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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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j)ilatuswmiderungen im Sees^hüten Jahrhundert

er eine rechte Wohnung wilder Tiere und zumal eine furchtbare und greuliche
Wildnis." In ähnlicher Weise schildert ihn wenig später (um das Jahr 1500)
der Mailänder Balcus als einen von dichten Wäldern und schier undurch¬
dringlichem Gedörnig bedeckten, schaurig öden Berg; auf seinem Scheitel liegt
ein See, in den vorzeiten des Landpflegers Pontius Pilatus verfluchter Geist
gebannt wurde.

Genauere Angaben über diesen geheimnisvollen Berg macht übrigens schon
fünfzig Jahre vorher der Züricher Chorherr Felix Hemmerlin. Drei Seen finden
sich auf seinem Gipfel; von diesen ist einer nahezu rund und hat die Größe
von einem Juchart. Wer an sein Ufer tritt und dabei laut spricht und den
Namen des Pilatus nennt oder gar einen Gegenstand hineinwirft, der kommt
nicht ungestraft davon. Selbst bei heiterem Sonnenschein bricht urplötzlich ein
furchtbares Unwetter aus: der Himmel wird schwarz, ein heftiger Sturm
braust über des Berges Gipfel, und aus den geöffneten Schleusen der Wolken
stürzen Hagelschauer und gewaltige Regenmassen hernieder und überfluten das
Land ringsunl. Dagegen hat man beobachtet, daß der See ruhig bleibt, wenn
ein Mensch mit andächtigem Schweigen ihm naht oder wenn ein Tier in sein
Wasser tritt. Hemmerlin ist von vornherein nicht abgeneigt, die wunderbare
Entstehung dieser Unwetter mit der hohen Lage des Sees in Verbindung zu
bringen: dieser ragt anscheinend in die Region der Lüfte hinein, wo der Hagel
sich zu bilden pflegt. Aber schließlich verzichtet er doch wieder auf eine natürliche
Erklärung des Vorganges, da er nicht verstehen kann, warum nicht auch die
Erregung des Wasserspiegels durch ein Tier die Entstehung von Unwetter zur
Folge haben müsse.

Die Pilatussage, eine sonderbare Mischung von rein gelehrten und echt
volkstümlichen Bestandteilen, die übrigens in der Schweizer Überlieferung des
fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts in vielfach abweichender Gestalt erscheint,
übte schon früh eine starke Anziehungskraft auf Neugierige und Abergläubische
aus, und die besorgten Behörden von Luzern sahen sich deshalb, um Unheil
abzuwenden, genötigt, den Besuch des Pilatusgipfels und vollends jede mut¬
willige Beunruhigung des in den See gebannten Pilatusgeistes "bei Leib und
Leben und Gut" zu verbieten. Man befürchtete namentlich eine Überschwemmung
der Stadt durch den von den Bergen herabkommenden Kriensbach, der schon
häufig arge Verwüstungen angerichtet hatte. Trotzdem griffen, den Luzerner
Ratsakten zufolge, im Jahre 1387 sechs namentlich aufgeführte Geistliche aus
der Konstanzer Diözese zum Alpstock und traten die unheimliche Bergfahrt an.
Aber sie büßten ihren Wagemut: man griff sie und brachte sie in Luzern für
einige Zeit in Haft. Und weiter findet sich in dem ältesten Landbuch von
Obwalten der Vermerk, daß Leute unter Lärm und Trommelschlag den Pilatus
erstiegen hätten; es sei daher von der Landsgemeinde beschlossen worden, fortan
jeden, der sich des gleichen Vergehens schuldig mache, nach Tamm zu führen
und ohne Gnade in den Turm zu werfen. Um ähnlichen Unfug zu verhüten,


j)ilatuswmiderungen im Sees^hüten Jahrhundert

er eine rechte Wohnung wilder Tiere und zumal eine furchtbare und greuliche
Wildnis." In ähnlicher Weise schildert ihn wenig später (um das Jahr 1500)
der Mailänder Balcus als einen von dichten Wäldern und schier undurch¬
dringlichem Gedörnig bedeckten, schaurig öden Berg; auf seinem Scheitel liegt
ein See, in den vorzeiten des Landpflegers Pontius Pilatus verfluchter Geist
gebannt wurde.

Genauere Angaben über diesen geheimnisvollen Berg macht übrigens schon
fünfzig Jahre vorher der Züricher Chorherr Felix Hemmerlin. Drei Seen finden
sich auf seinem Gipfel; von diesen ist einer nahezu rund und hat die Größe
von einem Juchart. Wer an sein Ufer tritt und dabei laut spricht und den
Namen des Pilatus nennt oder gar einen Gegenstand hineinwirft, der kommt
nicht ungestraft davon. Selbst bei heiterem Sonnenschein bricht urplötzlich ein
furchtbares Unwetter aus: der Himmel wird schwarz, ein heftiger Sturm
braust über des Berges Gipfel, und aus den geöffneten Schleusen der Wolken
stürzen Hagelschauer und gewaltige Regenmassen hernieder und überfluten das
Land ringsunl. Dagegen hat man beobachtet, daß der See ruhig bleibt, wenn
ein Mensch mit andächtigem Schweigen ihm naht oder wenn ein Tier in sein
Wasser tritt. Hemmerlin ist von vornherein nicht abgeneigt, die wunderbare
Entstehung dieser Unwetter mit der hohen Lage des Sees in Verbindung zu
bringen: dieser ragt anscheinend in die Region der Lüfte hinein, wo der Hagel
sich zu bilden pflegt. Aber schließlich verzichtet er doch wieder auf eine natürliche
Erklärung des Vorganges, da er nicht verstehen kann, warum nicht auch die
Erregung des Wasserspiegels durch ein Tier die Entstehung von Unwetter zur
Folge haben müsse.

Die Pilatussage, eine sonderbare Mischung von rein gelehrten und echt
volkstümlichen Bestandteilen, die übrigens in der Schweizer Überlieferung des
fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts in vielfach abweichender Gestalt erscheint,
übte schon früh eine starke Anziehungskraft auf Neugierige und Abergläubische
aus, und die besorgten Behörden von Luzern sahen sich deshalb, um Unheil
abzuwenden, genötigt, den Besuch des Pilatusgipfels und vollends jede mut¬
willige Beunruhigung des in den See gebannten Pilatusgeistes „bei Leib und
Leben und Gut" zu verbieten. Man befürchtete namentlich eine Überschwemmung
der Stadt durch den von den Bergen herabkommenden Kriensbach, der schon
häufig arge Verwüstungen angerichtet hatte. Trotzdem griffen, den Luzerner
Ratsakten zufolge, im Jahre 1387 sechs namentlich aufgeführte Geistliche aus
der Konstanzer Diözese zum Alpstock und traten die unheimliche Bergfahrt an.
Aber sie büßten ihren Wagemut: man griff sie und brachte sie in Luzern für
einige Zeit in Haft. Und weiter findet sich in dem ältesten Landbuch von
Obwalten der Vermerk, daß Leute unter Lärm und Trommelschlag den Pilatus
erstiegen hätten; es sei daher von der Landsgemeinde beschlossen worden, fortan
jeden, der sich des gleichen Vergehens schuldig mache, nach Tamm zu führen
und ohne Gnade in den Turm zu werfen. Um ähnlichen Unfug zu verhüten,


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[0228] j)ilatuswmiderungen im Sees^hüten Jahrhundert er eine rechte Wohnung wilder Tiere und zumal eine furchtbare und greuliche Wildnis." In ähnlicher Weise schildert ihn wenig später (um das Jahr 1500) der Mailänder Balcus als einen von dichten Wäldern und schier undurch¬ dringlichem Gedörnig bedeckten, schaurig öden Berg; auf seinem Scheitel liegt ein See, in den vorzeiten des Landpflegers Pontius Pilatus verfluchter Geist gebannt wurde. Genauere Angaben über diesen geheimnisvollen Berg macht übrigens schon fünfzig Jahre vorher der Züricher Chorherr Felix Hemmerlin. Drei Seen finden sich auf seinem Gipfel; von diesen ist einer nahezu rund und hat die Größe von einem Juchart. Wer an sein Ufer tritt und dabei laut spricht und den Namen des Pilatus nennt oder gar einen Gegenstand hineinwirft, der kommt nicht ungestraft davon. Selbst bei heiterem Sonnenschein bricht urplötzlich ein furchtbares Unwetter aus: der Himmel wird schwarz, ein heftiger Sturm braust über des Berges Gipfel, und aus den geöffneten Schleusen der Wolken stürzen Hagelschauer und gewaltige Regenmassen hernieder und überfluten das Land ringsunl. Dagegen hat man beobachtet, daß der See ruhig bleibt, wenn ein Mensch mit andächtigem Schweigen ihm naht oder wenn ein Tier in sein Wasser tritt. Hemmerlin ist von vornherein nicht abgeneigt, die wunderbare Entstehung dieser Unwetter mit der hohen Lage des Sees in Verbindung zu bringen: dieser ragt anscheinend in die Region der Lüfte hinein, wo der Hagel sich zu bilden pflegt. Aber schließlich verzichtet er doch wieder auf eine natürliche Erklärung des Vorganges, da er nicht verstehen kann, warum nicht auch die Erregung des Wasserspiegels durch ein Tier die Entstehung von Unwetter zur Folge haben müsse. Die Pilatussage, eine sonderbare Mischung von rein gelehrten und echt volkstümlichen Bestandteilen, die übrigens in der Schweizer Überlieferung des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts in vielfach abweichender Gestalt erscheint, übte schon früh eine starke Anziehungskraft auf Neugierige und Abergläubische aus, und die besorgten Behörden von Luzern sahen sich deshalb, um Unheil abzuwenden, genötigt, den Besuch des Pilatusgipfels und vollends jede mut¬ willige Beunruhigung des in den See gebannten Pilatusgeistes „bei Leib und Leben und Gut" zu verbieten. Man befürchtete namentlich eine Überschwemmung der Stadt durch den von den Bergen herabkommenden Kriensbach, der schon häufig arge Verwüstungen angerichtet hatte. Trotzdem griffen, den Luzerner Ratsakten zufolge, im Jahre 1387 sechs namentlich aufgeführte Geistliche aus der Konstanzer Diözese zum Alpstock und traten die unheimliche Bergfahrt an. Aber sie büßten ihren Wagemut: man griff sie und brachte sie in Luzern für einige Zeit in Haft. Und weiter findet sich in dem ältesten Landbuch von Obwalten der Vermerk, daß Leute unter Lärm und Trommelschlag den Pilatus erstiegen hätten; es sei daher von der Landsgemeinde beschlossen worden, fortan jeden, der sich des gleichen Vergehens schuldig mache, nach Tamm zu führen und ohne Gnade in den Turm zu werfen. Um ähnlichen Unfug zu verhüten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/228>, abgerufen am 01.01.2025.