Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.Die Bayreuther Festspiele rätselhafte Gralsbotin, deren Geheimnis zu lösen vor Wagner noch kein Dichter Das Erlösungsbedürfnis fanden wir schon im Ringe bei Wotan, wie überhaupt Es sei noch ein Beispiel sinnvoller Vertiefung eines überlieferten Motives Ein anderer Zug germanischen Wesens, der im "Parsifal" und im "Ring" Frhr, v, Lichtenberg ") Dieses Jahr erscheint der sogenannte "Rote Führer durch Bayreuth" von Friedr, Mild, in
dem eine angebliche Erläuterung des Ringes steht. Die Auffassung des ganzen Werkes ist eine durch und durch moderne, grob materialistische, die von deutschen Idealismus und deutschem Mythos fern abliegt. Dementsprechend werden auch die gewagtesten Behauptungen nufgestellt, die mit dem wahren Inhalte des Werkes nichts zu tun haben. So hat nach diesem Führer (?) Siegmund seine Schwester roh vergewaltig!, und ein Notenbeispiel soll sogar ihren Entsetzensschrei vorfuhren! Ich möchte hiermit jeden warnen, sich durch Lesen dieser Schrift den Eindruck der Festspiele in widerlicher Weise beeinträchtigen zu lassen. Die Bayreuther Festspiele rätselhafte Gralsbotin, deren Geheimnis zu lösen vor Wagner noch kein Dichter Das Erlösungsbedürfnis fanden wir schon im Ringe bei Wotan, wie überhaupt Es sei noch ein Beispiel sinnvoller Vertiefung eines überlieferten Motives Ein anderer Zug germanischen Wesens, der im „Parsifal" und im „Ring" Frhr, v, Lichtenberg ") Dieses Jahr erscheint der sogenannte „Rote Führer durch Bayreuth" von Friedr, Mild, in
dem eine angebliche Erläuterung des Ringes steht. Die Auffassung des ganzen Werkes ist eine durch und durch moderne, grob materialistische, die von deutschen Idealismus und deutschem Mythos fern abliegt. Dementsprechend werden auch die gewagtesten Behauptungen nufgestellt, die mit dem wahren Inhalte des Werkes nichts zu tun haben. So hat nach diesem Führer (?) Siegmund seine Schwester roh vergewaltig!, und ein Notenbeispiel soll sogar ihren Entsetzensschrei vorfuhren! Ich möchte hiermit jeden warnen, sich durch Lesen dieser Schrift den Eindruck der Festspiele in widerlicher Weise beeinträchtigen zu lassen. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0329" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319276"/> <fw type="header" place="top"> Die Bayreuther Festspiele</fw><lb/> <p xml:id="ID_1733" prev="#ID_1732"> rätselhafte Gralsbotin, deren Geheimnis zu lösen vor Wagner noch kein Dichter<lb/> unternahm. Wagner aber verband sie mit zwei älteren mythischen und legendarischen<lb/> Zügen. Einmal dachte er Kundry als weibliches Gegenstück zu Ahasver, dem<lb/> ewigen Juden, und dann als die Herodias des Neuen Testamentes, die nach einer<lb/> Legende von dem abgeschlagenen Haupte Johannes des Täufers angeblasen wurde<lb/> und seitdem ruhelos auf Erden wandern muß. Aus ihrem Erlösungsbedürfnisse<lb/> heraus stellt sie sich in den Dienst des heiligen Grals, bis Parsifal mit seiner<lb/> großen Erlösungstat auch sie mit erlöst.")</p><lb/> <p xml:id="ID_1734"> Das Erlösungsbedürfnis fanden wir schon im Ringe bei Wotan, wie überhaupt<lb/> die Sehnsucht nach Erlösung und das Mitleid in allen Werken Wagners die<lb/> stärksten dichterischen Motive bilden. Jeder, der das Bühnenweihefestspiel „Parsifal"<lb/> erlebte, weiß, welch ungeheure Macht gerade dem Mitleid in diesem Werke<lb/> zukommt. Doch auch dieses Motiv finden wir bereits im Ringe vorbereitet. Zum<lb/> ersten Male tritt es auf bei der Todesverkündigung an Siegmund. Obwohl es<lb/> ihr Kummer und Trauer bereitet und sie wähnt, daß Wotan gegen sich selbst<lb/> onde, ist Brunhilde bereit, Siegmund im Kampfe zu fällen. Erst als beim Anblick<lb/> der schlafenden Brunhilde und des um sie so tiefbesorgten Siegmund das Mitleid<lb/> ihr Herz berührt, entschließt sie sich Siegmund zu retten. Freilich vergeblich. Und<lb/> Brunhilde ist es, die in der Götterdämmerung durch ihren freiwilligen Feuertod<lb/> und den dadurch bedingten, von Wotan aber bereits gewünschten Untergang<lb/> Walhalls bewirkt und dadurch, daß durch ihren Tod der unheilstiftende Ring an<lb/> die Rheintöchter zurückkehrt, die erste Erlösnngstat vollbringt. So greift in dem<lb/> gesamten Wirken Wagners durch alle Werke hindurch immer ein Motiv wunderbar<lb/> in das andere.</p><lb/> <p xml:id="ID_1735"> Es sei noch ein Beispiel sinnvoller Vertiefung eines überlieferten Motives<lb/> in einem Werke Wagners angeführt, das dieses Jahr in Bayreuth nicht<lb/> zur Darstellung gelangt. Es ist dies der Liebestrank in „Tristan und Isolde".<lb/> Bei Gottfried von Straßburg ist er ein einfaches, wirkliches Zaubermittel.<lb/> Wohl greift Brangäne auch nach dem Liebestranke, die Wirkung erklärt<lb/> sich aber psychologisch ganz anders. Isolde verlangte von Brangäne den Todes¬<lb/> trank. Sie und Tristan, die sich bereits lange uneingestcmden lieben, vermeinen<lb/> diesen Todestrank zu trinken und sich nun angesichts des Todes ihre Liebe endlich<lb/> gestehen zu dürfen. Von Zauberei in früherem Sinne ist also keine Spur zu<lb/> finden, sondern durch diese Auffassung werden alle folgenden Ereignisse in wunderbar<lb/> deutlicher Weise natürlich psychologisch begründet.</p><lb/> <p xml:id="ID_1736" next="#ID_1737"> Ein anderer Zug germanischen Wesens, der im „Parsifal" und im „Ring"<lb/> großartig zum Ausdrucke kommt, ist die den Germanen tief eingewurzelte Liebe</p><lb/> <note xml:id="FID_16" place="foot"> ") Dieses Jahr erscheint der sogenannte „Rote Führer durch Bayreuth" von Friedr, Mild, in<lb/> dem eine angebliche Erläuterung des Ringes steht. Die Auffassung des ganzen Werkes ist<lb/> eine durch und durch moderne, grob materialistische, die von deutschen Idealismus und<lb/> deutschem Mythos fern abliegt. Dementsprechend werden auch die gewagtesten Behauptungen<lb/> nufgestellt, die mit dem wahren Inhalte des Werkes nichts zu tun haben. So hat nach<lb/> diesem Führer (?) Siegmund seine Schwester roh vergewaltig!, und ein Notenbeispiel soll<lb/> sogar ihren Entsetzensschrei vorfuhren! Ich möchte hiermit jeden warnen, sich durch Lesen<lb/> dieser Schrift den Eindruck der Festspiele in widerlicher Weise beeinträchtigen zu lassen.</note><lb/> <note type="byline"> Frhr, v, Lichtenberg</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0329]
Die Bayreuther Festspiele
rätselhafte Gralsbotin, deren Geheimnis zu lösen vor Wagner noch kein Dichter
unternahm. Wagner aber verband sie mit zwei älteren mythischen und legendarischen
Zügen. Einmal dachte er Kundry als weibliches Gegenstück zu Ahasver, dem
ewigen Juden, und dann als die Herodias des Neuen Testamentes, die nach einer
Legende von dem abgeschlagenen Haupte Johannes des Täufers angeblasen wurde
und seitdem ruhelos auf Erden wandern muß. Aus ihrem Erlösungsbedürfnisse
heraus stellt sie sich in den Dienst des heiligen Grals, bis Parsifal mit seiner
großen Erlösungstat auch sie mit erlöst.")
Das Erlösungsbedürfnis fanden wir schon im Ringe bei Wotan, wie überhaupt
die Sehnsucht nach Erlösung und das Mitleid in allen Werken Wagners die
stärksten dichterischen Motive bilden. Jeder, der das Bühnenweihefestspiel „Parsifal"
erlebte, weiß, welch ungeheure Macht gerade dem Mitleid in diesem Werke
zukommt. Doch auch dieses Motiv finden wir bereits im Ringe vorbereitet. Zum
ersten Male tritt es auf bei der Todesverkündigung an Siegmund. Obwohl es
ihr Kummer und Trauer bereitet und sie wähnt, daß Wotan gegen sich selbst
onde, ist Brunhilde bereit, Siegmund im Kampfe zu fällen. Erst als beim Anblick
der schlafenden Brunhilde und des um sie so tiefbesorgten Siegmund das Mitleid
ihr Herz berührt, entschließt sie sich Siegmund zu retten. Freilich vergeblich. Und
Brunhilde ist es, die in der Götterdämmerung durch ihren freiwilligen Feuertod
und den dadurch bedingten, von Wotan aber bereits gewünschten Untergang
Walhalls bewirkt und dadurch, daß durch ihren Tod der unheilstiftende Ring an
die Rheintöchter zurückkehrt, die erste Erlösnngstat vollbringt. So greift in dem
gesamten Wirken Wagners durch alle Werke hindurch immer ein Motiv wunderbar
in das andere.
Es sei noch ein Beispiel sinnvoller Vertiefung eines überlieferten Motives
in einem Werke Wagners angeführt, das dieses Jahr in Bayreuth nicht
zur Darstellung gelangt. Es ist dies der Liebestrank in „Tristan und Isolde".
Bei Gottfried von Straßburg ist er ein einfaches, wirkliches Zaubermittel.
Wohl greift Brangäne auch nach dem Liebestranke, die Wirkung erklärt
sich aber psychologisch ganz anders. Isolde verlangte von Brangäne den Todes¬
trank. Sie und Tristan, die sich bereits lange uneingestcmden lieben, vermeinen
diesen Todestrank zu trinken und sich nun angesichts des Todes ihre Liebe endlich
gestehen zu dürfen. Von Zauberei in früherem Sinne ist also keine Spur zu
finden, sondern durch diese Auffassung werden alle folgenden Ereignisse in wunderbar
deutlicher Weise natürlich psychologisch begründet.
Ein anderer Zug germanischen Wesens, der im „Parsifal" und im „Ring"
großartig zum Ausdrucke kommt, ist die den Germanen tief eingewurzelte Liebe
Frhr, v, Lichtenberg
") Dieses Jahr erscheint der sogenannte „Rote Führer durch Bayreuth" von Friedr, Mild, in
dem eine angebliche Erläuterung des Ringes steht. Die Auffassung des ganzen Werkes ist
eine durch und durch moderne, grob materialistische, die von deutschen Idealismus und
deutschem Mythos fern abliegt. Dementsprechend werden auch die gewagtesten Behauptungen
nufgestellt, die mit dem wahren Inhalte des Werkes nichts zu tun haben. So hat nach
diesem Führer (?) Siegmund seine Schwester roh vergewaltig!, und ein Notenbeispiel soll
sogar ihren Entsetzensschrei vorfuhren! Ich möchte hiermit jeden warnen, sich durch Lesen
dieser Schrift den Eindruck der Festspiele in widerlicher Weise beeinträchtigen zu lassen.
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