Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches [Beginn Spaltensatz] Wie sich hinsichtlich der sprachlichen Darstellung Der Standpunkt Paniscus erweist sich, einer Reihe schwebender Fragen stellt, seien Maßgebliches und Unmaßgebliches [Beginn Spaltensatz] Wie sich hinsichtlich der sprachlichen Darstellung Der Standpunkt Paniscus erweist sich, einer Reihe schwebender Fragen stellt, seien <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0291" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319238"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <cb type="start"/> <p xml:id="ID_1648" prev="#ID_1647"> Wie sich hinsichtlich der sprachlichen Darstellung<lb/> Paulsen allmählich zu immer bollerer Meister¬<lb/> schaft erhoben hat, so läßt auch das hier zu¬<lb/> grunde liegende Manuskript keinen der Vorzüge<lb/> seines Stiles vermissen: Einfachheit, Klarheit,<lb/> Lebendigkeit, Maß, Kraft und mit nlledem<lb/> Schönheit, das ist der Eindruck, den man hier<lb/> gewinnt. An nicht wenig Stellen erhebt sich<lb/> die Sprache zu besonders wohlgeprögten und<lb/> schlagenden Urteilen. Allerdings rührt eigentlich<lb/> nur die erste Hälfte des gegenwärtigen Buches<lb/> völlig aus der Feder des Verfassers her: er<lb/> hat diesen wesentlich von der Bildung des<lb/> Willens handelnden Text noch während seiner<lb/> schleichenden Krankheit in unverminderter<lb/> Geistesklarheit fertiggestellt; deralsUnterrichts-<lb/> lehre bezeichnete zweite Hauptteil ist fast ganz<lb/> von dem Paulsen persönlich besonders nahe¬<lb/> stehenden Herausgeber, dem Breslauer Privat¬<lb/> dozenten Dr. Willy Kabitz, auf Grund der<lb/> handschriftlichen Notizen hergestellt, eine nicht<lb/> leichte Aufgabe, da es doch galt, hinter den<lb/> Borzügen von Paniscus Diktion nicht allzu<lb/> fühlbar zurückzubleiben. Man muß sagen,<lb/> daß der Ton recht befriedigend getroffen ist.<lb/> In sachlicher Hinsicht würde allerdings der<lb/> eigentliche Verfasser Wohl an gewissen Punkten<lb/> seine Notizen entsprechend der neueren Ent¬<lb/> wicklung der Dinge umgestaltet haben. So<lb/> sind für das Zeichnen auf den Schulen Wünsche<lb/> ausgesprochen, die tatsächlich bereits seit einer<lb/> Reihe von Jahren Erfüllung gefunden haben,<lb/> und bei einigen anderen Dingen steht es<lb/> ähnlich. Aber derartiges verschwindet doch<lb/> gegenüber dem Wert des Gebotenen.</p> <p xml:id="ID_1649" next="#ID_1650"> Der Standpunkt Paniscus erweist sich,<lb/> wie man nach der ganzen Persönlichkeit er¬<lb/> warten konnte, als ein solcher, der über den<lb/> schroffen Gegensätzen der pädagogischen Zeit¬<lb/> stimmungen liegt, nicht unempfänglich gegen<lb/> schätzbare neue Tendenzen, durchaus nicht etwa<lb/> von vornherein zufrieden mit allem Erreichten<lb/> und Bestehenden, vielmehr bestimmt weiteren<lb/> Verbesserungen oder auch Umwandlungen ent¬<lb/> gegensehend, aber doch im wesentlichen kon¬<lb/> servativ, niemals bereit, überliefertes mit<lb/> leichtem Herzen Preiszugeben, kühnen Neu¬<lb/> forderungen oder doch hochgehendenneucnVer-<lb/> sprechungen mißtrauend. Besonders wird man<lb/> es zu würdigen wissen, wie Paulsen sich zu</p> <cb/><lb/> <p xml:id="ID_1650" prev="#ID_1649"> einer Reihe schwebender Fragen stellt, seien<lb/> es solche, die die denkenden Pädagogen oder<lb/> die pädagogischen Eiferer beschäftigen. Hierher<lb/> gehört das Verhältnis von Sozial- und Jn-<lb/> dividualpädagogik, der Wert Pädagogischer<lb/> Theorie für die erzieherische Betätigung („Die<lb/> Theorie lehrt sehen"), die Zukunft der höheren<lb/> Mädchenschulen (wo völlige Gleichheit mit den<lb/> Lehrplänen der Knaben durchaus abgelehnt<lb/> wird), das moderne Evangelium der Aus¬<lb/> schaltung jeglichen Zwanges aus der Jugend¬<lb/> erziehung (was nur um so bestimmtere Ab¬<lb/> weisung findet), die Zukunft des Religions¬<lb/> unterrichts oder eines ihn vertretenden<lb/> Moralunterrichts (wo Paulsen zwar den letz¬<lb/> teren ausgebaut zu sehen wünscht, aber doch<lb/> unter dauernder Wertschätzung von Bibel und<lb/> biblischer Geschichte und nicht in Loslösung<lb/> davon), und manches Sonstige. Wie Paulsen<lb/> die Bedeutung des Gehorsams für die Willens¬<lb/> bildung, der Ehrfurcht für die Gemütsbildung,<lb/> ferner der Schamhaftigkeit, auch der zuge¬<lb/> muteten geistigen Anstrengungen vertritt, das<lb/> mag um so mehr interessieren, als der im<lb/> allgemeinen so maßvolle Mann da gewissen<lb/> modernen Stimmungen gegenüber auch zu<lb/> sehr kräftigen Worten übergeht: so angesichts der<lb/> jetzt zahlreichen Eltern, die sich selbst nichts mehr<lb/> versagen und nichts zumuten mögen und dann<lb/> auch ihren Kindern nichts versagen und nichts<lb/> ihnen zugemutet wissen wollen. Im ganzen sind<lb/> gerade dieBetrachtungen, wie zu den wichtigsten<lb/> einzelnen Werteigenschaften erzogen werden<lb/> könne, also wie zur Tapferkeit, zur Beharrlich¬<lb/> keit, zur Wahrhaftigkeit, zurBesonnenheit, zu so¬<lb/> zialen Tugenden, zur Heimath- und Vater¬<lb/> landsliebe, sehr geeignet, über die berufs¬<lb/> mäßigen Erzieher hinaus den weiten Kreis<lb/> der natürlichen Erzieher zu fesseln und auf¬<lb/> zuklären. Wäre nur der dies alles enthaltende<lb/> erste Teil des Werkes veröffentlicht worden,<lb/> so Ware das ein kleines Buch für alle irgend<lb/> ernsteren und gebildeteren Familien weit und<lb/> breit geworden. Eine allgemeinere „Päda¬<lb/> gogik" scheint leicht nur für die „Pädagogen"<lb/> bestimmt. Dennoch wird Paniscus Name auch<lb/> dem Buche in dieser seiner vollständigeren<lb/> Gestalt eine große Verbreitung sichern. Einer<lb/> Empfehlung mit mehr Worten bedarf es also,<lb/><note type="byline"> will?. Münch</note> wirklich nicht. </p> <cb type="end"/><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0291]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Wie sich hinsichtlich der sprachlichen Darstellung
Paulsen allmählich zu immer bollerer Meister¬
schaft erhoben hat, so läßt auch das hier zu¬
grunde liegende Manuskript keinen der Vorzüge
seines Stiles vermissen: Einfachheit, Klarheit,
Lebendigkeit, Maß, Kraft und mit nlledem
Schönheit, das ist der Eindruck, den man hier
gewinnt. An nicht wenig Stellen erhebt sich
die Sprache zu besonders wohlgeprögten und
schlagenden Urteilen. Allerdings rührt eigentlich
nur die erste Hälfte des gegenwärtigen Buches
völlig aus der Feder des Verfassers her: er
hat diesen wesentlich von der Bildung des
Willens handelnden Text noch während seiner
schleichenden Krankheit in unverminderter
Geistesklarheit fertiggestellt; deralsUnterrichts-
lehre bezeichnete zweite Hauptteil ist fast ganz
von dem Paulsen persönlich besonders nahe¬
stehenden Herausgeber, dem Breslauer Privat¬
dozenten Dr. Willy Kabitz, auf Grund der
handschriftlichen Notizen hergestellt, eine nicht
leichte Aufgabe, da es doch galt, hinter den
Borzügen von Paniscus Diktion nicht allzu
fühlbar zurückzubleiben. Man muß sagen,
daß der Ton recht befriedigend getroffen ist.
In sachlicher Hinsicht würde allerdings der
eigentliche Verfasser Wohl an gewissen Punkten
seine Notizen entsprechend der neueren Ent¬
wicklung der Dinge umgestaltet haben. So
sind für das Zeichnen auf den Schulen Wünsche
ausgesprochen, die tatsächlich bereits seit einer
Reihe von Jahren Erfüllung gefunden haben,
und bei einigen anderen Dingen steht es
ähnlich. Aber derartiges verschwindet doch
gegenüber dem Wert des Gebotenen.
Der Standpunkt Paniscus erweist sich,
wie man nach der ganzen Persönlichkeit er¬
warten konnte, als ein solcher, der über den
schroffen Gegensätzen der pädagogischen Zeit¬
stimmungen liegt, nicht unempfänglich gegen
schätzbare neue Tendenzen, durchaus nicht etwa
von vornherein zufrieden mit allem Erreichten
und Bestehenden, vielmehr bestimmt weiteren
Verbesserungen oder auch Umwandlungen ent¬
gegensehend, aber doch im wesentlichen kon¬
servativ, niemals bereit, überliefertes mit
leichtem Herzen Preiszugeben, kühnen Neu¬
forderungen oder doch hochgehendenneucnVer-
sprechungen mißtrauend. Besonders wird man
es zu würdigen wissen, wie Paulsen sich zu
einer Reihe schwebender Fragen stellt, seien
es solche, die die denkenden Pädagogen oder
die pädagogischen Eiferer beschäftigen. Hierher
gehört das Verhältnis von Sozial- und Jn-
dividualpädagogik, der Wert Pädagogischer
Theorie für die erzieherische Betätigung („Die
Theorie lehrt sehen"), die Zukunft der höheren
Mädchenschulen (wo völlige Gleichheit mit den
Lehrplänen der Knaben durchaus abgelehnt
wird), das moderne Evangelium der Aus¬
schaltung jeglichen Zwanges aus der Jugend¬
erziehung (was nur um so bestimmtere Ab¬
weisung findet), die Zukunft des Religions¬
unterrichts oder eines ihn vertretenden
Moralunterrichts (wo Paulsen zwar den letz¬
teren ausgebaut zu sehen wünscht, aber doch
unter dauernder Wertschätzung von Bibel und
biblischer Geschichte und nicht in Loslösung
davon), und manches Sonstige. Wie Paulsen
die Bedeutung des Gehorsams für die Willens¬
bildung, der Ehrfurcht für die Gemütsbildung,
ferner der Schamhaftigkeit, auch der zuge¬
muteten geistigen Anstrengungen vertritt, das
mag um so mehr interessieren, als der im
allgemeinen so maßvolle Mann da gewissen
modernen Stimmungen gegenüber auch zu
sehr kräftigen Worten übergeht: so angesichts der
jetzt zahlreichen Eltern, die sich selbst nichts mehr
versagen und nichts zumuten mögen und dann
auch ihren Kindern nichts versagen und nichts
ihnen zugemutet wissen wollen. Im ganzen sind
gerade dieBetrachtungen, wie zu den wichtigsten
einzelnen Werteigenschaften erzogen werden
könne, also wie zur Tapferkeit, zur Beharrlich¬
keit, zur Wahrhaftigkeit, zurBesonnenheit, zu so¬
zialen Tugenden, zur Heimath- und Vater¬
landsliebe, sehr geeignet, über die berufs¬
mäßigen Erzieher hinaus den weiten Kreis
der natürlichen Erzieher zu fesseln und auf¬
zuklären. Wäre nur der dies alles enthaltende
erste Teil des Werkes veröffentlicht worden,
so Ware das ein kleines Buch für alle irgend
ernsteren und gebildeteren Familien weit und
breit geworden. Eine allgemeinere „Päda¬
gogik" scheint leicht nur für die „Pädagogen"
bestimmt. Dennoch wird Paniscus Name auch
dem Buche in dieser seiner vollständigeren
Gestalt eine große Verbreitung sichern. Einer
Empfehlung mit mehr Worten bedarf es also,
will?. Münch wirklich nicht.
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