Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.Deutsche Leute auf brasilischer Scholle Leute gibt, die durch Besprechung manche Gebresten des Leibes zu heilen vor¬
Jede deutsche Bauerschaft ist ein Denkmal deutscher Zähigkeit, und wenn man Deutsche Leute auf brasilischer Scholle Leute gibt, die durch Besprechung manche Gebresten des Leibes zu heilen vor¬
Jede deutsche Bauerschaft ist ein Denkmal deutscher Zähigkeit, und wenn man <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0278" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319225"/> <fw type="header" place="top"> Deutsche Leute auf brasilischer Scholle</fw><lb/> <p xml:id="ID_1577" prev="#ID_1576"> Leute gibt, die durch Besprechung manche Gebresten des Leibes zu heilen vor¬<lb/> geben, ist keine Absonderlichkeit. Diese Zunft findet auch in deutschen Großstädten<lb/> ihr Brot. Neu war für mich ein Spezialist, Herr Angelo Francisco Muniz, ein<lb/> gelber Caboclo, der von seinen indianischen Ahnen noch das straffe Haar und die<lb/> vorstehenden Backenknochen geerbt hatte. Der deutsche Bauer, der ihn sich ver¬<lb/> schrieben hatte, um eine Pflanzung von der Raupenplage zu befreien, war zwar<lb/> etwas verlegen, als ich ihn auslachte, aber Herr Angelo wurde in Tätigkeit gesetzt.<lb/> Freitags vor Sonnenaufgang stellte er sich an drei Ecken des Feldes auf, sprach<lb/> die Bannformel und behauptete, das Ungeziefer müsse nun an der vierten ungehemmten<lb/> Ecke auswandern. Herr Angelo war ein Mann, der mit sich reden ließ, und da<lb/> er in mir einen Oberkollegen von einer benachbarten Fakultät vermutete, so gab<lb/> er mir sogar seinen Bannspruch, den ich der Nachwelt aufbewahrt habe. Hier ist<lb/> er in der Übersetzung:</p><lb/> <quote> <p xml:id="ID_1578"> Guten Morgen, ihr Raupen!</p> <p xml:id="ID_1579"> Für jede Pflanze, die ihr zernagt und Gott nicht dafür dankt,<lb/> Seid verflucht!</p> <p xml:id="ID_1580"> Bei Sankt Peter und Sankt Paul und allen Heiligen des himmlischen Hofes<lb/> Verlaßt diesen Acker, der mir meine Speise trägt!<lb/> Die Blätter des wilden Waldes,<lb/> Sie seien euer Unterhalt!</p> </quote><lb/> <p xml:id="ID_1581" next="#ID_1582"> Jede deutsche Bauerschaft ist ein Denkmal deutscher Zähigkeit, und wenn man<lb/> unsere Landsleute drüben mit einem Wort charakterisieren will, so bezeichnet man<lb/> sie am besten als Arbeitsfanatiker. Wald, wilder, starrer Urwald ohne Weg und<lb/> Steg empfing die Ausgewanderten, einen rohen Pfad ließen die Landmesser hin¬<lb/> durchschlagen, jede andere Anlage für den Verkehr war Sache der Kolonisten. Und<lb/> heute? Frischgrüne Tabaksfelder, endlose Maisplantagen, schilfgrüne, leise wogende<lb/> Zuckerrohrpflanzungen laufen an der Fahrstraße hin. Die weißen Hausfronten<lb/> lugen aus dem Laub der Orangen und Pfirsiche, Araukarien breiten ihre Kronen<lb/> über das deutsche Giebeldach. Der dunkle Wald an den Berghängen gibt den<lb/> stimmungsvollen Hintergrund ab. Die schweren Frachtwagen rasseln auf diesen<lb/> Straßen, gelenkt von wetterharten Fuhrleuten, die es mit Wind und Wetter, aber<lb/> auch mit den bösen Löchern der Straßen aufnehmen, in die oft genug die Räder<lb/> bis zur Rabe versinken. Sie bringen die Ernte an die Stapelplätze der Kolonie.<lb/> Wohl gibt die Natur verschwenderisch der Arbeit Lohn; auf dem Urwaldboden<lb/> steht der Mais in strotzender Fülle, aber nicht einen Tag darf der Bauer die<lb/> Arme ruhen lassen im Kampf gegen Ameisen, Unkraut und allerlei Schädlinge.<lb/> Wenn die Mittagsonne herniederprullt und die Burschen auf dem Felde die<lb/> Stauden der schwarzen Bohnen ausreuten oder alt und jung in der drückenden<lb/> Schwüle des Sommertages im Tabakfelde steht, so begreift man, was es heißt,<lb/> im Schweiße des Angesichts das Brot essen. Wer nicht arbeitet, gilt in den<lb/> Augen der Bauern als unnütze Last der Erde. Selbst der „Lehrer", der auf dem<lb/> Recht seiner Ferien besteht, tut nach ihrer Ansicht unrecht; haben sie selbst vielleicht<lb/> je Ferien? Dieser brasilische Waldschulmeister ist eine Figur von wahrhaft proteischer<lb/> Wandlungsfähigkeit. Merkwürdig — für kirchliche Zwecke sind die Bauern zu<lb/> haben; sie unterhalten seit Jahren sogar ein Waisenhaus, das in dieser Ausdehnung<lb/> gar nicht notwendig war, aber es ist schwer, sie für Schulzwecke willig zu stimmen.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0278]
Deutsche Leute auf brasilischer Scholle
Leute gibt, die durch Besprechung manche Gebresten des Leibes zu heilen vor¬
geben, ist keine Absonderlichkeit. Diese Zunft findet auch in deutschen Großstädten
ihr Brot. Neu war für mich ein Spezialist, Herr Angelo Francisco Muniz, ein
gelber Caboclo, der von seinen indianischen Ahnen noch das straffe Haar und die
vorstehenden Backenknochen geerbt hatte. Der deutsche Bauer, der ihn sich ver¬
schrieben hatte, um eine Pflanzung von der Raupenplage zu befreien, war zwar
etwas verlegen, als ich ihn auslachte, aber Herr Angelo wurde in Tätigkeit gesetzt.
Freitags vor Sonnenaufgang stellte er sich an drei Ecken des Feldes auf, sprach
die Bannformel und behauptete, das Ungeziefer müsse nun an der vierten ungehemmten
Ecke auswandern. Herr Angelo war ein Mann, der mit sich reden ließ, und da
er in mir einen Oberkollegen von einer benachbarten Fakultät vermutete, so gab
er mir sogar seinen Bannspruch, den ich der Nachwelt aufbewahrt habe. Hier ist
er in der Übersetzung:
Guten Morgen, ihr Raupen!
Für jede Pflanze, die ihr zernagt und Gott nicht dafür dankt,
Seid verflucht!
Bei Sankt Peter und Sankt Paul und allen Heiligen des himmlischen Hofes
Verlaßt diesen Acker, der mir meine Speise trägt!
Die Blätter des wilden Waldes,
Sie seien euer Unterhalt!
Jede deutsche Bauerschaft ist ein Denkmal deutscher Zähigkeit, und wenn man
unsere Landsleute drüben mit einem Wort charakterisieren will, so bezeichnet man
sie am besten als Arbeitsfanatiker. Wald, wilder, starrer Urwald ohne Weg und
Steg empfing die Ausgewanderten, einen rohen Pfad ließen die Landmesser hin¬
durchschlagen, jede andere Anlage für den Verkehr war Sache der Kolonisten. Und
heute? Frischgrüne Tabaksfelder, endlose Maisplantagen, schilfgrüne, leise wogende
Zuckerrohrpflanzungen laufen an der Fahrstraße hin. Die weißen Hausfronten
lugen aus dem Laub der Orangen und Pfirsiche, Araukarien breiten ihre Kronen
über das deutsche Giebeldach. Der dunkle Wald an den Berghängen gibt den
stimmungsvollen Hintergrund ab. Die schweren Frachtwagen rasseln auf diesen
Straßen, gelenkt von wetterharten Fuhrleuten, die es mit Wind und Wetter, aber
auch mit den bösen Löchern der Straßen aufnehmen, in die oft genug die Räder
bis zur Rabe versinken. Sie bringen die Ernte an die Stapelplätze der Kolonie.
Wohl gibt die Natur verschwenderisch der Arbeit Lohn; auf dem Urwaldboden
steht der Mais in strotzender Fülle, aber nicht einen Tag darf der Bauer die
Arme ruhen lassen im Kampf gegen Ameisen, Unkraut und allerlei Schädlinge.
Wenn die Mittagsonne herniederprullt und die Burschen auf dem Felde die
Stauden der schwarzen Bohnen ausreuten oder alt und jung in der drückenden
Schwüle des Sommertages im Tabakfelde steht, so begreift man, was es heißt,
im Schweiße des Angesichts das Brot essen. Wer nicht arbeitet, gilt in den
Augen der Bauern als unnütze Last der Erde. Selbst der „Lehrer", der auf dem
Recht seiner Ferien besteht, tut nach ihrer Ansicht unrecht; haben sie selbst vielleicht
je Ferien? Dieser brasilische Waldschulmeister ist eine Figur von wahrhaft proteischer
Wandlungsfähigkeit. Merkwürdig — für kirchliche Zwecke sind die Bauern zu
haben; sie unterhalten seit Jahren sogar ein Waisenhaus, das in dieser Ausdehnung
gar nicht notwendig war, aber es ist schwer, sie für Schulzwecke willig zu stimmen.
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