Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.Reichsspiegel unablässig und sehr geschickt geführte Propaganda der Gebrüder Mannesmann Welches sind doch die wichtigsten Gründe, derentwegen wir nach Meinung Zunächst heißt es: wir bedürfen für unsern Bevölkerungsüberschuß Grenzboten III 1911 36
Reichsspiegel unablässig und sehr geschickt geführte Propaganda der Gebrüder Mannesmann Welches sind doch die wichtigsten Gründe, derentwegen wir nach Meinung Zunächst heißt es: wir bedürfen für unsern Bevölkerungsüberschuß Grenzboten III 1911 36
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Reichsspiegel
unablässig und sehr geschickt geführte Propaganda der Gebrüder Mannesmann
hat es verstanden, die Meinung zu verbreiten, als sei Marokko eine reife Frucht
am afrikanischen Baume, die dem Deutschen sogleich als Kolonie in den Schoß
fallen müsse, wenn er nur daran rüttele; die Marokkaner seien enthusiastische
Freunde der Deutschen, tief erbitterte Feinde der Franzosen; der deutsche Kauf¬
mann werde als Inbegriff aller Ehrlichkeit und Selbstlosigkeit geachtet; die
Konzessionen der Gebrüder Mannesmann sicherten der deutschen Industrie auf
ewig den Zutritt zu unerschöpflichen Eisenerzadern. Aus diesen aber nur unter
gewissen Voraussetzungen zutreffenden Tatsachen leiten nun die Altdeutschen
ihre Forderungen her: Südmarokko muß deutsche Kolonie, der Hafen von Agadir
deutscher Flottenstützpunkt werden, und sei es um den Preis eines Weltkrieges —
wohlgemerkt, eines Weltkrieges —, eines Krieges Deutschlands allein gegen
Frankreich, England und Rußland. Denn, da Deutschland bei der gerade vor¬
handenen Situation der Angreifer sein müßte — England denkt nicht daran,
zuerst loszuschlagen —, so wäre Rußland zur Mobilmachung gegen Deutschland
gezwungen, während Österreich und Italien sich auf fteundschaftliche Neutralität
beschränken dürften. Ich glaube, allein diese kurze Überlegung sollte es denen,
die sich als Führer der Nation gebärden, nahe legen, auf andere Mittel als
den Krieg zu sinnen. Aber ganz abgesehen von der augenblicklichen Konstellation
der Weltmächte, die eine geschickte Diplomatie oder auch eine Zufälligkeit über
Nacht ändern könnte, scheint mir der ganze Marokkohandel um seiner selbst willen
einen Krieg nicht wert.
Welches sind doch die wichtigsten Gründe, derentwegen wir nach Meinung
eines Teils der nationalen Politiker Marokko haben „müssen"?
Zunächst heißt es: wir bedürfen für unsern Bevölkerungsüberschuß
eines Kolonisationsgebiets. Hunderttausend Höfe deutscher Bauern im
fruchtbarsten Teil Marokkos machen das Land zu einem Neudeutschland von
ungeheurer politischer und wirtschaftlicher Kraft! Sehr gut! Doch wo sind die
hunderttausend Familien, die wir in absehbarer Zeit abgeben könnten? Die
Auswanderungsziffern Deutschlands sind auf ein solches Maß zurückgegangen,
daß wir in fünfzig Jahren keine zehntausend deutsche Familien nach Marokko
abgeben könnten, geschweige denn in absehbarer Zeit hunderttausend. Die
preußische Regierung weist auf den Mangel deutscher Bauern hin, um für ihre
neuerliche Ostmarkenpolitik einen Schein des Rechts zu gewinnen. Es handelt
sich hier also um ein Schlagwort, das sehr schön klingt, aber im übrigen
keinerlei Wert hat, es sei denn den, zur Verwirrung der Gemüter beizutragen.
Wenn freilich der Altdeutsche Verband dafür sorgen wollte, daß die deutschen
Bauern ihr Land an den Großgrundbesitz abtreten und daß dieser das frei¬
gewordene Land durch polnische und russische Arbeiter bestellen ließe, dann
wäre vielleicht die Besiedelung Marokkos in absehbarer Zeit zu erreichen. Anders
nicht. Was aber hätten wir, hätte das Deutschtum, der deutsche Staat damit
gewonnen? Im besten Falle gelänge es uns unter ganz außerordentlichen
Grenzboten III 1911 36
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