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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Storms Märchen

Gelangweilt wendet sich der Leser von ihm. Storm wußte Maß zu halten. Es ist
bezeichnend, daß er als der feinsinnige Märchenkenner nicht die "Regentrude" als
seinen Liebling bezeichnet, sondern den "Spiegel des Cyprianus", das Märchen,
das dem Volksmärchen am nächsten kommt, weil in ihm Schilderung und
Naturbild als Zweck fehlen.

Auf dem Naturbilde beruht in allen Werken Storms der Zauber seiner
Persönlichkeit. Er weiß das Bild in einer Form zu geben, die das Zuständ¬
liche in reine Kunst auflöst. Wir nennen diese nicht wiederzugebende Seite
seiner Poesie ihren Stimmungsgehalt. Sie ist bei Storm so intensiv, vor allem
in seinen früheren Erzählungen, daß sie ihre Wirkung auf sinnige Gemüter
nie verfehlt. Sie gibt seiner Dichtung den charakteristischen Ton. Storm schildert
nicht nur das dürre Feld und die dürre Wiese in der "Regentrude"; Menschen¬
leben, Naturszenerie, Verzagtheit, bange Erwartung, Hoffnungsseligkeit und
seliges Glücksgefühl in der Erfüllung aller Wünsche geben zusammen ein Gemälde,
über dem Schwüle und befreiendes Aufatmen von tiefem Drucke ruhen. In
gleicher Vollendung ist das unheimliche Grauen der Umgebung des Herrn
Bulemann gelungen, das noch am Hause in ungewisser Erinnerung hängt, lange
danach, als die Zeit Bulemanns nach menschlichem Maße in die Vergangenheit
versunken war.

Die Vergangenheit und die Erinnerung daran! Das ist ein anderer Zauber,
der unlöslich mit Storms Schaffen verknüpft ist. Auch er ist in die Märchen
übergegangen. Lebt Bulemann noch? Der Nachtwächter will ihn einmal in
mondheller Nacht gesehen haben. Ein übermütiger Bursche hat einst den Tür¬
klopfer angeschlagen und das Springen großer Tiere gehört. Man weiß nichts
Gewisses. Nur der Dichter ahnt alles. Ein alter Organist draußen in der
Vorstadt, der nun auch schon längst tot ist, hat davon erzählt. Im "Spiegel
des Cyprianus" taucht die Geschichte des unheilvollen und doch segenbringendeu
Spiegels in der Erzählung der alten Kammerfrau aus der Familiengeschichte
des Schloßgeschlechtes auf, Erinnerungen auch in der gütigen Schloßfrau weckend
und dadurch erst das volle Verständnis alles Geschehens erschließend.

Und nun noch die Form: Storm begnügt sich nicht damit, die Märchen
zu erzählen. Allen dreien, "Regentrude", "Bulemanns Haus" und "Spiegel
des Cyprianus", gibt er eine Einkleidung mit stark realistischen Zügen, vor
allem der "Regentrude." Das Märchen steckt hier in einer vollständig aus¬
geführten Dorfgeschichte. In "Bulemanns Haus" ist der Kern das Bild eines
Geizhalses inmitten seiner nicht auf ehrliche Weise erworbenen Schätze, der seine
Schwester mit ihren: kranken Kinde roh von sich stößt. "Der Spiegel des
Cyprianus" erzählt vom gütigen Walten der zweiten Frau des Schloßherrn,
die durch ihre Liebe den todkranken Stiefsohn gesund pflegt. Selbstverständlich
kann dem Dichter kein Vorwurf um dieser Züge selbst willen gemacht werden.
Aber er unterläßt es -- außer in "Bulemanns Haus", von Storm darum das
in sich vollendetste genannt --, die Märchenwelt mit der Wirklichkeit unlöslich


Storms Märchen

Gelangweilt wendet sich der Leser von ihm. Storm wußte Maß zu halten. Es ist
bezeichnend, daß er als der feinsinnige Märchenkenner nicht die „Regentrude" als
seinen Liebling bezeichnet, sondern den „Spiegel des Cyprianus", das Märchen,
das dem Volksmärchen am nächsten kommt, weil in ihm Schilderung und
Naturbild als Zweck fehlen.

Auf dem Naturbilde beruht in allen Werken Storms der Zauber seiner
Persönlichkeit. Er weiß das Bild in einer Form zu geben, die das Zuständ¬
liche in reine Kunst auflöst. Wir nennen diese nicht wiederzugebende Seite
seiner Poesie ihren Stimmungsgehalt. Sie ist bei Storm so intensiv, vor allem
in seinen früheren Erzählungen, daß sie ihre Wirkung auf sinnige Gemüter
nie verfehlt. Sie gibt seiner Dichtung den charakteristischen Ton. Storm schildert
nicht nur das dürre Feld und die dürre Wiese in der „Regentrude"; Menschen¬
leben, Naturszenerie, Verzagtheit, bange Erwartung, Hoffnungsseligkeit und
seliges Glücksgefühl in der Erfüllung aller Wünsche geben zusammen ein Gemälde,
über dem Schwüle und befreiendes Aufatmen von tiefem Drucke ruhen. In
gleicher Vollendung ist das unheimliche Grauen der Umgebung des Herrn
Bulemann gelungen, das noch am Hause in ungewisser Erinnerung hängt, lange
danach, als die Zeit Bulemanns nach menschlichem Maße in die Vergangenheit
versunken war.

Die Vergangenheit und die Erinnerung daran! Das ist ein anderer Zauber,
der unlöslich mit Storms Schaffen verknüpft ist. Auch er ist in die Märchen
übergegangen. Lebt Bulemann noch? Der Nachtwächter will ihn einmal in
mondheller Nacht gesehen haben. Ein übermütiger Bursche hat einst den Tür¬
klopfer angeschlagen und das Springen großer Tiere gehört. Man weiß nichts
Gewisses. Nur der Dichter ahnt alles. Ein alter Organist draußen in der
Vorstadt, der nun auch schon längst tot ist, hat davon erzählt. Im „Spiegel
des Cyprianus" taucht die Geschichte des unheilvollen und doch segenbringendeu
Spiegels in der Erzählung der alten Kammerfrau aus der Familiengeschichte
des Schloßgeschlechtes auf, Erinnerungen auch in der gütigen Schloßfrau weckend
und dadurch erst das volle Verständnis alles Geschehens erschließend.

Und nun noch die Form: Storm begnügt sich nicht damit, die Märchen
zu erzählen. Allen dreien, „Regentrude", „Bulemanns Haus" und „Spiegel
des Cyprianus", gibt er eine Einkleidung mit stark realistischen Zügen, vor
allem der „Regentrude." Das Märchen steckt hier in einer vollständig aus¬
geführten Dorfgeschichte. In „Bulemanns Haus" ist der Kern das Bild eines
Geizhalses inmitten seiner nicht auf ehrliche Weise erworbenen Schätze, der seine
Schwester mit ihren: kranken Kinde roh von sich stößt. „Der Spiegel des
Cyprianus" erzählt vom gütigen Walten der zweiten Frau des Schloßherrn,
die durch ihre Liebe den todkranken Stiefsohn gesund pflegt. Selbstverständlich
kann dem Dichter kein Vorwurf um dieser Züge selbst willen gemacht werden.
Aber er unterläßt es — außer in „Bulemanns Haus", von Storm darum das
in sich vollendetste genannt —, die Märchenwelt mit der Wirklichkeit unlöslich


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[0272] Storms Märchen Gelangweilt wendet sich der Leser von ihm. Storm wußte Maß zu halten. Es ist bezeichnend, daß er als der feinsinnige Märchenkenner nicht die „Regentrude" als seinen Liebling bezeichnet, sondern den „Spiegel des Cyprianus", das Märchen, das dem Volksmärchen am nächsten kommt, weil in ihm Schilderung und Naturbild als Zweck fehlen. Auf dem Naturbilde beruht in allen Werken Storms der Zauber seiner Persönlichkeit. Er weiß das Bild in einer Form zu geben, die das Zuständ¬ liche in reine Kunst auflöst. Wir nennen diese nicht wiederzugebende Seite seiner Poesie ihren Stimmungsgehalt. Sie ist bei Storm so intensiv, vor allem in seinen früheren Erzählungen, daß sie ihre Wirkung auf sinnige Gemüter nie verfehlt. Sie gibt seiner Dichtung den charakteristischen Ton. Storm schildert nicht nur das dürre Feld und die dürre Wiese in der „Regentrude"; Menschen¬ leben, Naturszenerie, Verzagtheit, bange Erwartung, Hoffnungsseligkeit und seliges Glücksgefühl in der Erfüllung aller Wünsche geben zusammen ein Gemälde, über dem Schwüle und befreiendes Aufatmen von tiefem Drucke ruhen. In gleicher Vollendung ist das unheimliche Grauen der Umgebung des Herrn Bulemann gelungen, das noch am Hause in ungewisser Erinnerung hängt, lange danach, als die Zeit Bulemanns nach menschlichem Maße in die Vergangenheit versunken war. Die Vergangenheit und die Erinnerung daran! Das ist ein anderer Zauber, der unlöslich mit Storms Schaffen verknüpft ist. Auch er ist in die Märchen übergegangen. Lebt Bulemann noch? Der Nachtwächter will ihn einmal in mondheller Nacht gesehen haben. Ein übermütiger Bursche hat einst den Tür¬ klopfer angeschlagen und das Springen großer Tiere gehört. Man weiß nichts Gewisses. Nur der Dichter ahnt alles. Ein alter Organist draußen in der Vorstadt, der nun auch schon längst tot ist, hat davon erzählt. Im „Spiegel des Cyprianus" taucht die Geschichte des unheilvollen und doch segenbringendeu Spiegels in der Erzählung der alten Kammerfrau aus der Familiengeschichte des Schloßgeschlechtes auf, Erinnerungen auch in der gütigen Schloßfrau weckend und dadurch erst das volle Verständnis alles Geschehens erschließend. Und nun noch die Form: Storm begnügt sich nicht damit, die Märchen zu erzählen. Allen dreien, „Regentrude", „Bulemanns Haus" und „Spiegel des Cyprianus", gibt er eine Einkleidung mit stark realistischen Zügen, vor allem der „Regentrude." Das Märchen steckt hier in einer vollständig aus¬ geführten Dorfgeschichte. In „Bulemanns Haus" ist der Kern das Bild eines Geizhalses inmitten seiner nicht auf ehrliche Weise erworbenen Schätze, der seine Schwester mit ihren: kranken Kinde roh von sich stößt. „Der Spiegel des Cyprianus" erzählt vom gütigen Walten der zweiten Frau des Schloßherrn, die durch ihre Liebe den todkranken Stiefsohn gesund pflegt. Selbstverständlich kann dem Dichter kein Vorwurf um dieser Züge selbst willen gemacht werden. Aber er unterläßt es — außer in „Bulemanns Haus", von Storm darum das in sich vollendetste genannt —, die Märchenwelt mit der Wirklichkeit unlöslich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/272>, abgerufen am 29.12.2024.