diese Art Weltbild, wo Schmeck¬<lb/>
bares vorherrscht, auch innerlich, soweit es<lb/>
sich erkennen ließ, vollständig verloren. Die<lb/>
höheren Sinne, Auge und Ohr, waren nun<lb/>
genügend geschärft, um im allgemeinen als<lb/>
äußere Wegweiser zu dienen, und hatten eine</p>
            <cb/><lb/>
            <p xml:id="ID_1909" prev="#ID_1908" next="#ID_1910"> Finke von Erfahrungen in dem Kinde auf¬<lb/>
gestapelt. Doch waren jene Erfahrungen, wie<lb/>
eine unbekannte Bilderschrift, zum großen Teil<lb/>
noch unentziffert; noch war das Tastgefühl<lb/>
unendlich innig mit Gesicht und Gehör ver¬<lb/>
kettet, und der Kampf, sich von ihnen ab¬<lb/>
zuheben und endlich ganz loszulösen, füllte<lb/>
in unermüdlichen kleinen täglichen und stünd¬<lb/>
lichen Gefechten die nächsten zwei Lebensjahre<lb/>
des Kindes aus. Am Anfang des dritten<lb/>
Jahres wurde er noch stumm und mit völliger<lb/>
Ohnmacht geführt. Es gab nur eine äußere<lb/>
Wirklichkeit, nämlich die körperliche, tastbare,<lb/>
und jede gegenteilige Erfahrung wurde völlig<lb/>
ungläubig aufgenommen und einfach nicht<lb/>
verwertet. Das Kind steckte sein Rüschen ins<lb/>
Bilderbuch und bildete sich ein, an den Blumen<lb/>
darinnen zu riechen; es verlangte die Uhr<lb/>
von dem Plakat und merkte es sich nicht, daß<lb/>
man sie ihm niemals geben konnte. Doch<lb/>
endlich wurde es aufmerksam, und das Rätsel<lb/>
der Abbildung beschäftigte eS zwischen zwei¬<lb/>
einhalb und dreieinhalb Jahren in intensivem<lb/>
Studium. Wo es nur ein Bild, ein Blatt<lb/>
mit irgendwelchen Linien in die Hand bekam,<lb/>
forschte eS dem Unbegreiflichen nach. Zuerst<lb/>
nahm es ein Bild mit seinem ganzen Inhalt<lb/>
noch als volle Wirklichkeit, doch fiel ihm ihre<lb/>
Beschränktheit auf. Auf einem Bilde war ein<lb/>
Wald, ein Wolf darin und im Hintergrund<lb/>
ein Jäger. Es wunderte sich, warum der<lb/>
Wolf nie fortginge, der Jäger nie schösse.<lb/>
Auf einem anderen Bilde schoß ein Jäger,<lb/>
am Sumpfe stehend, seine Flinte ab; wir<lb/>
sagten ihm, er ziele auf Enten. &#x201E;Wo sind<lb/>
die Enten, ich sehe sie nicht!" Es wendet das<lb/>
Blatt um, &#x2014; da 'sind die Enten auch nicht.<lb/>
Von nun an dreht es alle Bilder um. ES<lb/>
fällt ihm aus, daß die Personen im Profil<lb/>
nur ein Auge haben, daß vielen ein Arm<lb/>
oder ein Bein fehlt. Ein Hund mit versteckten<lb/>
Pfoten wurde deshalb lange von ihm mit<lb/>
tiefstem Mitleid bedauert. Daß wir ihm<lb/>
sagen, diese Gliedmaßen fehlten nicht, sie seien<lb/>
nur unsichtbar, nimmt es dafür, sie seien<lb/>
irgendwo versteckt, und es findet nun des<lb/>
Suchens und Wendens erst recht kein Ende.<lb/>
Das Zimmer wird frisch gemalt, mit goldenen<lb/>
Festons am oberen Fries, mit einem Lorbeer¬<lb/>
kranz und goldenen Beeren an der Decke.<lb/>
Es schaut dem Maler bei seiner Arbeit zu<lb/>
und ist trotzdem überzeugt, daß er die Kränze,</p>
            <cb type="end"/><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0382] Maßgebliches und Unmaßgebliches alles zum Munde führen wollen, ist allgemein bekannt, und zwar natürlich ebenso körperliche Gegenstände als solche, die sich gar nicht greifen lassen, z. B. einen Lichtreflex auf einem glänzen¬ den Bilderrahmen. Alles, was ist, muß ge¬ schmeckt werden können, so etwa empfindet die kindliche Seele. Daß das Kind dabei die Gegenstände, die es für Nahrung hält, auch ergreifen muß, um sie in den Mund zu bringen, ist nur eine nebensächliche Erfahrung, die für seine Beziehung zur Welt noch nicht wesentlich ist, sondern mechanischen und un¬ bewußten Charakter hat. Auch beobachtet man bei ganz kleinen Kindern, etwa bis zu einem halben Jahre, daß sie, wenn sie hungrig sind, einfach das Mäulchen weit offenstehen lassen, ohne daß etwas zum Ergreifen und Jn-den- Mund-Führen da wäre. Daß aber das Kind diesen Nahrungscharakter der Welt selbst in etwas späterem Alter noch empfindet, dafür habe ich in meiner eigenen Kinderstube den Beweis erlangt, indem das kleine Söhnchen zwischen eineinhalb und eindreiviertel Jahren, obgleich es äußerlich schon auf der nächsten Stufe stand und nichts UneßbareS mehr zum Munde führte, doch unzweifelhaft verriet, daß es innerlich noch jenes Weltbewußtsein des Allschmeckbaren in sich trage. In meinem Buche „Das Kindlein" (Frauenverlag, München- Grünwald) steht darüber folgende kurze Be¬ merkung : „Komisch verhielt sich das kleine Sternchen, Wenn man es näher nach seiner Identität ausforschen wollte. Wenn man etwa fragte: .Sternchen, wo bist du?', so sagte es: ,Da bin ich', und breitete seine Arme aus; wenn man es aber näher anging, etwa: ,Wo ist denn das Sternchen, wer ist es denn?', so riß es, so weit es konnte, sein kleines Mäulchen auf und zeigte mit dem Fingerchen hinein auf die Zunge. Kein Zweifel, daß es sich selbst als das schmeckende Ich einPfand, — zum Unterschied von einer späteren Zeit, wo es vielleicht ohne Ziererei die Hand auf sein klopfendes Herzlein legen wird." Mit dem vollendeten zweiten Jahre des Kindleins ging diese Art Weltbild, wo Schmeck¬ bares vorherrscht, auch innerlich, soweit es sich erkennen ließ, vollständig verloren. Die höheren Sinne, Auge und Ohr, waren nun genügend geschärft, um im allgemeinen als äußere Wegweiser zu dienen, und hatten eine Finke von Erfahrungen in dem Kinde auf¬ gestapelt. Doch waren jene Erfahrungen, wie eine unbekannte Bilderschrift, zum großen Teil noch unentziffert; noch war das Tastgefühl unendlich innig mit Gesicht und Gehör ver¬ kettet, und der Kampf, sich von ihnen ab¬ zuheben und endlich ganz loszulösen, füllte in unermüdlichen kleinen täglichen und stünd¬ lichen Gefechten die nächsten zwei Lebensjahre des Kindes aus. Am Anfang des dritten Jahres wurde er noch stumm und mit völliger Ohnmacht geführt. Es gab nur eine äußere Wirklichkeit, nämlich die körperliche, tastbare, und jede gegenteilige Erfahrung wurde völlig ungläubig aufgenommen und einfach nicht verwertet. Das Kind steckte sein Rüschen ins Bilderbuch und bildete sich ein, an den Blumen darinnen zu riechen; es verlangte die Uhr von dem Plakat und merkte es sich nicht, daß man sie ihm niemals geben konnte. Doch endlich wurde es aufmerksam, und das Rätsel der Abbildung beschäftigte eS zwischen zwei¬ einhalb und dreieinhalb Jahren in intensivem Studium. Wo es nur ein Bild, ein Blatt mit irgendwelchen Linien in die Hand bekam, forschte eS dem Unbegreiflichen nach. Zuerst nahm es ein Bild mit seinem ganzen Inhalt noch als volle Wirklichkeit, doch fiel ihm ihre Beschränktheit auf. Auf einem Bilde war ein Wald, ein Wolf darin und im Hintergrund ein Jäger. Es wunderte sich, warum der Wolf nie fortginge, der Jäger nie schösse. Auf einem anderen Bilde schoß ein Jäger, am Sumpfe stehend, seine Flinte ab; wir sagten ihm, er ziele auf Enten. „Wo sind die Enten, ich sehe sie nicht!" Es wendet das Blatt um, — da 'sind die Enten auch nicht. Von nun an dreht es alle Bilder um. ES fällt ihm aus, daß die Personen im Profil nur ein Auge haben, daß vielen ein Arm oder ein Bein fehlt. Ein Hund mit versteckten Pfoten wurde deshalb lange von ihm mit tiefstem Mitleid bedauert. Daß wir ihm sagen, diese Gliedmaßen fehlten nicht, sie seien nur unsichtbar, nimmt es dafür, sie seien irgendwo versteckt, und es findet nun des Suchens und Wendens erst recht kein Ende. Das Zimmer wird frisch gemalt, mit goldenen Festons am oberen Fries, mit einem Lorbeer¬ kranz und goldenen Beeren an der Decke. Es schaut dem Maler bei seiner Arbeit zu und ist trotzdem überzeugt, daß er die Kränze,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/382
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/382>, abgerufen am 04.01.2025.