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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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England

Schon seit geraumer Zeit schweben zwischen England und Rußland Ver¬
handlungen über die Abgrenzung von Einflußzonen in Persien oder, deutlicher
gesagt, über eine Austeilung dieses Staates, Verhandlungen, die auf beiden
Seiten von Einmischungen in die inneren Wirren Persiens begleitet sind. Zu
einem beide Teile befriedigenden Abkommen dürften diese Verhandlungen sobald
nicht führen, da England ganz Südpersien zur besseren Verteidigung Indiens
und als Sprungbrett zum Vorgehen gegen das türkische Mesopotamien benutzen
möchte, während Rußland letzten Endes einen Zugang zum Persischen Meer haben
will. Bei der gegenwärtigen politischen Weltlage wird die persische Frage
zunächst wohl offen bleiben; sie dürfte erst akut werden, wenn England sich
anderweitig ernstlich engagieren sollte. Rußland hat jedenfalls Zeit und kann
warten. Während früher die Erhaltung der Türkei England unbedingt not¬
wendig erschien, hat sich in den letzten Jahren trotz aller offiziösen Dementis
eine völlige Umkehrung der britischen Politik vorbereitet. Die Sorge um Auf¬
rechterhaltung der Dardcmellensperre ist in den Hintergrund getreten, seitdem
Österreich-Ungarn auf der Balkanhalbinsel festen Fuß gefaßt und sich die Balkan¬
staaten, namentlich Rumänien, nicht mehr so unbedingt abhängig von Rußland
fühlen wie früher, das Deutsche Reich ferner sowohl zu dem entthronten Sultan
AbdulHamid, als auch zu dem jungtürkischen Regiment freundschaftliche Beziehungen
unterhält. Während früher der jeweilige Sultan englischer Unterstützung gegen
einen russischen Angriff auf Konstantinopel sicher sein konnte und als still¬
schweigende Gegenleistung trotz aller territorialen Verluste, welche das türkische
Reich im vergangenen Jahrhundert erlitten hatte, von seiner politischen Macht
als Kauf aller Gläubigen keinen Gebrauch gemacht und damit dem englischen
Weltreich, welches über Millionen von Moslems herrschte, wertvolle
Dienste geleistet hatte, änderte sich in London anscheinend die Ansicht über
diese Interessengemeinschaft, nachdem Ägypten besetzt und allerdings Abdul
Hamid auch nicht ohne Erfolg eine panislamitische Bewegung hervorgerufen hatte.

Englische Staatskunst sieht seitdem die latente Abneigung der arabischen
Provinzen der Türkei--Syrien, Mesopotamien, die arabischen Randländer, nominell
Ägypten und Tripolis -- gegen die herrschenden Osmanen nicht ungern. Einen
Abfall dieser Provinzen von der Türkei und damit den Übergang des Kalifats
auf den Khedive von Ägypten oder den Großscherif von Mekka wird England
mit allen Mitteln unterstützen, um einmal diese Länder, deren politische Unab¬
hängigkeit ausgeschlossen ist, unter sein Protektorat zu nehmen, dann aber auch
einen lediglich von England abhängigen Kalifen zu gewinnen.

Diese Bestrebungen sind angesichts des Reformen des Islams nicht unzu¬
gänglichen jungtürkischen Regiments nicht ganz hoffnungslos. Der zum großen
Teil mit deutschem Kapital durchzuführende Bau der Bagdadbahn und die noch
nicht völlig fertiggestellte Mekkabahn drohen noch ein Hindernis für solche Pläne
zu werden, da die militärische Leistungsfähigkeit der Türkei auch in diesen
Ländern dadurch erheblich gestärkt wird (s. Grenzboten Ur. 19 von 1911).


England

Schon seit geraumer Zeit schweben zwischen England und Rußland Ver¬
handlungen über die Abgrenzung von Einflußzonen in Persien oder, deutlicher
gesagt, über eine Austeilung dieses Staates, Verhandlungen, die auf beiden
Seiten von Einmischungen in die inneren Wirren Persiens begleitet sind. Zu
einem beide Teile befriedigenden Abkommen dürften diese Verhandlungen sobald
nicht führen, da England ganz Südpersien zur besseren Verteidigung Indiens
und als Sprungbrett zum Vorgehen gegen das türkische Mesopotamien benutzen
möchte, während Rußland letzten Endes einen Zugang zum Persischen Meer haben
will. Bei der gegenwärtigen politischen Weltlage wird die persische Frage
zunächst wohl offen bleiben; sie dürfte erst akut werden, wenn England sich
anderweitig ernstlich engagieren sollte. Rußland hat jedenfalls Zeit und kann
warten. Während früher die Erhaltung der Türkei England unbedingt not¬
wendig erschien, hat sich in den letzten Jahren trotz aller offiziösen Dementis
eine völlige Umkehrung der britischen Politik vorbereitet. Die Sorge um Auf¬
rechterhaltung der Dardcmellensperre ist in den Hintergrund getreten, seitdem
Österreich-Ungarn auf der Balkanhalbinsel festen Fuß gefaßt und sich die Balkan¬
staaten, namentlich Rumänien, nicht mehr so unbedingt abhängig von Rußland
fühlen wie früher, das Deutsche Reich ferner sowohl zu dem entthronten Sultan
AbdulHamid, als auch zu dem jungtürkischen Regiment freundschaftliche Beziehungen
unterhält. Während früher der jeweilige Sultan englischer Unterstützung gegen
einen russischen Angriff auf Konstantinopel sicher sein konnte und als still¬
schweigende Gegenleistung trotz aller territorialen Verluste, welche das türkische
Reich im vergangenen Jahrhundert erlitten hatte, von seiner politischen Macht
als Kauf aller Gläubigen keinen Gebrauch gemacht und damit dem englischen
Weltreich, welches über Millionen von Moslems herrschte, wertvolle
Dienste geleistet hatte, änderte sich in London anscheinend die Ansicht über
diese Interessengemeinschaft, nachdem Ägypten besetzt und allerdings Abdul
Hamid auch nicht ohne Erfolg eine panislamitische Bewegung hervorgerufen hatte.

Englische Staatskunst sieht seitdem die latente Abneigung der arabischen
Provinzen der Türkei—Syrien, Mesopotamien, die arabischen Randländer, nominell
Ägypten und Tripolis — gegen die herrschenden Osmanen nicht ungern. Einen
Abfall dieser Provinzen von der Türkei und damit den Übergang des Kalifats
auf den Khedive von Ägypten oder den Großscherif von Mekka wird England
mit allen Mitteln unterstützen, um einmal diese Länder, deren politische Unab¬
hängigkeit ausgeschlossen ist, unter sein Protektorat zu nehmen, dann aber auch
einen lediglich von England abhängigen Kalifen zu gewinnen.

Diese Bestrebungen sind angesichts des Reformen des Islams nicht unzu¬
gänglichen jungtürkischen Regiments nicht ganz hoffnungslos. Der zum großen
Teil mit deutschem Kapital durchzuführende Bau der Bagdadbahn und die noch
nicht völlig fertiggestellte Mekkabahn drohen noch ein Hindernis für solche Pläne
zu werden, da die militärische Leistungsfähigkeit der Türkei auch in diesen
Ländern dadurch erheblich gestärkt wird (s. Grenzboten Ur. 19 von 1911).


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[0308] England Schon seit geraumer Zeit schweben zwischen England und Rußland Ver¬ handlungen über die Abgrenzung von Einflußzonen in Persien oder, deutlicher gesagt, über eine Austeilung dieses Staates, Verhandlungen, die auf beiden Seiten von Einmischungen in die inneren Wirren Persiens begleitet sind. Zu einem beide Teile befriedigenden Abkommen dürften diese Verhandlungen sobald nicht führen, da England ganz Südpersien zur besseren Verteidigung Indiens und als Sprungbrett zum Vorgehen gegen das türkische Mesopotamien benutzen möchte, während Rußland letzten Endes einen Zugang zum Persischen Meer haben will. Bei der gegenwärtigen politischen Weltlage wird die persische Frage zunächst wohl offen bleiben; sie dürfte erst akut werden, wenn England sich anderweitig ernstlich engagieren sollte. Rußland hat jedenfalls Zeit und kann warten. Während früher die Erhaltung der Türkei England unbedingt not¬ wendig erschien, hat sich in den letzten Jahren trotz aller offiziösen Dementis eine völlige Umkehrung der britischen Politik vorbereitet. Die Sorge um Auf¬ rechterhaltung der Dardcmellensperre ist in den Hintergrund getreten, seitdem Österreich-Ungarn auf der Balkanhalbinsel festen Fuß gefaßt und sich die Balkan¬ staaten, namentlich Rumänien, nicht mehr so unbedingt abhängig von Rußland fühlen wie früher, das Deutsche Reich ferner sowohl zu dem entthronten Sultan AbdulHamid, als auch zu dem jungtürkischen Regiment freundschaftliche Beziehungen unterhält. Während früher der jeweilige Sultan englischer Unterstützung gegen einen russischen Angriff auf Konstantinopel sicher sein konnte und als still¬ schweigende Gegenleistung trotz aller territorialen Verluste, welche das türkische Reich im vergangenen Jahrhundert erlitten hatte, von seiner politischen Macht als Kauf aller Gläubigen keinen Gebrauch gemacht und damit dem englischen Weltreich, welches über Millionen von Moslems herrschte, wertvolle Dienste geleistet hatte, änderte sich in London anscheinend die Ansicht über diese Interessengemeinschaft, nachdem Ägypten besetzt und allerdings Abdul Hamid auch nicht ohne Erfolg eine panislamitische Bewegung hervorgerufen hatte. Englische Staatskunst sieht seitdem die latente Abneigung der arabischen Provinzen der Türkei—Syrien, Mesopotamien, die arabischen Randländer, nominell Ägypten und Tripolis — gegen die herrschenden Osmanen nicht ungern. Einen Abfall dieser Provinzen von der Türkei und damit den Übergang des Kalifats auf den Khedive von Ägypten oder den Großscherif von Mekka wird England mit allen Mitteln unterstützen, um einmal diese Länder, deren politische Unab¬ hängigkeit ausgeschlossen ist, unter sein Protektorat zu nehmen, dann aber auch einen lediglich von England abhängigen Kalifen zu gewinnen. Diese Bestrebungen sind angesichts des Reformen des Islams nicht unzu¬ gänglichen jungtürkischen Regiments nicht ganz hoffnungslos. Der zum großen Teil mit deutschem Kapital durchzuführende Bau der Bagdadbahn und die noch nicht völlig fertiggestellte Mekkabahn drohen noch ein Hindernis für solche Pläne zu werden, da die militärische Leistungsfähigkeit der Türkei auch in diesen Ländern dadurch erheblich gestärkt wird (s. Grenzboten Ur. 19 von 1911).

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/308>, abgerufen am 04.01.2025.