Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.Gerichte und öffentliche Meinung Gefährliche der öffentlichen Meinung, daß sie die privaten Meinungen sich unter¬ Kulemann meint, daß die Regierung in der Lage sei, einen ihr unbequemen Die Presse kann allerdings in dieser Weise nicht auf den Richter einwirken, Gerichte und öffentliche Meinung Gefährliche der öffentlichen Meinung, daß sie die privaten Meinungen sich unter¬ Kulemann meint, daß die Regierung in der Lage sei, einen ihr unbequemen Die Presse kann allerdings in dieser Weise nicht auf den Richter einwirken, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0224" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319173"/> <fw type="header" place="top"> Gerichte und öffentliche Meinung</fw><lb/> <p xml:id="ID_1372" prev="#ID_1371"> Gefährliche der öffentlichen Meinung, daß sie die privaten Meinungen sich unter¬<lb/> wirft, und dies ist auch der Grund, weswegen alle zu der Rechtsprechung in<lb/> Beziehung tretenden Personen vor ihrem Druck soweit irgend möglich gesichert<lb/> sein müssen. Denn sie wirkt nicht durch logische Gründe, sondern durch<lb/> moralischen Zwang.</p><lb/> <p xml:id="ID_1373"> Kulemann meint, daß die Regierung in der Lage sei, einen ihr unbequemen<lb/> Richter schädigen zu können, und er scheint es deshalb nicht zu mißbilligen, daß<lb/> den Regierungsvertretern über schwebende Prozesse Schweigen auferlegt wird;<lb/> aber es ist vollkommen unrichtig, wenn er hinzufügt, Abgeordnete und Journalisten<lb/> könnten nur durch Gründe auf die Richter wirken, ihre Einwirkung sei daher<lb/> zulässig. Denn es gibt nur eins von beiden: entweder der Richter ist für<lb/> Beeinflussungen ein- für allemal unzugänglich, oder er ist es nicht. Nun weiß<lb/> jeder, daß Richter Menschen, und Menschen beeinflußbar sind; und wer glauben<lb/> wollte, daß jeder Richter seine schwere Aufgabe, sich durch keinerlei außerhalb<lb/> des verhandelten Prozesses liegende Momente beeinflussen zu lassen, vollständig<lb/> löst, dem würden schon die Bestimmungen des Gerichtsverfassungsgesetzes, die<lb/> ängstlich seine Unabhängigkeit von äußeren Einflüssen sicherzustellen suchen, vom<lb/> Gegenteil überzeugen: wären alle Richter aus solchem Holz geschnitzt, daß sie<lb/> ihrer Natur nach keiner Beeinflussung zugänglich wären, so wären diese<lb/> Bestimmungen zwecklos. Ist also damit zu rechnen, daß die Gerichte beeinflußbar<lb/> sind, so muß auch dem Abgeordneten jedes Eingreifen in das Gerichtsverfahren<lb/> untersagt sein. Denn warum sollte ein Richter, der gegenüber Einflüssen seines<lb/> Ministers keine genügende Festigkeit zeigen würde, auf die Winke eines Ab¬<lb/> geordneten, der morgen Minister sein, heute vielleicht schon die Beförderung<lb/> von Beamten entscheidend beeinflussen kann, keine Rücksicht nehmen? Da man<lb/> aber die Abgeordneten nicht amtlich in solche mit und solche ohne Einfluß ab¬<lb/> stempeln kann, wird es geraten sein, daß sie sich alle in die Rechtsprechung<lb/> nicht hineinmischen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1374" next="#ID_1375"> Die Presse kann allerdings in dieser Weise nicht auf den Richter einwirken,<lb/> aber ist er darum gegen die Macht der öffentlichen Meinung gefeit? Bismarck<lb/> erzählt, in den ersten Jahren seines Ministeriums sei jemand, der ihn beleidigt<lb/> hatte, mit der Begründung zu einer sehr geringen Strafe verurteilt worden,<lb/> daß Bismarck doch wirklich ein sehr schlechter Minister sei. Ob dieser Richter<lb/> wohl von der öffentlichen Meinung beeinflußt war? Indessen braucht diese<lb/> Frage nicht weiter erörtert zu werden, denn es ist überhaupt zu eng hier, nur<lb/> an die Richter — wobei übrigens die Laienrichter besonders zu berücksichtigen<lb/> wären — zu denken: vor allem handelt es sich um das buntscheckige, nicht<lb/> nach Intelligenz und Gewissenhaftigkeit auszuwählende Material der Zeugen.<lb/> Außerordentlich dankenswerte Untersuchungen der letzten Jahre haben gezeigt,<lb/> wie unzuverlässig und leicht beeinflußbar Zeugenaussagen sind. Nun stelle man<lb/> sich vor, daß in einem Sensationsprozeß das Leiborgan mehrerer Zeugen, aus<lb/> dem diese ihre Ansichten fix und fertig beziehen, „voll und ganz" dafür eintritt,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0224]
Gerichte und öffentliche Meinung
Gefährliche der öffentlichen Meinung, daß sie die privaten Meinungen sich unter¬
wirft, und dies ist auch der Grund, weswegen alle zu der Rechtsprechung in
Beziehung tretenden Personen vor ihrem Druck soweit irgend möglich gesichert
sein müssen. Denn sie wirkt nicht durch logische Gründe, sondern durch
moralischen Zwang.
Kulemann meint, daß die Regierung in der Lage sei, einen ihr unbequemen
Richter schädigen zu können, und er scheint es deshalb nicht zu mißbilligen, daß
den Regierungsvertretern über schwebende Prozesse Schweigen auferlegt wird;
aber es ist vollkommen unrichtig, wenn er hinzufügt, Abgeordnete und Journalisten
könnten nur durch Gründe auf die Richter wirken, ihre Einwirkung sei daher
zulässig. Denn es gibt nur eins von beiden: entweder der Richter ist für
Beeinflussungen ein- für allemal unzugänglich, oder er ist es nicht. Nun weiß
jeder, daß Richter Menschen, und Menschen beeinflußbar sind; und wer glauben
wollte, daß jeder Richter seine schwere Aufgabe, sich durch keinerlei außerhalb
des verhandelten Prozesses liegende Momente beeinflussen zu lassen, vollständig
löst, dem würden schon die Bestimmungen des Gerichtsverfassungsgesetzes, die
ängstlich seine Unabhängigkeit von äußeren Einflüssen sicherzustellen suchen, vom
Gegenteil überzeugen: wären alle Richter aus solchem Holz geschnitzt, daß sie
ihrer Natur nach keiner Beeinflussung zugänglich wären, so wären diese
Bestimmungen zwecklos. Ist also damit zu rechnen, daß die Gerichte beeinflußbar
sind, so muß auch dem Abgeordneten jedes Eingreifen in das Gerichtsverfahren
untersagt sein. Denn warum sollte ein Richter, der gegenüber Einflüssen seines
Ministers keine genügende Festigkeit zeigen würde, auf die Winke eines Ab¬
geordneten, der morgen Minister sein, heute vielleicht schon die Beförderung
von Beamten entscheidend beeinflussen kann, keine Rücksicht nehmen? Da man
aber die Abgeordneten nicht amtlich in solche mit und solche ohne Einfluß ab¬
stempeln kann, wird es geraten sein, daß sie sich alle in die Rechtsprechung
nicht hineinmischen.
Die Presse kann allerdings in dieser Weise nicht auf den Richter einwirken,
aber ist er darum gegen die Macht der öffentlichen Meinung gefeit? Bismarck
erzählt, in den ersten Jahren seines Ministeriums sei jemand, der ihn beleidigt
hatte, mit der Begründung zu einer sehr geringen Strafe verurteilt worden,
daß Bismarck doch wirklich ein sehr schlechter Minister sei. Ob dieser Richter
wohl von der öffentlichen Meinung beeinflußt war? Indessen braucht diese
Frage nicht weiter erörtert zu werden, denn es ist überhaupt zu eng hier, nur
an die Richter — wobei übrigens die Laienrichter besonders zu berücksichtigen
wären — zu denken: vor allem handelt es sich um das buntscheckige, nicht
nach Intelligenz und Gewissenhaftigkeit auszuwählende Material der Zeugen.
Außerordentlich dankenswerte Untersuchungen der letzten Jahre haben gezeigt,
wie unzuverlässig und leicht beeinflußbar Zeugenaussagen sind. Nun stelle man
sich vor, daß in einem Sensationsprozeß das Leiborgan mehrerer Zeugen, aus
dem diese ihre Ansichten fix und fertig beziehen, „voll und ganz" dafür eintritt,
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