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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Über Wilhelm Vstwalds Aultnrxhilosophie

die Formen von Lebewesen durch die rein verstandesmäßige Geometrie begreifen
kann, so wenig kann überhaupt ein Organismus, ein Gewachsenes durch die Mittel
der reinen Logik begriffen werden. Damit fällt der Angriff auf die natürlichen
Sprachen; sie find gewachsen, geworden, also sind sie, ob sich ihre Existenz und
Beschaffenheit logisch rechtfertigen läßt oder nicht.

Der Feldzug, den Ostwald gegen die Sprachen führt, findet seine energetische
Begründung in der Kraftvergeudung, die er in der Erlernung fremder Sprachen
sieht. Der moderne Kulturmensch setzt allerdings einen großen Zeit- und Energie¬
aufwand an Sprachstudien; nach Ostwald wirken diese --- neben ihrer Über¬
flüssigkeit -- verdünnend. Hier haben wir den Ausgangspunkt seiner Schul¬
reformbestrebungen. Mit besonderem Haß, der hie und da geradezu fanatische
Formen annimmt"), verfolgt Ostwald das Studium der alten Sprachen.

Die Anklagen, die er gegen den übermäßigen Betrieb des Sprachenlernens
überhaupt erhebt, beruhen größtenteils auf der schon erörterten Behauptung von der
Unlogik der Sprachen. Im übrigen ist hier nicht der Ort, auf die Frage vom
Bildungswerte des Sprachunterrichts einzugehen, die auch außerhalb der Kreise
Ostwaldscher Anhänger umstritten ist. Nach Ostwald müßte die Mittelschule vom
Sprachunterricht befreit und dafür mit einem entsprechenden Maße naturwissen¬
schaftlichen und deutsch-literarisch-philosophischen Unterrichts bedacht werden.

Es steckt recht viel Beherzigenswertes in diesen Gedanken; wenn auch ihr
Urheber mit seiner unbedingten Verwerfung der Sprachstudien und seiner Bevor¬
zugung anderer Fächer weit über das Ziel hinausschießt, so wird sich eine künftige
Schulreform doch wohl -- wenn auch mit Maßen -- in ähnlicher Richtung
bewegen müssen, vielleicht auf dem Wege weitgehendster Wahlfreiheit der Fächer,
wodurch dann die ganz sprachunfähigen Köpfe, die Ostwald geneigt ist mit den
besten zu identifizieren, von der Qual der Grammatik befreit werden. Denn es
drängt doch heute alles nach der Richtung, daß wir nicht in der gleichmäßigen
Aneignung eines enzyklopädischen Wissens, sondern vielmehr in der Entwicklung
der im Menschen schlummernden Kräfte, die selten gleichmäßig verteilt sind, das
Ziel der Schule sehen. Ostwald geht so weit, daß er sagt: "Die großen Leistungen
auf allen Gebieten werden nicht von Leuten vollbracht, die allseitig und harmonisch
gebildet sind, sondern von einseitigen Menschen."

Hierin ist auch das Grundmotiv angeschlagen, das durch das ganze Buch
von den "Großen Männern" hindurchklingt.





") Ich denke hier namentlich um die den Verteidigern des humanistischen Gymnasiums
unterstellten hinterlistigen Beweggründe ("Fort. d. T." S. 536 f.). -- Ostwald hat
übrigens eine besondere Streitschrift "Wider das Schulelcnd" geschrieben, worin er seine
Anklagen und Reformpläne darlegt.
Über Wilhelm Vstwalds Aultnrxhilosophie

die Formen von Lebewesen durch die rein verstandesmäßige Geometrie begreifen
kann, so wenig kann überhaupt ein Organismus, ein Gewachsenes durch die Mittel
der reinen Logik begriffen werden. Damit fällt der Angriff auf die natürlichen
Sprachen; sie find gewachsen, geworden, also sind sie, ob sich ihre Existenz und
Beschaffenheit logisch rechtfertigen läßt oder nicht.

Der Feldzug, den Ostwald gegen die Sprachen führt, findet seine energetische
Begründung in der Kraftvergeudung, die er in der Erlernung fremder Sprachen
sieht. Der moderne Kulturmensch setzt allerdings einen großen Zeit- und Energie¬
aufwand an Sprachstudien; nach Ostwald wirken diese -— neben ihrer Über¬
flüssigkeit — verdünnend. Hier haben wir den Ausgangspunkt seiner Schul¬
reformbestrebungen. Mit besonderem Haß, der hie und da geradezu fanatische
Formen annimmt"), verfolgt Ostwald das Studium der alten Sprachen.

Die Anklagen, die er gegen den übermäßigen Betrieb des Sprachenlernens
überhaupt erhebt, beruhen größtenteils auf der schon erörterten Behauptung von der
Unlogik der Sprachen. Im übrigen ist hier nicht der Ort, auf die Frage vom
Bildungswerte des Sprachunterrichts einzugehen, die auch außerhalb der Kreise
Ostwaldscher Anhänger umstritten ist. Nach Ostwald müßte die Mittelschule vom
Sprachunterricht befreit und dafür mit einem entsprechenden Maße naturwissen¬
schaftlichen und deutsch-literarisch-philosophischen Unterrichts bedacht werden.

Es steckt recht viel Beherzigenswertes in diesen Gedanken; wenn auch ihr
Urheber mit seiner unbedingten Verwerfung der Sprachstudien und seiner Bevor¬
zugung anderer Fächer weit über das Ziel hinausschießt, so wird sich eine künftige
Schulreform doch wohl — wenn auch mit Maßen — in ähnlicher Richtung
bewegen müssen, vielleicht auf dem Wege weitgehendster Wahlfreiheit der Fächer,
wodurch dann die ganz sprachunfähigen Köpfe, die Ostwald geneigt ist mit den
besten zu identifizieren, von der Qual der Grammatik befreit werden. Denn es
drängt doch heute alles nach der Richtung, daß wir nicht in der gleichmäßigen
Aneignung eines enzyklopädischen Wissens, sondern vielmehr in der Entwicklung
der im Menschen schlummernden Kräfte, die selten gleichmäßig verteilt sind, das
Ziel der Schule sehen. Ostwald geht so weit, daß er sagt: „Die großen Leistungen
auf allen Gebieten werden nicht von Leuten vollbracht, die allseitig und harmonisch
gebildet sind, sondern von einseitigen Menschen."

Hierin ist auch das Grundmotiv angeschlagen, das durch das ganze Buch
von den „Großen Männern" hindurchklingt.





") Ich denke hier namentlich um die den Verteidigern des humanistischen Gymnasiums
unterstellten hinterlistigen Beweggründe („Fort. d. T." S. 536 f.). — Ostwald hat
übrigens eine besondere Streitschrift „Wider das Schulelcnd" geschrieben, worin er seine
Anklagen und Reformpläne darlegt.
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[0371] Über Wilhelm Vstwalds Aultnrxhilosophie die Formen von Lebewesen durch die rein verstandesmäßige Geometrie begreifen kann, so wenig kann überhaupt ein Organismus, ein Gewachsenes durch die Mittel der reinen Logik begriffen werden. Damit fällt der Angriff auf die natürlichen Sprachen; sie find gewachsen, geworden, also sind sie, ob sich ihre Existenz und Beschaffenheit logisch rechtfertigen läßt oder nicht. Der Feldzug, den Ostwald gegen die Sprachen führt, findet seine energetische Begründung in der Kraftvergeudung, die er in der Erlernung fremder Sprachen sieht. Der moderne Kulturmensch setzt allerdings einen großen Zeit- und Energie¬ aufwand an Sprachstudien; nach Ostwald wirken diese -— neben ihrer Über¬ flüssigkeit — verdünnend. Hier haben wir den Ausgangspunkt seiner Schul¬ reformbestrebungen. Mit besonderem Haß, der hie und da geradezu fanatische Formen annimmt"), verfolgt Ostwald das Studium der alten Sprachen. Die Anklagen, die er gegen den übermäßigen Betrieb des Sprachenlernens überhaupt erhebt, beruhen größtenteils auf der schon erörterten Behauptung von der Unlogik der Sprachen. Im übrigen ist hier nicht der Ort, auf die Frage vom Bildungswerte des Sprachunterrichts einzugehen, die auch außerhalb der Kreise Ostwaldscher Anhänger umstritten ist. Nach Ostwald müßte die Mittelschule vom Sprachunterricht befreit und dafür mit einem entsprechenden Maße naturwissen¬ schaftlichen und deutsch-literarisch-philosophischen Unterrichts bedacht werden. Es steckt recht viel Beherzigenswertes in diesen Gedanken; wenn auch ihr Urheber mit seiner unbedingten Verwerfung der Sprachstudien und seiner Bevor¬ zugung anderer Fächer weit über das Ziel hinausschießt, so wird sich eine künftige Schulreform doch wohl — wenn auch mit Maßen — in ähnlicher Richtung bewegen müssen, vielleicht auf dem Wege weitgehendster Wahlfreiheit der Fächer, wodurch dann die ganz sprachunfähigen Köpfe, die Ostwald geneigt ist mit den besten zu identifizieren, von der Qual der Grammatik befreit werden. Denn es drängt doch heute alles nach der Richtung, daß wir nicht in der gleichmäßigen Aneignung eines enzyklopädischen Wissens, sondern vielmehr in der Entwicklung der im Menschen schlummernden Kräfte, die selten gleichmäßig verteilt sind, das Ziel der Schule sehen. Ostwald geht so weit, daß er sagt: „Die großen Leistungen auf allen Gebieten werden nicht von Leuten vollbracht, die allseitig und harmonisch gebildet sind, sondern von einseitigen Menschen." Hierin ist auch das Grundmotiv angeschlagen, das durch das ganze Buch von den „Großen Männern" hindurchklingt. ") Ich denke hier namentlich um die den Verteidigern des humanistischen Gymnasiums unterstellten hinterlistigen Beweggründe („Fort. d. T." S. 536 f.). — Ostwald hat übrigens eine besondere Streitschrift „Wider das Schulelcnd" geschrieben, worin er seine Anklagen und Reformpläne darlegt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/371>, abgerufen am 29.12.2024.