Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.Deutsche Leute auf brasilischer Scholle lakonischer Einfachheit die millionenteuren Prunkstraßen in Rio, lieh durch ihre Brot genug gibt es im Lande, auch für den, der nicht graben mag. Die Der Aberglaube spielt in allen Kreisen eine gewaltige Rolle. Jeder Brasilier Grenzbow III 1911 34
Deutsche Leute auf brasilischer Scholle lakonischer Einfachheit die millionenteuren Prunkstraßen in Rio, lieh durch ihre Brot genug gibt es im Lande, auch für den, der nicht graben mag. Die Der Aberglaube spielt in allen Kreisen eine gewaltige Rolle. Jeder Brasilier Grenzbow III 1911 34
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Deutsche Leute auf brasilischer Scholle
lakonischer Einfachheit die millionenteuren Prunkstraßen in Rio, lieh durch ihre
„Propagandamissionen" in Europa Millionen und aber Millionen ganz nutzlos
verpulvern, und heute noch liegen die ungeheuren Landstrecken brach, auf denen
bei vernünftiger Politik Millionen Menschen Arbeit und Nahrung finden könnten.
Die Siedlungsarbeit des Kaiserreichs ist an der notorischen Unfähigkeit der demo¬
kratischen Parteikaziken gescheitert. Wie ein Rest schöner Träume ragen die deutschen
Bauernstraßen, die Pikaden, in unsere Tage. Auch bei uns, wo alles wie fasziniert
auf Afrika schaut, wird man es einst bedauern, daß man den Grundstock der
deutschen Siedlung in Südbrasilien nicht planmäßig zum Ausbau benutzt hat,
nämlich dann, wenn die Mnkees dem deutschen Handel in Südamerika die Tür
vor der Nase zumachen werden. Dann werden Diplomaten und Militärs nach¬
holen müssen, was sich durch eine friedliche Lenkung unserer Auswanderung in
ein gesundes und fruchtbares Land leicht hätte erreichen lassen.
Brot genug gibt es im Lande, auch für den, der nicht graben mag. Die
Natur hat kaum ein Land der Welt reicher gemacht als Brasilien. Kein Wunder,
wenn die fleißigen Tagelöhner aus Pommern, die arbeitgewohnten Leute vom
Hunsrück, die westfälischen Jungen, die am Pflug und der Hacke Schwielen
bekommen, auf den Kolonien im Tale des Rio dos Sinos, wohin Dom Pedro
der Erste sie gerufen hatte, gefüllte Scheuern und blanke Unzen erzielten. Nicht
alle waren mit sauberen Händen ins Land gekommen. Die Agenten des Kaisers
brachten auch Kettensträflinge aus Dreibergen und Genossen des Schinderhannes
ins wilde Land, manches deutsche Zuchthaus ließ seine Gäste über den Ozean
ziehen. Tief in der Einsamkeit, in gemeinsamer Gefahr vor den schweifenden
Wilden und in harter Arbeit, um aus wildem Wald urbares Land zu schaffen,
wandelten sich böse Gesellen in tüchtige Kerle, die in Sonnenbrand und Wetter
ihren Mann standen. Der Besitz eigener Scholle wirkte Wunder für den bürger¬
lichen Gemeinsinn. Aber mit Brot allein ist der Deutsche draußen nicht abgespeist.
Ihm sitzt das Bedürfnis nach religiöser Betätigung tief im Blut, und wunderliche
Spekulationen wuchern in seinem Schädel, wo es ihm an der gewohnten Leitung
fehlt. Daran wurde ich erinnert, als ich zum ersten Male durch die deutsche
Bauerschaft Leonerhof, von den Brasiliern Sapyranga genannt, ritt. Ein Jahr
nach dem deutsch-französischen Kriege führten deutsche Bauern hier das Schauer¬
spiel der Münsterschen Wiedertäufer auf in einer Wiedergabe, die an die blut¬
rünstigsten Hintertreppenromane erinnert.
Der Aberglaube spielt in allen Kreisen eine gewaltige Rolle. Jeder Brasilier
ist abergläubisch, nicht nur der farbige Mob. Auch unsere Landsleute haben sich
ein hübsches Teil gerettet. Wenn die braunen Söhne des Kampf und der Serra
an den „Lobishomem", den Werwolf, glauben und einander am Nastfeuer die
wildesten Geschichten erzählen, so ist das kein Wunder. Der Naturmensch sieht
überall unheimlichen Spuk. Aber ich habe vergeblich einem deutschen Kolonisten
klarzumachen gesucht, daß sein Nachbar nicht um Mitternacht als Werwolf mit
lechzender Zunge spuken gehe, sondern froh sei, wenn er die müden Glieder unter
dem prallgestopften Federbett, das der Pommer auch unter 30 Grad Süd nicht
missen will, strecken könne. Ich wurde mit hartnäckigem, aber überlegenem Schweigen
abgetan, und der Verdächtigte verkaufte Haus und Land und wanderte in eine
andere Kolonie, um der ewigen Anfeindungen ledig zu werden. Daß es kluge
Grenzbow III 1911 34
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