Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.Reichssxiegel langsam und allmählich wird abstreifen können, während das Elsaß dank seiner Was beide einst französischen Provinzen jetzt eint, ist das gemeinsame Geschick, Als Bismarck am 2. Mai 1871 die Debatte über die Vereinigung von Elsaß Diese Eigenschaften aber sind -- wir sprechen im folgenden zunächst nur von Dieses Erbteil war aber auch eine der wenigen guten Folgeerscheinungen Dieser Fall trat für die Bewohner des Elsaß ein nach ihrer von Konflikten *) Die durch Anführungsstriche gekennzeichneten Stellen sind den bekannten Arbeiten von F. Kiener: "Die elsässische Bourgeoisie", und Werner Wittich: "Kultur und Nationalbewußtsein im Elsaß", entnommen. Grenzboten III 1911 30
Reichssxiegel langsam und allmählich wird abstreifen können, während das Elsaß dank seiner Was beide einst französischen Provinzen jetzt eint, ist das gemeinsame Geschick, Als Bismarck am 2. Mai 1871 die Debatte über die Vereinigung von Elsaß Diese Eigenschaften aber sind — wir sprechen im folgenden zunächst nur von Dieses Erbteil war aber auch eine der wenigen guten Folgeerscheinungen Dieser Fall trat für die Bewohner des Elsaß ein nach ihrer von Konflikten *) Die durch Anführungsstriche gekennzeichneten Stellen sind den bekannten Arbeiten von F. Kiener: „Die elsässische Bourgeoisie", und Werner Wittich: „Kultur und Nationalbewußtsein im Elsaß", entnommen. Grenzboten III 1911 30
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Reichssxiegel
langsam und allmählich wird abstreifen können, während das Elsaß dank seiner
besonderen Entwicklung selbstbewußt seine eigenen Wege geht.
Was beide einst französischen Provinzen jetzt eint, ist das gemeinsame Geschick,
die ohne ihr Zutun erfolgte Trennung von Frankreich und Angliederung an das
Deutsche Reich — und die gemeinsame Zukunft.
Als Bismarck am 2. Mai 1871 die Debatte über die Vereinigung von Elsaß
und Lothringen mit dem Deutschen Reich eröffnete und dem Reichstage eine wohl¬
wollende, nicht siegermäßige Behandlung der Vorlage empfahl, da rechnete er mit
Faktoren, die sich aus der „deutschen" Vergangenheit der beiden Provinzen ergaben
und auch seiner staatsmännischen Einsicht und Kenntnis der Geschichte nicht hatten
entgehen dürfen. Auch zögerte Bismarck nicht anzuerkennen, daß Tüchtigkeit und
Ordnungsliebe, dienstliche Zuverlässigkeit im Zivil- und Militärdienst den Söhnen
die,er Provinzen ein gewisses Übergewicht über ihre rein französischen Landsleute ver¬
liehen hatten, woraus sich die unverhältnismäßig hohe Beteiligungsziffer der
elsässischen Bevölkerung am französischen Staatsdienst — das Militärwesen ein¬
geschlossen — erkläre.
Diese Eigenschaften aber sind — wir sprechen im folgenden zunächst nur von
dem Elsaß — nicht entstanden in der immerhin kurzen Zeit französischer Herrschaft,
sie waren vielmehr ein Erbteil der deutschen staatlichen und reichsstädtischen Ent¬
wicklung; — denn „wie kein anderes Land in Europa" hat „das Deutsche Reich
seineni Bürgertume lange Jahrhunderte hindurch eine beispiellose Selbständigkeit
und Raum sich zu entwickeln gegeben" (und oft geben müssen), „sreiheitspendend
zog im Mittelalter das Reich durch die elsässischen Städte"*).
Dieses Erbteil war aber auch eine der wenigen guten Folgeerscheinungen
die die politische Zerrissenheit des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation
gezeitigt hatte, ja zeitigen mußte. Wo die imaginäre Reichsgewalt untätig geblieben
war oder nicht hatte durchdringen können, da waren schließlich die größeren oder
kleineren Verbände im Reich — angefangen von der einzelnen Sippe über die
städtischen Gemeinwesen hinweg bis zu den staatlichen Kleineinheiten — darauf
angewiesen gewesen, für sich selbst zu sorgen durch eigene Leistungen und zweck¬
mäßigen Zusammenschluß vorübergehender oder dauernder Art. Daß damit eine
starke individuelle Entwicklung kommen mußte, ist klar; und es ist nicht minder
begreiflich, daß Individuen und städtische wie staatliche Verbände damit einen
besonders selbstbewußten und befähigten Charakter erhalten mußten. Ebenso
begreiflich ist es, daß derartige Elemente, stets von dem Wunsche nach Betätigung
beseelt, versuchten, in einem großen Einheitsstaate an die Oberfläche zu kommen,
wo der neue große Rahmen mit Rücksicht auf die besondere Entwicklung des
Landes das Maß der individuellen und städtischen Selbständigkeit im eigenen
kleinen Kreise stark beschränkte.
Dieser Fall trat für die Bewohner des Elsaß ein nach ihrer von Konflikten
wenig verschont gebliebenen Einverleibung in den zentralistisch regierten französischen
Staatskörper. „Zähe und berechnende Bedächtigkeit, nüchterne Umsicht ohne Größe
*) Die durch Anführungsstriche gekennzeichneten Stellen sind den bekannten Arbeiten von
F. Kiener: „Die elsässische Bourgeoisie", und Werner Wittich: „Kultur und Nationalbewußtsein
im Elsaß", entnommen.
Grenzboten III 1911 30
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