Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.Gerichte und öffentliche Meinung Verfahren sich mit unbedingter Freiheit äußern können: ist denn der Gesetzgeber Kulemcmn faßt seine Ansicht dahin zusammen: "Gewiß, unabhängig soll der Richter sein, aber nicht gegenüber zulässigen, Sachlich ist an dieser Formulierung nichts auszusetzen,- die entscheidende Ein Erbschaftsprozeß über 10 Millionen ist vom Landgericht entschieden Den gesamten Rechtsstoff theoretisch zu beherrschen ist niemand ohne die Und dieser Gesichtspunkt: ob es sich um die Erörterung abstrakter Rechts¬ Gerichte und öffentliche Meinung Verfahren sich mit unbedingter Freiheit äußern können: ist denn der Gesetzgeber Kulemcmn faßt seine Ansicht dahin zusammen: „Gewiß, unabhängig soll der Richter sein, aber nicht gegenüber zulässigen, Sachlich ist an dieser Formulierung nichts auszusetzen,- die entscheidende Ein Erbschaftsprozeß über 10 Millionen ist vom Landgericht entschieden Den gesamten Rechtsstoff theoretisch zu beherrschen ist niemand ohne die Und dieser Gesichtspunkt: ob es sich um die Erörterung abstrakter Rechts¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0222" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319171"/> <fw type="header" place="top"> Gerichte und öffentliche Meinung</fw><lb/> <p xml:id="ID_1360" prev="#ID_1359"> Verfahren sich mit unbedingter Freiheit äußern können: ist denn der Gesetzgeber<lb/> berufen, angewandte Logik zu treiben oder nicht vielmehr praktische Politik?</p><lb/> <p xml:id="ID_1361"> Kulemcmn faßt seine Ansicht dahin zusammen:</p><lb/> <p xml:id="ID_1362"> „Gewiß, unabhängig soll der Richter sein, aber nicht gegenüber zulässigen,<lb/> sondern nur gegenüber unzulässigen Einflüssen."</p><lb/> <p xml:id="ID_1363"> Sachlich ist an dieser Formulierung nichts auszusetzen,- die entscheidende<lb/> Frage aber, durch deren Beantwortung die logische Formel erst Inhalt gewinnt,<lb/> ist nun: Welche Einwirkung ist zulässig, welche unzulässig? Suchen wir uns<lb/> hierüber klar zu werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_1364"> Ein Erbschaftsprozeß über 10 Millionen ist vom Landgericht entschieden<lb/> worden; die unterlegene Partei legt Berufung ein und bringt zur Rechtfertigung<lb/> ihres Standpunktes das Gutachten eines hervorragenden Rechtsgelehrten bei.<lb/> Niemand wird ihr das verargen. Zweiter Fall: Während eines schwebenden politischen<lb/> Prozesses erscheint in einer Zeitschrift ein Aufsatz, in dem von einem politischen<lb/> Gegner eine Fülle ungünstigen Materials über den Angeklagten zusammen¬<lb/> getragen wird: jeder findet solches Verfahren niedrig. Worin liegt der Unterschied?</p><lb/> <p xml:id="ID_1365"> Den gesamten Rechtsstoff theoretisch zu beherrschen ist niemand ohne die<lb/> Benutzung fremder Arbeiten imstande. So gut wie es von dem Richter gefordert<lb/> wird, sich über die Ergebnisse der Rechtsprechung und Wissenschaft im allgemeinen<lb/> unterrichtet zu halten, muß es ihm auch freistehen, eine aä Koe verfaßte juristische<lb/> Arbeit bei der Entscheidung zu benutzen. Sicherlich werden wenige solcher<lb/> Abhandlungen veröffentlicht, die nicht für Fragen von Bedeutung wären, über<lb/> die in irgendeinem schwebenden Prozeß zu entscheiden ist. Soll der Richter<lb/> diese nicht benutzen dürfen? Soll er etwa, wenn in einer zweifelhaften<lb/> Rechtsfrage die Unrichtigkeit der herrschenden Ansicht mit unwiderleglicher<lb/> Gründen nachgewiesen wird, für diesen Fall bei der von ihm selbst<lb/> als irrig erkannten Ansicht bleiben, weil die Sache Meier gegen Müller<lb/> schon rechtshängig war, als diese Abhandlung erschien? Und was wird<lb/> an der Sache geändert, wenn die Abhandlung auf Grund dieses bestimmten<lb/> Falles überhaupt verfaßt ist? Freilich, eine aä Koa verfaßte Abhandlung<lb/> kann — „jede Absicht stört die Einsicht" —, dem Verfasser bewußt oder unbewußt,<lb/> vom Wege der reinen Erkenntnis abbiegen, aber es liegt in der Natur der Sache,<lb/> daß sie immer uur durch die Kraft ihrer Gründe auf den Leser wirken kann.<lb/> Ob eine abstrakte Rechtsfrage in diesem oder jenem Sinne zu entscheiden ist,<lb/> erregt an sich kein menschliches, die Unparteilichkeit gefährdendes Interesse. Um<lb/> abstrakte Rechtsfragen aber handelt es sich bei rechtlichen Erörterungen auch<lb/> dann, wenn ihre Veranlassung in Beziehungen ganz konkreter Natur liegt: immer<lb/> soll nicht der einzelne Prozeß, sondern eine allgemeine Frage entschieden, soll<lb/> eine Entscheidung gefunden werden, die in allen gleichen Fällen zur An¬<lb/> wendung kommt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1366" next="#ID_1367"> Und dieser Gesichtspunkt: ob es sich um die Erörterung abstrakter Rechts¬<lb/> oder konkreter Tatfragen handelt, ist — im allgemeinen — entscheidend für die</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0222]
Gerichte und öffentliche Meinung
Verfahren sich mit unbedingter Freiheit äußern können: ist denn der Gesetzgeber
berufen, angewandte Logik zu treiben oder nicht vielmehr praktische Politik?
Kulemcmn faßt seine Ansicht dahin zusammen:
„Gewiß, unabhängig soll der Richter sein, aber nicht gegenüber zulässigen,
sondern nur gegenüber unzulässigen Einflüssen."
Sachlich ist an dieser Formulierung nichts auszusetzen,- die entscheidende
Frage aber, durch deren Beantwortung die logische Formel erst Inhalt gewinnt,
ist nun: Welche Einwirkung ist zulässig, welche unzulässig? Suchen wir uns
hierüber klar zu werden.
Ein Erbschaftsprozeß über 10 Millionen ist vom Landgericht entschieden
worden; die unterlegene Partei legt Berufung ein und bringt zur Rechtfertigung
ihres Standpunktes das Gutachten eines hervorragenden Rechtsgelehrten bei.
Niemand wird ihr das verargen. Zweiter Fall: Während eines schwebenden politischen
Prozesses erscheint in einer Zeitschrift ein Aufsatz, in dem von einem politischen
Gegner eine Fülle ungünstigen Materials über den Angeklagten zusammen¬
getragen wird: jeder findet solches Verfahren niedrig. Worin liegt der Unterschied?
Den gesamten Rechtsstoff theoretisch zu beherrschen ist niemand ohne die
Benutzung fremder Arbeiten imstande. So gut wie es von dem Richter gefordert
wird, sich über die Ergebnisse der Rechtsprechung und Wissenschaft im allgemeinen
unterrichtet zu halten, muß es ihm auch freistehen, eine aä Koe verfaßte juristische
Arbeit bei der Entscheidung zu benutzen. Sicherlich werden wenige solcher
Abhandlungen veröffentlicht, die nicht für Fragen von Bedeutung wären, über
die in irgendeinem schwebenden Prozeß zu entscheiden ist. Soll der Richter
diese nicht benutzen dürfen? Soll er etwa, wenn in einer zweifelhaften
Rechtsfrage die Unrichtigkeit der herrschenden Ansicht mit unwiderleglicher
Gründen nachgewiesen wird, für diesen Fall bei der von ihm selbst
als irrig erkannten Ansicht bleiben, weil die Sache Meier gegen Müller
schon rechtshängig war, als diese Abhandlung erschien? Und was wird
an der Sache geändert, wenn die Abhandlung auf Grund dieses bestimmten
Falles überhaupt verfaßt ist? Freilich, eine aä Koa verfaßte Abhandlung
kann — „jede Absicht stört die Einsicht" —, dem Verfasser bewußt oder unbewußt,
vom Wege der reinen Erkenntnis abbiegen, aber es liegt in der Natur der Sache,
daß sie immer uur durch die Kraft ihrer Gründe auf den Leser wirken kann.
Ob eine abstrakte Rechtsfrage in diesem oder jenem Sinne zu entscheiden ist,
erregt an sich kein menschliches, die Unparteilichkeit gefährdendes Interesse. Um
abstrakte Rechtsfragen aber handelt es sich bei rechtlichen Erörterungen auch
dann, wenn ihre Veranlassung in Beziehungen ganz konkreter Natur liegt: immer
soll nicht der einzelne Prozeß, sondern eine allgemeine Frage entschieden, soll
eine Entscheidung gefunden werden, die in allen gleichen Fällen zur An¬
wendung kommt.
Und dieser Gesichtspunkt: ob es sich um die Erörterung abstrakter Rechts¬
oder konkreter Tatfragen handelt, ist — im allgemeinen — entscheidend für die
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |