Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.Gerichte und öffentliche Meinung Grenzziehung zwischen zulässiger und unzulässiger Einwirkung auf die Gerichte, Soweit die genaue Feststellung tatsächlicher Vorgänge überhaupt möglich Damit hängt ein anderes zusammen. Wenn Herr Müller Frau Schulze Der Leitartikel eines Journalisten, die zehn dem Sinne nach gleichen Leit¬ Wenn eine Meinung aber "öffentlich" ist, ist sie mehr als bloße Meinung: Gerichte und öffentliche Meinung Grenzziehung zwischen zulässiger und unzulässiger Einwirkung auf die Gerichte, Soweit die genaue Feststellung tatsächlicher Vorgänge überhaupt möglich Damit hängt ein anderes zusammen. Wenn Herr Müller Frau Schulze Der Leitartikel eines Journalisten, die zehn dem Sinne nach gleichen Leit¬ Wenn eine Meinung aber „öffentlich" ist, ist sie mehr als bloße Meinung: <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0223" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319172"/> <fw type="header" place="top"> Gerichte und öffentliche Meinung</fw><lb/> <p xml:id="ID_1367" prev="#ID_1366"> Grenzziehung zwischen zulässiger und unzulässiger Einwirkung auf die Gerichte,<lb/> entscheidend aber nicht in dem Sinne, daß hier kraft selbstherrlicher Macht der<lb/> Logik eine Trennung vorgenommen würde, sondern einfach so, daß die Ergebnisse<lb/> praktischer Erwägung sich unter die logische Formel ordnen lasse:?.</p><lb/> <p xml:id="ID_1368"> Soweit die genaue Feststellung tatsächlicher Vorgänge überhaupt möglich<lb/> ist, taar sie jedenfalls erst in der kontradiktorischen Hauptverhandlung bei eidlicher<lb/> Vernehmung der Zeugen und Sachverständigen erfolgen. Der Presse nun, diesem<lb/> hauptsächlichen Organ der öffentlichen Meinung, steht dies wirksamste Mittel<lb/> der Wahrheitserforschung doch nicht zu Gebote. Wer was schadet's? wird<lb/> man sagen, gelingt es ihr, auch ohne dieses Mittel die Wahrheit ans Licht<lb/> zu bringen, desto verdienstlicher, und gelingt es nicht, uun, so steht es ja jedem<lb/> frei, sich neben oder anstatt der öffentlichen eine private Meinung zu bilden.<lb/> Doch hier liegt scholl ein sehr wichtiges Moment. Eben weil die Mittel der<lb/> Presse — und ebenso die von „Versannnlungen aller Art" (!) und der Parla¬<lb/> mente, für deren Einwirkung auf die Rechtsprechung Kulemaun eintritt — zur<lb/> Ermittlung der Wahrheit sehr gering sind, werden sich die besseren, gewissen¬<lb/> hafteren Vertreter der öffentlichen Meinung von solchen Arbeiten fernhalten;<lb/> denn welche innere Befriedigung kann es einem tüchtigen Menschen gewähren,<lb/> Material zu beschaffen und zu beurteilen, ohne die Möglichkeit zu haben, es auf<lb/> seiue Vollständigkeit und Richtigkeit genügend prüfen zu können? Sensations¬<lb/> lüsterne Skribenten allerdings werden sich durch solche Bedenken nicht abhalten lassen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1369"> Damit hängt ein anderes zusammen. Wenn Herr Müller Frau Schulze<lb/> auf 300 Mark verklagt, so wird schwerlich irgendein Journalist einen Leitartikel<lb/> verfassen, in dem er nachweist, daß die Forderung auf Grund dieser oder jener<lb/> Tatsachen berechtigt oder nicht berechtigt sei, sondern er wird stillschweigend den<lb/> Beteiligten sein Material zur Verfügung stellen, wenn er sich um die Sache<lb/> kümmern will. Aber für solche Fälle pflegt sich die öffentliche Meinung nicht<lb/> zu erwärmen, und ihre Organe pflegen sie damit nicht zu belästigen. Die<lb/> öffentliche Meinung interessiert sich nur, ja sie entsteht nur bei Sensations-<lb/> prozessen jeder Art.</p><lb/> <p xml:id="ID_1370"> Der Leitartikel eines Journalisten, die zehn dem Sinne nach gleichen Leit¬<lb/> artikel zehn verschiedener Journalisten sind noch nicht ohne weiteres öffentliche<lb/> Meinung. Sie werden es aber, wenn die große Mehrheit der in Betracht<lb/> kommenden Kreise sie zu ihrer Meinung macht und sie mit der Einseitigkeit<lb/> versieht, die den: Durchschnittsmenschen das Vertrauen auf Autoritäten verleiht;<lb/> und statt der Autorität gilt auch die große Zahl derjenigen, die dasselbe „meinen".</p><lb/> <p xml:id="ID_1371" next="#ID_1372"> Wenn eine Meinung aber „öffentlich" ist, ist sie mehr als bloße Meinung:<lb/> sie ist eine Macht und zwingt jeden in ihre Bahn, der nicht Kraft genug hat,<lb/> ihr zu widerstehen, und solcher sind wenige. Es erfordert Mut, der öffentlichen<lb/> Meinung Widerstand zu leisten, denn ihre Bekenner sind stets einig und bereit,<lb/> in jedem Widerstand ein intellektuelles und moralisches Manko zu erblicken und<lb/> den Sonderling, der eigene Wege geht, zu brandmarket!. Dies eben ist das</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0223]
Gerichte und öffentliche Meinung
Grenzziehung zwischen zulässiger und unzulässiger Einwirkung auf die Gerichte,
entscheidend aber nicht in dem Sinne, daß hier kraft selbstherrlicher Macht der
Logik eine Trennung vorgenommen würde, sondern einfach so, daß die Ergebnisse
praktischer Erwägung sich unter die logische Formel ordnen lasse:?.
Soweit die genaue Feststellung tatsächlicher Vorgänge überhaupt möglich
ist, taar sie jedenfalls erst in der kontradiktorischen Hauptverhandlung bei eidlicher
Vernehmung der Zeugen und Sachverständigen erfolgen. Der Presse nun, diesem
hauptsächlichen Organ der öffentlichen Meinung, steht dies wirksamste Mittel
der Wahrheitserforschung doch nicht zu Gebote. Wer was schadet's? wird
man sagen, gelingt es ihr, auch ohne dieses Mittel die Wahrheit ans Licht
zu bringen, desto verdienstlicher, und gelingt es nicht, uun, so steht es ja jedem
frei, sich neben oder anstatt der öffentlichen eine private Meinung zu bilden.
Doch hier liegt scholl ein sehr wichtiges Moment. Eben weil die Mittel der
Presse — und ebenso die von „Versannnlungen aller Art" (!) und der Parla¬
mente, für deren Einwirkung auf die Rechtsprechung Kulemaun eintritt — zur
Ermittlung der Wahrheit sehr gering sind, werden sich die besseren, gewissen¬
hafteren Vertreter der öffentlichen Meinung von solchen Arbeiten fernhalten;
denn welche innere Befriedigung kann es einem tüchtigen Menschen gewähren,
Material zu beschaffen und zu beurteilen, ohne die Möglichkeit zu haben, es auf
seiue Vollständigkeit und Richtigkeit genügend prüfen zu können? Sensations¬
lüsterne Skribenten allerdings werden sich durch solche Bedenken nicht abhalten lassen.
Damit hängt ein anderes zusammen. Wenn Herr Müller Frau Schulze
auf 300 Mark verklagt, so wird schwerlich irgendein Journalist einen Leitartikel
verfassen, in dem er nachweist, daß die Forderung auf Grund dieser oder jener
Tatsachen berechtigt oder nicht berechtigt sei, sondern er wird stillschweigend den
Beteiligten sein Material zur Verfügung stellen, wenn er sich um die Sache
kümmern will. Aber für solche Fälle pflegt sich die öffentliche Meinung nicht
zu erwärmen, und ihre Organe pflegen sie damit nicht zu belästigen. Die
öffentliche Meinung interessiert sich nur, ja sie entsteht nur bei Sensations-
prozessen jeder Art.
Der Leitartikel eines Journalisten, die zehn dem Sinne nach gleichen Leit¬
artikel zehn verschiedener Journalisten sind noch nicht ohne weiteres öffentliche
Meinung. Sie werden es aber, wenn die große Mehrheit der in Betracht
kommenden Kreise sie zu ihrer Meinung macht und sie mit der Einseitigkeit
versieht, die den: Durchschnittsmenschen das Vertrauen auf Autoritäten verleiht;
und statt der Autorität gilt auch die große Zahl derjenigen, die dasselbe „meinen".
Wenn eine Meinung aber „öffentlich" ist, ist sie mehr als bloße Meinung:
sie ist eine Macht und zwingt jeden in ihre Bahn, der nicht Kraft genug hat,
ihr zu widerstehen, und solcher sind wenige. Es erfordert Mut, der öffentlichen
Meinung Widerstand zu leisten, denn ihre Bekenner sind stets einig und bereit,
in jedem Widerstand ein intellektuelles und moralisches Manko zu erblicken und
den Sonderling, der eigene Wege geht, zu brandmarket!. Dies eben ist das
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