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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Pilatuswandernngen im sechzehnten Jahrhundert

Endlich war man auf dem Gipfel des Berges angelangt. Hier bot sich
den Wanderern eine entzückende Aussicht, namentlich nach dem Vierwaldstätter
See und dem Entlebuch hin. Überragt wurde der Scheitel von einem steilen
Felsen, an dem Gesner eine ganze Anzahl in den Stein gehauener Namen
früherer Pilatusbesucher nebst Jahreszahl, Wappen usw. fand. Auf dieser Höhe
hatte, so erzählte man, vorzeiten des Pilatus Geist sein spukhaftes Wesen
getrieben, bis ihn ein fahrender Schüler in den Sumpf bannte; aber alljährlich
am Karfreitag kann man das Gespenst mit seinem taubengrauen langen Haar
und Bart mitten im See auf einem Sessel sitzen sehen. Unterhalb dieser Klippe
zeigt noch ein inmitten grünenden Rasens befindlicher Fleck ohne Gras und
Blume die Stelle an, wo der Fahrende einst die Beschwörung vornahm. Nun
besichtigten die Wanderer auch den unweit hiervon in einer Senkung eingebetteten
Pilatussee; dicht daneben fanden sie einen kleinen Tümpel, in dem das Weib
des Landpflegers als Gespenst Hausen sollte.

Gesner steht der Pilatussage als nüchterner Forscher gegenüber. Er glaubt
überhaupt nicht daran, daß der Leichnam des Pilatus je an diesen Ort gebracht
sei, und noch weniger, daß dessen Geist hier sein Unwesen treibe. Infolge des
noch immer bestehenden Verbotes konnte er, wie einst Vadian, die angeblich
unergründliche Tiefe des Beckens nicht messen. Dagegen meint er in der Lage
zu sein, die auffallende Unveränderlichkeit des Wasserstandes als auf natürlichen
Vorgängen beruhend zu erklären: er findet den Hauptgrund dieser
Erscheinung in der moorigen Beschaffenheit des umliegenden Geländes, das
alles von den Höhen herabrinnende Wasser aussauge, bevor dieses in den
Weiher gelange.

Ebensowenig glaubt er an das Märchen, daß der See bei der geringsten
Berührung aufwalle und unter furchtbarem Unwetter das Land in weitem
Umkreis überschwemme. Es bedürfte für ihn gar nicht der Tatsache, daß vor
etlichen Jahren ein furchtloser Mann am Ufer des Weihers dem Landpfleger
höhnende Worte zugerufen und einen Stock in das Wasser geworfen hatte, ohne
daß irgend etwas erfolgte; ihm kommt es nur darauf an, natürliche Gründe
dafür ausfindig zu machen, daß nicht selten die die Abhänge des Pilatus hinab¬
eilenden Wasserläufe ganz unerwartet anschwellen. Er erblickt sie zunächst in
dem Umstände, daß hier oben häufig starke Regengüsse erfolgen und plötzlich
Schneeschmelze eintritt. Doch scheinen ihm noch andere Ursachen mitzusprechen:
es sind besonders die in den Klüften und Hohlräumen des gewaltigen Berges
sich ansammelnden Wassermassen, die infolge von Erschütterungen und Ver¬
schiebungen des Gesteins, durch den Druck und die ausnagende Wirkung des
Wassers zuweilen ihre Behälter sprengen und dann mit furchtbarer Wucht zu
Tale stürzen. So wenig aber die Züricher und die Baseler einen: bösen Geiste
die Schuld geben, wenn einmal die sieht oder die Birs ungestüm werden, ebenso¬
wenig hat man nach seiner Ansicht in Luzern Veranlassung, das Anschwellen des
Kriensbaches auf den Zorn des gereizten Pilatus zurückzuführen.


Pilatuswandernngen im sechzehnten Jahrhundert

Endlich war man auf dem Gipfel des Berges angelangt. Hier bot sich
den Wanderern eine entzückende Aussicht, namentlich nach dem Vierwaldstätter
See und dem Entlebuch hin. Überragt wurde der Scheitel von einem steilen
Felsen, an dem Gesner eine ganze Anzahl in den Stein gehauener Namen
früherer Pilatusbesucher nebst Jahreszahl, Wappen usw. fand. Auf dieser Höhe
hatte, so erzählte man, vorzeiten des Pilatus Geist sein spukhaftes Wesen
getrieben, bis ihn ein fahrender Schüler in den Sumpf bannte; aber alljährlich
am Karfreitag kann man das Gespenst mit seinem taubengrauen langen Haar
und Bart mitten im See auf einem Sessel sitzen sehen. Unterhalb dieser Klippe
zeigt noch ein inmitten grünenden Rasens befindlicher Fleck ohne Gras und
Blume die Stelle an, wo der Fahrende einst die Beschwörung vornahm. Nun
besichtigten die Wanderer auch den unweit hiervon in einer Senkung eingebetteten
Pilatussee; dicht daneben fanden sie einen kleinen Tümpel, in dem das Weib
des Landpflegers als Gespenst Hausen sollte.

Gesner steht der Pilatussage als nüchterner Forscher gegenüber. Er glaubt
überhaupt nicht daran, daß der Leichnam des Pilatus je an diesen Ort gebracht
sei, und noch weniger, daß dessen Geist hier sein Unwesen treibe. Infolge des
noch immer bestehenden Verbotes konnte er, wie einst Vadian, die angeblich
unergründliche Tiefe des Beckens nicht messen. Dagegen meint er in der Lage
zu sein, die auffallende Unveränderlichkeit des Wasserstandes als auf natürlichen
Vorgängen beruhend zu erklären: er findet den Hauptgrund dieser
Erscheinung in der moorigen Beschaffenheit des umliegenden Geländes, das
alles von den Höhen herabrinnende Wasser aussauge, bevor dieses in den
Weiher gelange.

Ebensowenig glaubt er an das Märchen, daß der See bei der geringsten
Berührung aufwalle und unter furchtbarem Unwetter das Land in weitem
Umkreis überschwemme. Es bedürfte für ihn gar nicht der Tatsache, daß vor
etlichen Jahren ein furchtloser Mann am Ufer des Weihers dem Landpfleger
höhnende Worte zugerufen und einen Stock in das Wasser geworfen hatte, ohne
daß irgend etwas erfolgte; ihm kommt es nur darauf an, natürliche Gründe
dafür ausfindig zu machen, daß nicht selten die die Abhänge des Pilatus hinab¬
eilenden Wasserläufe ganz unerwartet anschwellen. Er erblickt sie zunächst in
dem Umstände, daß hier oben häufig starke Regengüsse erfolgen und plötzlich
Schneeschmelze eintritt. Doch scheinen ihm noch andere Ursachen mitzusprechen:
es sind besonders die in den Klüften und Hohlräumen des gewaltigen Berges
sich ansammelnden Wassermassen, die infolge von Erschütterungen und Ver¬
schiebungen des Gesteins, durch den Druck und die ausnagende Wirkung des
Wassers zuweilen ihre Behälter sprengen und dann mit furchtbarer Wucht zu
Tale stürzen. So wenig aber die Züricher und die Baseler einen: bösen Geiste
die Schuld geben, wenn einmal die sieht oder die Birs ungestüm werden, ebenso¬
wenig hat man nach seiner Ansicht in Luzern Veranlassung, das Anschwellen des
Kriensbaches auf den Zorn des gereizten Pilatus zurückzuführen.


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[0232] Pilatuswandernngen im sechzehnten Jahrhundert Endlich war man auf dem Gipfel des Berges angelangt. Hier bot sich den Wanderern eine entzückende Aussicht, namentlich nach dem Vierwaldstätter See und dem Entlebuch hin. Überragt wurde der Scheitel von einem steilen Felsen, an dem Gesner eine ganze Anzahl in den Stein gehauener Namen früherer Pilatusbesucher nebst Jahreszahl, Wappen usw. fand. Auf dieser Höhe hatte, so erzählte man, vorzeiten des Pilatus Geist sein spukhaftes Wesen getrieben, bis ihn ein fahrender Schüler in den Sumpf bannte; aber alljährlich am Karfreitag kann man das Gespenst mit seinem taubengrauen langen Haar und Bart mitten im See auf einem Sessel sitzen sehen. Unterhalb dieser Klippe zeigt noch ein inmitten grünenden Rasens befindlicher Fleck ohne Gras und Blume die Stelle an, wo der Fahrende einst die Beschwörung vornahm. Nun besichtigten die Wanderer auch den unweit hiervon in einer Senkung eingebetteten Pilatussee; dicht daneben fanden sie einen kleinen Tümpel, in dem das Weib des Landpflegers als Gespenst Hausen sollte. Gesner steht der Pilatussage als nüchterner Forscher gegenüber. Er glaubt überhaupt nicht daran, daß der Leichnam des Pilatus je an diesen Ort gebracht sei, und noch weniger, daß dessen Geist hier sein Unwesen treibe. Infolge des noch immer bestehenden Verbotes konnte er, wie einst Vadian, die angeblich unergründliche Tiefe des Beckens nicht messen. Dagegen meint er in der Lage zu sein, die auffallende Unveränderlichkeit des Wasserstandes als auf natürlichen Vorgängen beruhend zu erklären: er findet den Hauptgrund dieser Erscheinung in der moorigen Beschaffenheit des umliegenden Geländes, das alles von den Höhen herabrinnende Wasser aussauge, bevor dieses in den Weiher gelange. Ebensowenig glaubt er an das Märchen, daß der See bei der geringsten Berührung aufwalle und unter furchtbarem Unwetter das Land in weitem Umkreis überschwemme. Es bedürfte für ihn gar nicht der Tatsache, daß vor etlichen Jahren ein furchtloser Mann am Ufer des Weihers dem Landpfleger höhnende Worte zugerufen und einen Stock in das Wasser geworfen hatte, ohne daß irgend etwas erfolgte; ihm kommt es nur darauf an, natürliche Gründe dafür ausfindig zu machen, daß nicht selten die die Abhänge des Pilatus hinab¬ eilenden Wasserläufe ganz unerwartet anschwellen. Er erblickt sie zunächst in dem Umstände, daß hier oben häufig starke Regengüsse erfolgen und plötzlich Schneeschmelze eintritt. Doch scheinen ihm noch andere Ursachen mitzusprechen: es sind besonders die in den Klüften und Hohlräumen des gewaltigen Berges sich ansammelnden Wassermassen, die infolge von Erschütterungen und Ver¬ schiebungen des Gesteins, durch den Druck und die ausnagende Wirkung des Wassers zuweilen ihre Behälter sprengen und dann mit furchtbarer Wucht zu Tale stürzen. So wenig aber die Züricher und die Baseler einen: bösen Geiste die Schuld geben, wenn einmal die sieht oder die Birs ungestüm werden, ebenso¬ wenig hat man nach seiner Ansicht in Luzern Veranlassung, das Anschwellen des Kriensbaches auf den Zorn des gereizten Pilatus zurückzuführen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/232>, abgerufen am 08.01.2025.