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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Deutsche Leute auf brasilischer Scholle

zu verkitten. Die beiden Reihen gehen nebeneinander her, nicht ineinander
über wie bei Tieck. Immer findet Storm den Anschluß an die Wirklichkeit
wieder. Das ist das Ergebnis seiner Wirklichkeitstreue.

Nur ein Märchen ist ganz frei von mitschwingenden Momenten: der Ein¬
fall "Der kleine Häwelmcmn". das deshalb auch das beste Kindermärchen der
Schöpfungen Storms ist.

Naturschilderung, Stimmungsgehalt, Erinnerungszauber, novellenhaster Ein¬
schlag, das sind Züge grundsätzlicher Art in Storms Märchen. Sie wurzeln
in seiner Persönlichkeit, die die moderne Kultur in sich aufgenommen hat, sind
also Kennzeichen des Kulturpoeten. Sie stempeln die Märchen zu Stormschen
Dichtungen. In keiner Weise beeinträchtigen sie den Wert der vollendeten, eher
heben sie ihn, aber sie zeigen die Grenze der Märchenkunst Storms. "Niemand
als Theodor Storm hätte der Verfasser dieser Sachen sein können", das Wort,
das auf den ersten Blick überrascht, ist der Schlüssel zur letzten Beurteilung des
Märchendichters Storm.

Wäre es Storm: möglich gewesen, tiefer in das Märchenland hineinzusteigen?
Das ist eine müßige Frage. Storm war Märchendichter, aber Kultmpersön-
lichkeit, naiv in seiner künstlerischen Ausdrucksform, aber sentimental in seiner
Denk- und Gefühlsweise. Die Mischung dieser beiden Naturen schuf die 'Eigen¬
art seiner Kunst. Sie erklärt auch, warum er zum Märchen kommen mußte.
"Trotz dieser politischen Zeit" -- die drei Hauptmärchen entstanden 1864/65 --,
"vielleicht gerade durch sie, weil sie ihr Gegengewicht verlangte, ward mir in
dieser Zeit, was ich mir seit zwanzig Jahren vergebens gewünscht hatte, die
Fähigkeit und der fast dämonische Drang zur Märchendichtung." Und sie läßt
verstehen, weshalb er sich weise mit seiner Ausbeute begnügte.




Deutsche Leute auf brasilischer Scholle
von Dr. Alfred Funke

lirrend und polternd hält der Zug auf der einsamen. Station deS
brasilischen Kampf. Braune Leute, sonnenverbrannt und wetter¬
hart, den breiten Filz über den dunklen Augen, schwere Sporen
>an den Hacken, im Otterfellgurt Messer und Pistole, am Sattel-
I tropf den gerollten Lasso, warten auf uns. In der elenden Kneipe
an der Haltestelle wird der Imbiß genommen. Mit uns sitzen Grundbesitzer,
Pflanzer, Kaufleute und Kolonisten am Tisch und essen schwarze Bohnen, das
Nationalgericht. Deutsch versteht jeder dritte Mann. Unsere braunen Geleitsleute
bringen die Reittiere, und in scharfem Trabe geht es über die Grasebene, die
sich in unendliche Fernen dehnt. Es ist Vorsommer. Rotblühende Verbenen und
Marienkraut lugen aus dem frischen Grün; aus kleinen Lachen, von Binsen undMMl^^5>^>


Deutsche Leute auf brasilischer Scholle

zu verkitten. Die beiden Reihen gehen nebeneinander her, nicht ineinander
über wie bei Tieck. Immer findet Storm den Anschluß an die Wirklichkeit
wieder. Das ist das Ergebnis seiner Wirklichkeitstreue.

Nur ein Märchen ist ganz frei von mitschwingenden Momenten: der Ein¬
fall „Der kleine Häwelmcmn". das deshalb auch das beste Kindermärchen der
Schöpfungen Storms ist.

Naturschilderung, Stimmungsgehalt, Erinnerungszauber, novellenhaster Ein¬
schlag, das sind Züge grundsätzlicher Art in Storms Märchen. Sie wurzeln
in seiner Persönlichkeit, die die moderne Kultur in sich aufgenommen hat, sind
also Kennzeichen des Kulturpoeten. Sie stempeln die Märchen zu Stormschen
Dichtungen. In keiner Weise beeinträchtigen sie den Wert der vollendeten, eher
heben sie ihn, aber sie zeigen die Grenze der Märchenkunst Storms. „Niemand
als Theodor Storm hätte der Verfasser dieser Sachen sein können", das Wort,
das auf den ersten Blick überrascht, ist der Schlüssel zur letzten Beurteilung des
Märchendichters Storm.

Wäre es Storm: möglich gewesen, tiefer in das Märchenland hineinzusteigen?
Das ist eine müßige Frage. Storm war Märchendichter, aber Kultmpersön-
lichkeit, naiv in seiner künstlerischen Ausdrucksform, aber sentimental in seiner
Denk- und Gefühlsweise. Die Mischung dieser beiden Naturen schuf die 'Eigen¬
art seiner Kunst. Sie erklärt auch, warum er zum Märchen kommen mußte.
„Trotz dieser politischen Zeit" — die drei Hauptmärchen entstanden 1864/65 —,
„vielleicht gerade durch sie, weil sie ihr Gegengewicht verlangte, ward mir in
dieser Zeit, was ich mir seit zwanzig Jahren vergebens gewünscht hatte, die
Fähigkeit und der fast dämonische Drang zur Märchendichtung." Und sie läßt
verstehen, weshalb er sich weise mit seiner Ausbeute begnügte.




Deutsche Leute auf brasilischer Scholle
von Dr. Alfred Funke

lirrend und polternd hält der Zug auf der einsamen. Station deS
brasilischen Kampf. Braune Leute, sonnenverbrannt und wetter¬
hart, den breiten Filz über den dunklen Augen, schwere Sporen
>an den Hacken, im Otterfellgurt Messer und Pistole, am Sattel-
I tropf den gerollten Lasso, warten auf uns. In der elenden Kneipe
an der Haltestelle wird der Imbiß genommen. Mit uns sitzen Grundbesitzer,
Pflanzer, Kaufleute und Kolonisten am Tisch und essen schwarze Bohnen, das
Nationalgericht. Deutsch versteht jeder dritte Mann. Unsere braunen Geleitsleute
bringen die Reittiere, und in scharfem Trabe geht es über die Grasebene, die
sich in unendliche Fernen dehnt. Es ist Vorsommer. Rotblühende Verbenen und
Marienkraut lugen aus dem frischen Grün; aus kleinen Lachen, von Binsen undMMl^^5>^>


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[0273] Deutsche Leute auf brasilischer Scholle zu verkitten. Die beiden Reihen gehen nebeneinander her, nicht ineinander über wie bei Tieck. Immer findet Storm den Anschluß an die Wirklichkeit wieder. Das ist das Ergebnis seiner Wirklichkeitstreue. Nur ein Märchen ist ganz frei von mitschwingenden Momenten: der Ein¬ fall „Der kleine Häwelmcmn". das deshalb auch das beste Kindermärchen der Schöpfungen Storms ist. Naturschilderung, Stimmungsgehalt, Erinnerungszauber, novellenhaster Ein¬ schlag, das sind Züge grundsätzlicher Art in Storms Märchen. Sie wurzeln in seiner Persönlichkeit, die die moderne Kultur in sich aufgenommen hat, sind also Kennzeichen des Kulturpoeten. Sie stempeln die Märchen zu Stormschen Dichtungen. In keiner Weise beeinträchtigen sie den Wert der vollendeten, eher heben sie ihn, aber sie zeigen die Grenze der Märchenkunst Storms. „Niemand als Theodor Storm hätte der Verfasser dieser Sachen sein können", das Wort, das auf den ersten Blick überrascht, ist der Schlüssel zur letzten Beurteilung des Märchendichters Storm. Wäre es Storm: möglich gewesen, tiefer in das Märchenland hineinzusteigen? Das ist eine müßige Frage. Storm war Märchendichter, aber Kultmpersön- lichkeit, naiv in seiner künstlerischen Ausdrucksform, aber sentimental in seiner Denk- und Gefühlsweise. Die Mischung dieser beiden Naturen schuf die 'Eigen¬ art seiner Kunst. Sie erklärt auch, warum er zum Märchen kommen mußte. „Trotz dieser politischen Zeit" — die drei Hauptmärchen entstanden 1864/65 —, „vielleicht gerade durch sie, weil sie ihr Gegengewicht verlangte, ward mir in dieser Zeit, was ich mir seit zwanzig Jahren vergebens gewünscht hatte, die Fähigkeit und der fast dämonische Drang zur Märchendichtung." Und sie läßt verstehen, weshalb er sich weise mit seiner Ausbeute begnügte. Deutsche Leute auf brasilischer Scholle von Dr. Alfred Funke lirrend und polternd hält der Zug auf der einsamen. Station deS brasilischen Kampf. Braune Leute, sonnenverbrannt und wetter¬ hart, den breiten Filz über den dunklen Augen, schwere Sporen >an den Hacken, im Otterfellgurt Messer und Pistole, am Sattel- I tropf den gerollten Lasso, warten auf uns. In der elenden Kneipe an der Haltestelle wird der Imbiß genommen. Mit uns sitzen Grundbesitzer, Pflanzer, Kaufleute und Kolonisten am Tisch und essen schwarze Bohnen, das Nationalgericht. Deutsch versteht jeder dritte Mann. Unsere braunen Geleitsleute bringen die Reittiere, und in scharfem Trabe geht es über die Grasebene, die sich in unendliche Fernen dehnt. Es ist Vorsommer. Rotblühende Verbenen und Marienkraut lugen aus dem frischen Grün; aus kleinen Lachen, von Binsen undMMl^^5>^>

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/273>, abgerufen am 29.12.2024.