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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Pilatuswanderungen im sechzehnten Jahrhundert

wurden schon seit dem vierzehnten Jahrhundert alljährlich beim Auftrieb auf
die Alm die hoch oben am Berge ihre Herden weidenden Sennen eidlich ver¬
pflichtet, keinem Unbefugter den Weg zum See zu zeigen, gegen das Verbot
Handelnde aber festzunehmen. So heißt es in einer alten Urkunde von Peter
Rüttimann, einem Sennen, der gegen Entrichtung eines geringen Zinses mit
einer Alp im Eigental belehnt wurde: "Der soll auch den Berg und die Straße
zum Pilatussee, so gut er kann, bewahren und versorgen, damit niemand hinauf¬
gehe, davon Schaden oder Unheil entstehen möchte." Ganz ähnlich wird übrigens
von dein in der Mark Ancona auf dem Scheitel des Monte Pilato gelegenen
See erzählt, daß dort schon im vierzehnten Jahrhundert den Sommer über
beständig Wachtposten aufgestellt waren, um zu verhindern, daß Jünger der
Magie ihre Zauberbücher am See weihten und dadurch Unwetter hervorriefen.

Aber auch in späteren Zeiten war das Interesse für den Pilatusberg mit
dem geheimnisvollen See keineswegs erloschen. Im Jahre 1519 erstieg ihn
der damals von Land und Leuten vertriebene Herzog Ulrich von Württemberg,
und im August des nämlichen Jahres machte sich Joachim Vadian, der bekannte
Sankt Galler Geschichtschreiber, zu dem gleichen Zwecke auf den Weg; er wollte
sich persönlich an Ort und Stelle überzeugen, was an der Erzählung von den
rätselhaften Eigenschaften des Pilatussees Wahres wäre. Von Luzern aus, wo
er in dem Hause des gastfreien Kanonikus Johannes Zimmermann Unterkunft
gefunden hatte, ritt er in Begleitung zweier Freunde, des gelehrten Oswald
Myconius und seines späteren Schwagers Konrad Gredel, in aller Frühe bis
an den Fuß des Pilatus; dann ging es steiler hinan, etwa bis zur halben
Höhe des Berges. Hier stiegen sie ab und ließen die Tiere auf den Matten
grasen, während sie selbst eine kurze Rast hielte". Dann begannen sie, geführt
von einem Hirten, auf rauhem Pfade, der im Zickzack zwischen gewaltigen
Felsen steil emporführte, hinanzuklettern. Hatte übrigens Vadian gehofft, den
See genauer untersuchen zu können, so täuschte er sich: je näher man dem
Berggipfel kam, desto ängstlicher wurde der Senne. "Er tat geradeso," erzählt
Vadian, "als ob er die Fremden zu einem Heiligtum führe, bat sie, Schweigen
zu beobachten, und nahm ihnen das feierliche Versprechen ab, keinen Gegenstand
in den See hineinzuwerfen, da sonst sein Leben auf dem Spiele stünde."

Endlich kamen die Wanderer schweißtriefend oben an. Zu ihren Füßen
lag unterhalb der höchsten Erhebung in einer weiten kreisförmigen Senkung der
in düsterem Nadelholz versteckte kleine Bergsee, dessen Ufer spärliches Schilf
umsäumte. Kein Lufthauch bewegte das schwarze Gewässer. In dieser Einöde
wurde es den Freunden fast unheimlich zumute, und Vadian war beinahe
versucht, der alten Sage Glauben zu schenken, daß Pilatus in der Amtstracht
eines römischen Landpflegers im Wasser zu sehen sei und daß, wer ihn erblicke,
das Jahr nicht überleben werde. Da er aus Rücksicht auf das dem Sennen
gegebene Versprechen den See selbst nicht näher untersuchen konnte, so mußte er
sich zu seinem Bedauern mit einer Besichtigung des Geländes und den Mitteilungen


Grenzbotsn lit 1911 23
Pilatuswanderungen im sechzehnten Jahrhundert

wurden schon seit dem vierzehnten Jahrhundert alljährlich beim Auftrieb auf
die Alm die hoch oben am Berge ihre Herden weidenden Sennen eidlich ver¬
pflichtet, keinem Unbefugter den Weg zum See zu zeigen, gegen das Verbot
Handelnde aber festzunehmen. So heißt es in einer alten Urkunde von Peter
Rüttimann, einem Sennen, der gegen Entrichtung eines geringen Zinses mit
einer Alp im Eigental belehnt wurde: „Der soll auch den Berg und die Straße
zum Pilatussee, so gut er kann, bewahren und versorgen, damit niemand hinauf¬
gehe, davon Schaden oder Unheil entstehen möchte." Ganz ähnlich wird übrigens
von dein in der Mark Ancona auf dem Scheitel des Monte Pilato gelegenen
See erzählt, daß dort schon im vierzehnten Jahrhundert den Sommer über
beständig Wachtposten aufgestellt waren, um zu verhindern, daß Jünger der
Magie ihre Zauberbücher am See weihten und dadurch Unwetter hervorriefen.

Aber auch in späteren Zeiten war das Interesse für den Pilatusberg mit
dem geheimnisvollen See keineswegs erloschen. Im Jahre 1519 erstieg ihn
der damals von Land und Leuten vertriebene Herzog Ulrich von Württemberg,
und im August des nämlichen Jahres machte sich Joachim Vadian, der bekannte
Sankt Galler Geschichtschreiber, zu dem gleichen Zwecke auf den Weg; er wollte
sich persönlich an Ort und Stelle überzeugen, was an der Erzählung von den
rätselhaften Eigenschaften des Pilatussees Wahres wäre. Von Luzern aus, wo
er in dem Hause des gastfreien Kanonikus Johannes Zimmermann Unterkunft
gefunden hatte, ritt er in Begleitung zweier Freunde, des gelehrten Oswald
Myconius und seines späteren Schwagers Konrad Gredel, in aller Frühe bis
an den Fuß des Pilatus; dann ging es steiler hinan, etwa bis zur halben
Höhe des Berges. Hier stiegen sie ab und ließen die Tiere auf den Matten
grasen, während sie selbst eine kurze Rast hielte». Dann begannen sie, geführt
von einem Hirten, auf rauhem Pfade, der im Zickzack zwischen gewaltigen
Felsen steil emporführte, hinanzuklettern. Hatte übrigens Vadian gehofft, den
See genauer untersuchen zu können, so täuschte er sich: je näher man dem
Berggipfel kam, desto ängstlicher wurde der Senne. „Er tat geradeso," erzählt
Vadian, „als ob er die Fremden zu einem Heiligtum führe, bat sie, Schweigen
zu beobachten, und nahm ihnen das feierliche Versprechen ab, keinen Gegenstand
in den See hineinzuwerfen, da sonst sein Leben auf dem Spiele stünde."

Endlich kamen die Wanderer schweißtriefend oben an. Zu ihren Füßen
lag unterhalb der höchsten Erhebung in einer weiten kreisförmigen Senkung der
in düsterem Nadelholz versteckte kleine Bergsee, dessen Ufer spärliches Schilf
umsäumte. Kein Lufthauch bewegte das schwarze Gewässer. In dieser Einöde
wurde es den Freunden fast unheimlich zumute, und Vadian war beinahe
versucht, der alten Sage Glauben zu schenken, daß Pilatus in der Amtstracht
eines römischen Landpflegers im Wasser zu sehen sei und daß, wer ihn erblicke,
das Jahr nicht überleben werde. Da er aus Rücksicht auf das dem Sennen
gegebene Versprechen den See selbst nicht näher untersuchen konnte, so mußte er
sich zu seinem Bedauern mit einer Besichtigung des Geländes und den Mitteilungen


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[0229] Pilatuswanderungen im sechzehnten Jahrhundert wurden schon seit dem vierzehnten Jahrhundert alljährlich beim Auftrieb auf die Alm die hoch oben am Berge ihre Herden weidenden Sennen eidlich ver¬ pflichtet, keinem Unbefugter den Weg zum See zu zeigen, gegen das Verbot Handelnde aber festzunehmen. So heißt es in einer alten Urkunde von Peter Rüttimann, einem Sennen, der gegen Entrichtung eines geringen Zinses mit einer Alp im Eigental belehnt wurde: „Der soll auch den Berg und die Straße zum Pilatussee, so gut er kann, bewahren und versorgen, damit niemand hinauf¬ gehe, davon Schaden oder Unheil entstehen möchte." Ganz ähnlich wird übrigens von dein in der Mark Ancona auf dem Scheitel des Monte Pilato gelegenen See erzählt, daß dort schon im vierzehnten Jahrhundert den Sommer über beständig Wachtposten aufgestellt waren, um zu verhindern, daß Jünger der Magie ihre Zauberbücher am See weihten und dadurch Unwetter hervorriefen. Aber auch in späteren Zeiten war das Interesse für den Pilatusberg mit dem geheimnisvollen See keineswegs erloschen. Im Jahre 1519 erstieg ihn der damals von Land und Leuten vertriebene Herzog Ulrich von Württemberg, und im August des nämlichen Jahres machte sich Joachim Vadian, der bekannte Sankt Galler Geschichtschreiber, zu dem gleichen Zwecke auf den Weg; er wollte sich persönlich an Ort und Stelle überzeugen, was an der Erzählung von den rätselhaften Eigenschaften des Pilatussees Wahres wäre. Von Luzern aus, wo er in dem Hause des gastfreien Kanonikus Johannes Zimmermann Unterkunft gefunden hatte, ritt er in Begleitung zweier Freunde, des gelehrten Oswald Myconius und seines späteren Schwagers Konrad Gredel, in aller Frühe bis an den Fuß des Pilatus; dann ging es steiler hinan, etwa bis zur halben Höhe des Berges. Hier stiegen sie ab und ließen die Tiere auf den Matten grasen, während sie selbst eine kurze Rast hielte». Dann begannen sie, geführt von einem Hirten, auf rauhem Pfade, der im Zickzack zwischen gewaltigen Felsen steil emporführte, hinanzuklettern. Hatte übrigens Vadian gehofft, den See genauer untersuchen zu können, so täuschte er sich: je näher man dem Berggipfel kam, desto ängstlicher wurde der Senne. „Er tat geradeso," erzählt Vadian, „als ob er die Fremden zu einem Heiligtum führe, bat sie, Schweigen zu beobachten, und nahm ihnen das feierliche Versprechen ab, keinen Gegenstand in den See hineinzuwerfen, da sonst sein Leben auf dem Spiele stünde." Endlich kamen die Wanderer schweißtriefend oben an. Zu ihren Füßen lag unterhalb der höchsten Erhebung in einer weiten kreisförmigen Senkung der in düsterem Nadelholz versteckte kleine Bergsee, dessen Ufer spärliches Schilf umsäumte. Kein Lufthauch bewegte das schwarze Gewässer. In dieser Einöde wurde es den Freunden fast unheimlich zumute, und Vadian war beinahe versucht, der alten Sage Glauben zu schenken, daß Pilatus in der Amtstracht eines römischen Landpflegers im Wasser zu sehen sei und daß, wer ihn erblicke, das Jahr nicht überleben werde. Da er aus Rücksicht auf das dem Sennen gegebene Versprechen den See selbst nicht näher untersuchen konnte, so mußte er sich zu seinem Bedauern mit einer Besichtigung des Geländes und den Mitteilungen Grenzbotsn lit 1911 23

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/229>, abgerufen am 04.01.2025.