Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.Reichsspiegel Der Sieg der doppelwährigen Politik der Päpste, die mit dem Truggold Heinrich Flach Freihandel oder Schutzzoll -- Wandel der Meinungen -- Notwendigkeit freiheitlicher Entwicklung -- Bucck über den Bund der Landwirte -- Stellung der Konservativen -- Die deutsche Industrie am Scheidewege Zu den am häufigsten gehörten Klagen über den Charakter des deutschen Reichsspiegel Der Sieg der doppelwährigen Politik der Päpste, die mit dem Truggold Heinrich Flach Freihandel oder Schutzzoll — Wandel der Meinungen — Notwendigkeit freiheitlicher Entwicklung — Bucck über den Bund der Landwirte — Stellung der Konservativen — Die deutsche Industrie am Scheidewege Zu den am häufigsten gehörten Klagen über den Charakter des deutschen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0339" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319286"/> <fw type="header" place="top"> Reichsspiegel</fw><lb/> <p xml:id="ID_1766"> Der Sieg der doppelwährigen Politik der Päpste, die mit dem Truggold<lb/> religiöser Wirksamkeit politische Macht einhandelt, ist in Deutschland in höchster<lb/> Vollendung erreicht worden, nachdem sich auch Andersgläubige aus politischen<lb/> Machtbestrebungen seinem Gedankeninhalt angepaßt haben. Denn ist es nicht<lb/> der höchste Triumph des Papsttums und zugleich die erschütterndste Tragik des<lb/> deutschen Volkes, daß die in den konservativen Reihen vereinigten Mitglieder der<lb/> evangelischen Kirche, obgleich aus dem Geiste des Lutherschen Kampfes für die<lb/> Wiederherstellung der organischen Entwicklung auch in den religiösen Gemein¬<lb/> schaften geboren, ihre geistige Verwandtschaft mit dem religiös und kirchlich un¬<lb/> fruchtbaren, aber politisch furchtbaren Zentrum betonen und im politischen Leben<lb/> auch wirksam gemacht haben. Die Führer der Katholikentage erkennen viel besser<lb/> das Wesen dieses politisch organisierten Katholizismus als die im politischen<lb/> Kampf erblindeten Nachkömmlinge des Protestantismus, jener großartigsten<lb/> Bewegung für die Geistesfreiheit. Graf Galen hat ausdrücklich einen größeren<lb/> Einfluß auf politischem Gebiet verlangt und Abgeordneter Marx forderte mit<lb/> Dringlichkeit die Abschaffung der ohnehin eng genug begrenzten Simultanschulen,<lb/> weil sie die Macht der Kirche zur Willensunterdrückung in Glaubenssachen nicht<lb/> mitmachen. Das alles sind politische Forderungen, nirgends ist ein Anhauch<lb/> religiöser oder sittlicher Bestrebungen, und dieses Ziel wird von den Kämpfern für<lb/> dos religiöse Prinzip der Entwicklung aus äußerlichen Berührungsmerkmalen noch<lb/> gefördert. Will man den Geist und die Wirkung der Katholikentage, den unheil¬<lb/> vollen Einfluß einer landfremden Comorra auf unser nationales Staatsleben<lb/> in seinem tiefsten Inhalt erfassen, so muß man seinen Blick durch die geschichtlichen<lb/> Erfahrungen schärfen und die Entwicklungsreihe der Machtkämpfe durch und für<lb/> das Papsttum von der Schwelle an durch die Jahrhunderte verfolgen, dann<lb/> gewinnt man auch ein Verständnis dafür, daß der Festzug in der ehrwürdig alten<lb/> Stadt am Rhein nichts anderes war als — ein neuer Römerzug.</p><lb/> <note type="byline"> Heinrich Flach</note><lb/> <note type="argument"> Freihandel oder Schutzzoll — Wandel der Meinungen — Notwendigkeit freiheitlicher<lb/> Entwicklung — Bucck über den Bund der Landwirte — Stellung der Konservativen —<lb/> Die deutsche Industrie am Scheidewege</note><lb/> <p xml:id="ID_1767" next="#ID_1768"> Zu den am häufigsten gehörten Klagen über den Charakter des deutschen<lb/> Volkes gehört die, daß der einzelne trotz des gesteigerten Selbstbewußtseins viel<lb/> zu viel von der Einwirkung des Staates erwartet und daß als erster Ruf in allen<lb/> Nöten und Sorgen des öffentlichen und des wirtschaftlichen Lebens gewöhnlich der<lb/> nach dem Eingreifen der Gesetzgebung ertönt. Das Gefühl der Gemeinsamkeit und<lb/> die Überzeugung, daß das Organ der Allgemeinheit, der Staat, überall fördernd<lb/> und schützend in Tätigkeit zu treten habe, ist eben so ziemlich Gemeingut aller<lb/> Vevölkerungsschichten geworden. Darauf beruht die ganze Sozialpolitik und ihr<lb/> fortgesetzter Ausbau, darauf beruht auch die seit Jahren von einer immer größeren<lb/> Wählerschar getragene Politik des Schutzes der nationalen Arbeit gegen aus¬<lb/> ländische Konkurrenz. Als Deutschland noch in unzählige Vaterländer geteilt war<lb/> und kein einheitliches, geschlossenes machtvolles Wirtschaftsgebiet vorhanden war.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0339]
Reichsspiegel
Der Sieg der doppelwährigen Politik der Päpste, die mit dem Truggold
religiöser Wirksamkeit politische Macht einhandelt, ist in Deutschland in höchster
Vollendung erreicht worden, nachdem sich auch Andersgläubige aus politischen
Machtbestrebungen seinem Gedankeninhalt angepaßt haben. Denn ist es nicht
der höchste Triumph des Papsttums und zugleich die erschütterndste Tragik des
deutschen Volkes, daß die in den konservativen Reihen vereinigten Mitglieder der
evangelischen Kirche, obgleich aus dem Geiste des Lutherschen Kampfes für die
Wiederherstellung der organischen Entwicklung auch in den religiösen Gemein¬
schaften geboren, ihre geistige Verwandtschaft mit dem religiös und kirchlich un¬
fruchtbaren, aber politisch furchtbaren Zentrum betonen und im politischen Leben
auch wirksam gemacht haben. Die Führer der Katholikentage erkennen viel besser
das Wesen dieses politisch organisierten Katholizismus als die im politischen
Kampf erblindeten Nachkömmlinge des Protestantismus, jener großartigsten
Bewegung für die Geistesfreiheit. Graf Galen hat ausdrücklich einen größeren
Einfluß auf politischem Gebiet verlangt und Abgeordneter Marx forderte mit
Dringlichkeit die Abschaffung der ohnehin eng genug begrenzten Simultanschulen,
weil sie die Macht der Kirche zur Willensunterdrückung in Glaubenssachen nicht
mitmachen. Das alles sind politische Forderungen, nirgends ist ein Anhauch
religiöser oder sittlicher Bestrebungen, und dieses Ziel wird von den Kämpfern für
dos religiöse Prinzip der Entwicklung aus äußerlichen Berührungsmerkmalen noch
gefördert. Will man den Geist und die Wirkung der Katholikentage, den unheil¬
vollen Einfluß einer landfremden Comorra auf unser nationales Staatsleben
in seinem tiefsten Inhalt erfassen, so muß man seinen Blick durch die geschichtlichen
Erfahrungen schärfen und die Entwicklungsreihe der Machtkämpfe durch und für
das Papsttum von der Schwelle an durch die Jahrhunderte verfolgen, dann
gewinnt man auch ein Verständnis dafür, daß der Festzug in der ehrwürdig alten
Stadt am Rhein nichts anderes war als — ein neuer Römerzug.
Heinrich Flach
Freihandel oder Schutzzoll — Wandel der Meinungen — Notwendigkeit freiheitlicher
Entwicklung — Bucck über den Bund der Landwirte — Stellung der Konservativen —
Die deutsche Industrie am Scheidewege
Zu den am häufigsten gehörten Klagen über den Charakter des deutschen
Volkes gehört die, daß der einzelne trotz des gesteigerten Selbstbewußtseins viel
zu viel von der Einwirkung des Staates erwartet und daß als erster Ruf in allen
Nöten und Sorgen des öffentlichen und des wirtschaftlichen Lebens gewöhnlich der
nach dem Eingreifen der Gesetzgebung ertönt. Das Gefühl der Gemeinsamkeit und
die Überzeugung, daß das Organ der Allgemeinheit, der Staat, überall fördernd
und schützend in Tätigkeit zu treten habe, ist eben so ziemlich Gemeingut aller
Vevölkerungsschichten geworden. Darauf beruht die ganze Sozialpolitik und ihr
fortgesetzter Ausbau, darauf beruht auch die seit Jahren von einer immer größeren
Wählerschar getragene Politik des Schutzes der nationalen Arbeit gegen aus¬
ländische Konkurrenz. Als Deutschland noch in unzählige Vaterländer geteilt war
und kein einheitliches, geschlossenes machtvolles Wirtschaftsgebiet vorhanden war.
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