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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Opfern für das Kolonialhecr und die Marine, eine deutsche Kolonie zu schaffen,
die nach hundert Jahren ihre Unabhängigkeit von Deutschland erklärte, während
im deutschen Reichstag die Polen mit Erfolg für die Einführung der polnischen
Sprache als Amtssprache einträten. Denn -- ganz abgesehen von den Land¬
arbeitern -- in dem Maße, wie sich die deutsche Industrie dank billiger Erze
entwickeln sollte, in demselben Maße würde wieder der Zuzug slawischer
Arbeiter wachsen. Somit ist die Behauptung, wir brauchten Marokko als Ausfuhr¬
land für unsere Geburtenüberschüsse, nicht nur hinfällig, sondern sie bedeutet eine
Gefahr. Wir könnten Marokko nur unter Preisgabe der engeren Heimat kolonisieren.

Doch dahin würde es auch dann nicht kommen, wenn sich die Regierung
sür die altdeutsche Utopie begeistern wollte. Wenn Frankreich Marokko okku¬
pieren und festhalten kann, könnte es Deutschland auch dann nicht, wenn es
eine der englischen gleichwertige Flotte besäße. Ein Blick auf die Karte lehrt
es jeden Laien, daß gegen den Willen Frankreichs und Englands die Aufrecht¬
erhaltung einer Verbindung zwischen Wilhelmshafen und Agadir ein Ding der
Unmöglichkeit wäre. Das hat in einem lichten Augenblick selbst Herr Claas
eingesehen und die Folgerung gezogen, Deutschland müsse eben das Departe¬
ment Rhone in Besitz nehmen, um die direkte Verbindung zum Mittelmeer zu
gewinnen. (Leider ist der Satz, der diesen schönen Vorschlag enthält, nicht mit
in die Broschüre "Marokko deutsch" gelangt.) Damit fällt aber auch der
zweite Punkt der alldeutschen Forderungen in sich zusammen: Agadir als
Stützpunkt der deutschen Flotte. Der Gedanke ist an sich nicht schlecht,
und seine Durchführung wäre des Schweißes der Edlen wohl wert. Aber im
gegenwärtigen Zeitpunkte ist er schlechterdings nicht zu diskutieren. Frankreich
will Marokko in Besitz nehmen, und Deutschland hat keinen ausreichenden
praktischen Grund, es daran zu hindern. Darum erscheint die Politik die
tingere, die es Frankreich erleichtert, sein Ziel zu erreichen. Wollte Deutschland
heute mit Ansprüchen auf den Hafen von Agadir hervortreten, dann würde es
nur die Interessengemeinschaft zwischen Frankreich und England stärken und
sich selbst den Boden für praktische Verhandlungen verderben. Frankreich müßte
solchen Schritt in diesem Augenblick als gegen sich selbst gerichtet betrachten. Wozu
aber unnötig Mißtrauen säen, wo es gilt, vorhandenes zu beseitigen, und wo
möglicherweise der Augenblick einmal von selbst eintritt, in dem es sogar im
Interesse Frankreichs liegen könnte, den Hafen von Agadir deutschen Kriegs¬
schiffen zur Verfügung zu stellen? Die praktischen Verhandlungen haben sich
somit einzig und allein auf den dritten Punkt der deutschen Forderungen zu
konzentrieren: Sicherung der freien Hand für den deutschen Handel.
Man kann gerade im Hinblick hierauf mit dem Dichter sagen: "In der Be¬
schränkung zeigt sich erst der Meister." In Marokko handelt es sich für uns,
von den allgemeinen Gesichtspunkten abgesehen, in erster Linie um die Mutungs¬
rechte auf Erz. Kenner des Landes sind der Meinung, das marokkanische
Eisenerz sei ebenso wertvoll wie das schwedische und sei deshalb geeignet, dieses


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Opfern für das Kolonialhecr und die Marine, eine deutsche Kolonie zu schaffen,
die nach hundert Jahren ihre Unabhängigkeit von Deutschland erklärte, während
im deutschen Reichstag die Polen mit Erfolg für die Einführung der polnischen
Sprache als Amtssprache einträten. Denn — ganz abgesehen von den Land¬
arbeitern — in dem Maße, wie sich die deutsche Industrie dank billiger Erze
entwickeln sollte, in demselben Maße würde wieder der Zuzug slawischer
Arbeiter wachsen. Somit ist die Behauptung, wir brauchten Marokko als Ausfuhr¬
land für unsere Geburtenüberschüsse, nicht nur hinfällig, sondern sie bedeutet eine
Gefahr. Wir könnten Marokko nur unter Preisgabe der engeren Heimat kolonisieren.

Doch dahin würde es auch dann nicht kommen, wenn sich die Regierung
sür die altdeutsche Utopie begeistern wollte. Wenn Frankreich Marokko okku¬
pieren und festhalten kann, könnte es Deutschland auch dann nicht, wenn es
eine der englischen gleichwertige Flotte besäße. Ein Blick auf die Karte lehrt
es jeden Laien, daß gegen den Willen Frankreichs und Englands die Aufrecht¬
erhaltung einer Verbindung zwischen Wilhelmshafen und Agadir ein Ding der
Unmöglichkeit wäre. Das hat in einem lichten Augenblick selbst Herr Claas
eingesehen und die Folgerung gezogen, Deutschland müsse eben das Departe¬
ment Rhone in Besitz nehmen, um die direkte Verbindung zum Mittelmeer zu
gewinnen. (Leider ist der Satz, der diesen schönen Vorschlag enthält, nicht mit
in die Broschüre „Marokko deutsch" gelangt.) Damit fällt aber auch der
zweite Punkt der alldeutschen Forderungen in sich zusammen: Agadir als
Stützpunkt der deutschen Flotte. Der Gedanke ist an sich nicht schlecht,
und seine Durchführung wäre des Schweißes der Edlen wohl wert. Aber im
gegenwärtigen Zeitpunkte ist er schlechterdings nicht zu diskutieren. Frankreich
will Marokko in Besitz nehmen, und Deutschland hat keinen ausreichenden
praktischen Grund, es daran zu hindern. Darum erscheint die Politik die
tingere, die es Frankreich erleichtert, sein Ziel zu erreichen. Wollte Deutschland
heute mit Ansprüchen auf den Hafen von Agadir hervortreten, dann würde es
nur die Interessengemeinschaft zwischen Frankreich und England stärken und
sich selbst den Boden für praktische Verhandlungen verderben. Frankreich müßte
solchen Schritt in diesem Augenblick als gegen sich selbst gerichtet betrachten. Wozu
aber unnötig Mißtrauen säen, wo es gilt, vorhandenes zu beseitigen, und wo
möglicherweise der Augenblick einmal von selbst eintritt, in dem es sogar im
Interesse Frankreichs liegen könnte, den Hafen von Agadir deutschen Kriegs¬
schiffen zur Verfügung zu stellen? Die praktischen Verhandlungen haben sich
somit einzig und allein auf den dritten Punkt der deutschen Forderungen zu
konzentrieren: Sicherung der freien Hand für den deutschen Handel.
Man kann gerade im Hinblick hierauf mit dem Dichter sagen: „In der Be¬
schränkung zeigt sich erst der Meister." In Marokko handelt es sich für uns,
von den allgemeinen Gesichtspunkten abgesehen, in erster Linie um die Mutungs¬
rechte auf Erz. Kenner des Landes sind der Meinung, das marokkanische
Eisenerz sei ebenso wertvoll wie das schwedische und sei deshalb geeignet, dieses


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/294>, abgerufen am 29.12.2024.