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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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f>ilatuswa"derungen im sechzehnten Jahrhundert

Gern hätte Gesner das etwa eine Wegstunde entfernte sagemeiche Moon-
loch, einen nach der Erzählung der Sennen sehr ausgedehnten Höhlengang,
besucht, aber dazu war die Zeit schon zu weit vorgerückt; zudem drohte Regen.
Die Wanderer machten sich daher vom Pilatussee aus auf den Rückweg und
kamen bei Eintritt der Dunkelheit wieder in Luzern an.

Gesner war überaus befriedigt von dieser Bergfahrt, aber nicht nur als
Naturfreund, sondern auch als Naturforscher. Er hatte vor allen Dingen
reichlich Gelegenheit zu botanischen Studien gehabt und einige sechzig zum Teil
seltene Pflanzen gefunden und bestimmt. Seine Begeisterung für alles, was
mit feinen geliebten Bergen zusammenhing, und sein Eifer, dem nichts zu
unbedeutend erschien, veranlaßte ihn sogar, ein ziemlich reichhaltiges Verzeichnis
der Milchspeisen aufzustellen, deren Genuß ihn und seine Freunde erquickt hatte;
gewissenhaft zählt er sie auf von dem Zieger und der süßen, fettreichen Milch der Sennen
bis zu dem ausgezeichneten Engelberger Käse, den man ihnen in Luzern vorsetzte.

Wenige Jahre später (1560) maß der Luzerner Renward Cnsat, der den
Berggipfel wiederholt besucht und auch eine Anzahl Pilatussagen aufgezeichnet
hat, die beiden dort befindlichen Seen: der größere hatte eine Länge von 154
und eine Breite von 78 Fuß und zeigte eine ovale Gestalt; der kleinere, dessen
Wasser übrigens etwas Heller erschien, war rund und hatte einen Durchmesser
von 50 Fuß; die Tiefe beider betrug etwa 4 Fuß.

Wie zäh der Pilatusaberglaube im Volke haftete, erhellt besonders
daraus, daß noch im Jahre 1585 der Luzerner Pfarrer Johannes Müller mit
mehreren Begleitern den Pilatus in der Absicht erstieg, dem törichten Wahn
für immer ein Ende zu machen. An: See angekommen, rief man laut die
höhnenden Worte: "Pilat. wirf us din Kat (Kot)!" Aber nichts rührte sich.
Man warf Steine in das Wasser, aber kein Ungewitter entstand. Es mußte
sogar ein Diener den See durchwaten, um zu zeigen, daß dieser weder boden¬
los tief sei noch feurige Dünste aushauche. Doch auch das genügte nicht, um
den Aberglauben im Volke gänzlich auszurotten, und ebensowenig der Umstand,
daß im Jahre 1594 der See auf Veranlassung der Luzerner Behörden größten¬
teils abgegraben wurde, ohne daß der Spuk sich zeigte. Capeller teilt in seiner
1767 über den Pilatus veröffentlichen Schrift mit, daß damals die Sennen
oben am Berge allabendlich einen Segensspruch durch den Milchtrichter riefen,
um während der Nacht den Zorn des Pilatus von sich und ihrem Vieh
abzuwenden; und noch heute erzählen die Hirten, wenn sie abends um das
Herdfeuer sitzen, von grausigen Dingen, die sich am Pilatus zutragen: scheu߬
liche Drachen fliegen am lichten Tage von den Zinnen des Berges nach dem
Rigi hinüber, gräßliche Würmer Hausen in seinen Klüften, höllische Jäger durch¬
fahren nachts die Lüfte, und allerlei tückisches Zwergvolk treibt in den Höhlen
sein Wesen.




f>ilatuswa»derungen im sechzehnten Jahrhundert

Gern hätte Gesner das etwa eine Wegstunde entfernte sagemeiche Moon-
loch, einen nach der Erzählung der Sennen sehr ausgedehnten Höhlengang,
besucht, aber dazu war die Zeit schon zu weit vorgerückt; zudem drohte Regen.
Die Wanderer machten sich daher vom Pilatussee aus auf den Rückweg und
kamen bei Eintritt der Dunkelheit wieder in Luzern an.

Gesner war überaus befriedigt von dieser Bergfahrt, aber nicht nur als
Naturfreund, sondern auch als Naturforscher. Er hatte vor allen Dingen
reichlich Gelegenheit zu botanischen Studien gehabt und einige sechzig zum Teil
seltene Pflanzen gefunden und bestimmt. Seine Begeisterung für alles, was
mit feinen geliebten Bergen zusammenhing, und sein Eifer, dem nichts zu
unbedeutend erschien, veranlaßte ihn sogar, ein ziemlich reichhaltiges Verzeichnis
der Milchspeisen aufzustellen, deren Genuß ihn und seine Freunde erquickt hatte;
gewissenhaft zählt er sie auf von dem Zieger und der süßen, fettreichen Milch der Sennen
bis zu dem ausgezeichneten Engelberger Käse, den man ihnen in Luzern vorsetzte.

Wenige Jahre später (1560) maß der Luzerner Renward Cnsat, der den
Berggipfel wiederholt besucht und auch eine Anzahl Pilatussagen aufgezeichnet
hat, die beiden dort befindlichen Seen: der größere hatte eine Länge von 154
und eine Breite von 78 Fuß und zeigte eine ovale Gestalt; der kleinere, dessen
Wasser übrigens etwas Heller erschien, war rund und hatte einen Durchmesser
von 50 Fuß; die Tiefe beider betrug etwa 4 Fuß.

Wie zäh der Pilatusaberglaube im Volke haftete, erhellt besonders
daraus, daß noch im Jahre 1585 der Luzerner Pfarrer Johannes Müller mit
mehreren Begleitern den Pilatus in der Absicht erstieg, dem törichten Wahn
für immer ein Ende zu machen. An: See angekommen, rief man laut die
höhnenden Worte: „Pilat. wirf us din Kat (Kot)!" Aber nichts rührte sich.
Man warf Steine in das Wasser, aber kein Ungewitter entstand. Es mußte
sogar ein Diener den See durchwaten, um zu zeigen, daß dieser weder boden¬
los tief sei noch feurige Dünste aushauche. Doch auch das genügte nicht, um
den Aberglauben im Volke gänzlich auszurotten, und ebensowenig der Umstand,
daß im Jahre 1594 der See auf Veranlassung der Luzerner Behörden größten¬
teils abgegraben wurde, ohne daß der Spuk sich zeigte. Capeller teilt in seiner
1767 über den Pilatus veröffentlichen Schrift mit, daß damals die Sennen
oben am Berge allabendlich einen Segensspruch durch den Milchtrichter riefen,
um während der Nacht den Zorn des Pilatus von sich und ihrem Vieh
abzuwenden; und noch heute erzählen die Hirten, wenn sie abends um das
Herdfeuer sitzen, von grausigen Dingen, die sich am Pilatus zutragen: scheu߬
liche Drachen fliegen am lichten Tage von den Zinnen des Berges nach dem
Rigi hinüber, gräßliche Würmer Hausen in seinen Klüften, höllische Jäger durch¬
fahren nachts die Lüfte, und allerlei tückisches Zwergvolk treibt in den Höhlen
sein Wesen.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/233>, abgerufen am 07.01.2025.