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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

Reichsspiegel
Auswärtige Politik

Schwierigkeiten in der Marokkofrage -- Forderungen der Nationalisten -- Unser
Bevölkerungsüberschuß -- Polonisierung Deutschlands durch die Altdeutschen -- Agadir
als Stützpunkt -- Die freie Hand -- Schürfrecht -- Polnischer Ausblick

Die Hauptschwierigkeit bei den Verhandlungen über eine weitere
Gestaltung der Marokkofrage lagen bisher weniger in den seitens der ver¬
handelnden Diplomaten gestellten Forderungen als in dem, was als Grundlage
für die Verhandlungen angesehen werden sollte. Es ist in zahlreichen Artikeln,
zuletzt in Ur. 31, der Grenzboten darauf hingewiesen worden, daß die französische
Marokkopolitik in den Händen des französischen Generalstabs liege und daß es
von dem Maß der Energie der nach Marokko abgesandten französischen Offiziere
abhänge, wie weit die nicht französischen, besonders die deutschen Kaufleute und
sonstigen Unternehmer sich einer gewissen Sicherheit ihrer Besitztitel erfreuen
können. Wie ferner aus vielen Mitteilungen von verschiedenen Seiten hervor¬
geht, war infolge der Rücksichtslosigkeit der Franzosen die Lage der deutschen
Gewerbetreibenden nachgerade unerträglich geworden, und das Aufatmen war
um so tiefer, als die Entsendung der deutschen Kriegsschiffe nach Agadir
Franzosen und Deutsche daran erinnerte, daß auch die Geduld der deutschen
Negierung Grenzen finden könne. Für unsere Diplomatie war es äußerst
schwierig, den geeigneten Zeitpunkt für die Aktion zu finden, es sei denn, daß
sie sich dem Odium aussetzte, einen Krieg vom Zaune brechen zu wollen. Der
Zeitpunkt war eingetreten, nachdem die Franzosen durch den Einmarsch in Fes
offenkundig gegen die Bestimmungen der Algecirasakte verstoßen hatten. Aus
den offiziösen Veröffentlichungen in Paris und Berlin scheint nun hervorzugehen,
daß der innere Grund für das Erscheinen der deutschen Kriegsschiffe an den
marokkanischen Küsten gegenstandslos geworden, mit anderen Worten, daß eine
Basis gefunden ist, von der aus einerseits die vorhandenen wirtschaftlichen
Interessen der Deutschen gesichert erscheinen und anderseits Garantien dafür
genommen werden können, um den friedlichen Wettbewerb der Deutschen mit
den Franzosen in Marokko auch in Zukunft zu gewährleisten. -- Wenn es der
deutschen Diplomatie tatsächlich gelungen sein sollte, die angedeutete Grundlage für
die weiteren Verhandlungen zu gewinnen, und daran ist nach den offiziösen
Veröffentlichungen kaum noch zu zweifeln, dann sollte man füglich nicht den
Vorwurf gegen sie erheben, sie sei vor den Forderungen Frankreichs und den
Drohungen Englands zurückgewichen. Der Vorwurf wäre aber um so weniger
begründet, wenn es außerdem noch gelungen sein sollte, für den tatsächlichen
Bruch der Algecirasakte von Frankreich die Aussicht auf eine Entschädigung
zu erhalten.

Die Mehrheit der deutschen Presse und ein großer Teil geachteter
nationaler Politiker hat sich auf einen anderen Standpunkt gestellt. Eine


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Auswärtige Politik

Schwierigkeiten in der Marokkofrage — Forderungen der Nationalisten — Unser
Bevölkerungsüberschuß — Polonisierung Deutschlands durch die Altdeutschen — Agadir
als Stützpunkt — Die freie Hand — Schürfrecht — Polnischer Ausblick

Die Hauptschwierigkeit bei den Verhandlungen über eine weitere
Gestaltung der Marokkofrage lagen bisher weniger in den seitens der ver¬
handelnden Diplomaten gestellten Forderungen als in dem, was als Grundlage
für die Verhandlungen angesehen werden sollte. Es ist in zahlreichen Artikeln,
zuletzt in Ur. 31, der Grenzboten darauf hingewiesen worden, daß die französische
Marokkopolitik in den Händen des französischen Generalstabs liege und daß es
von dem Maß der Energie der nach Marokko abgesandten französischen Offiziere
abhänge, wie weit die nicht französischen, besonders die deutschen Kaufleute und
sonstigen Unternehmer sich einer gewissen Sicherheit ihrer Besitztitel erfreuen
können. Wie ferner aus vielen Mitteilungen von verschiedenen Seiten hervor¬
geht, war infolge der Rücksichtslosigkeit der Franzosen die Lage der deutschen
Gewerbetreibenden nachgerade unerträglich geworden, und das Aufatmen war
um so tiefer, als die Entsendung der deutschen Kriegsschiffe nach Agadir
Franzosen und Deutsche daran erinnerte, daß auch die Geduld der deutschen
Negierung Grenzen finden könne. Für unsere Diplomatie war es äußerst
schwierig, den geeigneten Zeitpunkt für die Aktion zu finden, es sei denn, daß
sie sich dem Odium aussetzte, einen Krieg vom Zaune brechen zu wollen. Der
Zeitpunkt war eingetreten, nachdem die Franzosen durch den Einmarsch in Fes
offenkundig gegen die Bestimmungen der Algecirasakte verstoßen hatten. Aus
den offiziösen Veröffentlichungen in Paris und Berlin scheint nun hervorzugehen,
daß der innere Grund für das Erscheinen der deutschen Kriegsschiffe an den
marokkanischen Küsten gegenstandslos geworden, mit anderen Worten, daß eine
Basis gefunden ist, von der aus einerseits die vorhandenen wirtschaftlichen
Interessen der Deutschen gesichert erscheinen und anderseits Garantien dafür
genommen werden können, um den friedlichen Wettbewerb der Deutschen mit
den Franzosen in Marokko auch in Zukunft zu gewährleisten. — Wenn es der
deutschen Diplomatie tatsächlich gelungen sein sollte, die angedeutete Grundlage für
die weiteren Verhandlungen zu gewinnen, und daran ist nach den offiziösen
Veröffentlichungen kaum noch zu zweifeln, dann sollte man füglich nicht den
Vorwurf gegen sie erheben, sie sei vor den Forderungen Frankreichs und den
Drohungen Englands zurückgewichen. Der Vorwurf wäre aber um so weniger
begründet, wenn es außerdem noch gelungen sein sollte, für den tatsächlichen
Bruch der Algecirasakte von Frankreich die Aussicht auf eine Entschädigung
zu erhalten.

Die Mehrheit der deutschen Presse und ein großer Teil geachteter
nationaler Politiker hat sich auf einen anderen Standpunkt gestellt. Eine


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[0292] Reichsspiegel Reichsspiegel Auswärtige Politik Schwierigkeiten in der Marokkofrage — Forderungen der Nationalisten — Unser Bevölkerungsüberschuß — Polonisierung Deutschlands durch die Altdeutschen — Agadir als Stützpunkt — Die freie Hand — Schürfrecht — Polnischer Ausblick Die Hauptschwierigkeit bei den Verhandlungen über eine weitere Gestaltung der Marokkofrage lagen bisher weniger in den seitens der ver¬ handelnden Diplomaten gestellten Forderungen als in dem, was als Grundlage für die Verhandlungen angesehen werden sollte. Es ist in zahlreichen Artikeln, zuletzt in Ur. 31, der Grenzboten darauf hingewiesen worden, daß die französische Marokkopolitik in den Händen des französischen Generalstabs liege und daß es von dem Maß der Energie der nach Marokko abgesandten französischen Offiziere abhänge, wie weit die nicht französischen, besonders die deutschen Kaufleute und sonstigen Unternehmer sich einer gewissen Sicherheit ihrer Besitztitel erfreuen können. Wie ferner aus vielen Mitteilungen von verschiedenen Seiten hervor¬ geht, war infolge der Rücksichtslosigkeit der Franzosen die Lage der deutschen Gewerbetreibenden nachgerade unerträglich geworden, und das Aufatmen war um so tiefer, als die Entsendung der deutschen Kriegsschiffe nach Agadir Franzosen und Deutsche daran erinnerte, daß auch die Geduld der deutschen Negierung Grenzen finden könne. Für unsere Diplomatie war es äußerst schwierig, den geeigneten Zeitpunkt für die Aktion zu finden, es sei denn, daß sie sich dem Odium aussetzte, einen Krieg vom Zaune brechen zu wollen. Der Zeitpunkt war eingetreten, nachdem die Franzosen durch den Einmarsch in Fes offenkundig gegen die Bestimmungen der Algecirasakte verstoßen hatten. Aus den offiziösen Veröffentlichungen in Paris und Berlin scheint nun hervorzugehen, daß der innere Grund für das Erscheinen der deutschen Kriegsschiffe an den marokkanischen Küsten gegenstandslos geworden, mit anderen Worten, daß eine Basis gefunden ist, von der aus einerseits die vorhandenen wirtschaftlichen Interessen der Deutschen gesichert erscheinen und anderseits Garantien dafür genommen werden können, um den friedlichen Wettbewerb der Deutschen mit den Franzosen in Marokko auch in Zukunft zu gewährleisten. — Wenn es der deutschen Diplomatie tatsächlich gelungen sein sollte, die angedeutete Grundlage für die weiteren Verhandlungen zu gewinnen, und daran ist nach den offiziösen Veröffentlichungen kaum noch zu zweifeln, dann sollte man füglich nicht den Vorwurf gegen sie erheben, sie sei vor den Forderungen Frankreichs und den Drohungen Englands zurückgewichen. Der Vorwurf wäre aber um so weniger begründet, wenn es außerdem noch gelungen sein sollte, für den tatsächlichen Bruch der Algecirasakte von Frankreich die Aussicht auf eine Entschädigung zu erhalten. Die Mehrheit der deutschen Presse und ein großer Teil geachteter nationaler Politiker hat sich auf einen anderen Standpunkt gestellt. Eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/292>, abgerufen am 01.01.2025.