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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Gerichte und öffentliche Ncinmig

Meinung des Durchschnittsverstandes durch, und die hervorragende Intelligenz
wird überstimmt. Ebenso schwächt die Kollegialverfassung das Verantwortlich¬
keitsgefühl.

Auch für die "letzte und höchste Aufgabe, die heute der Rechtsprechung
gestellt wird, nämlich, daß sie dem Rechtsempfinden des Volkes Rechnung tragen
soll", ist die kollegiale Besetzung der Gerichte vorteilhaft. "Jeder Richter, der
sich nicht künstlich von dem Leben abschließt, ist ein Bindeglied zwischen Recht
und Volk ..." Er wäre sehr erfreulich, wenn dem so wäre, wenn der Richter sich
nur nicht künstlich abzuschließen brauchte, um "ein Bindeglied zwischen Recht und
Volk" zu sein. In Wirklichkeit muß er, um diesen Zweck zu erreichen, sich
künstlich anschließen. Nehmen wir den Strafrichter. Sein "Publikum" besteht
ganz überwiegend aus Angehörigen der besitzlosen Klasse, und zwischen dieser
und ihren Richtern gähnt die tiefe Kluft, die doch einmal in der Gegenwart
das Gefühlsleben der Besitzenden von dem der Besitzlosen trennt. Gewiß gibt es
viele Richter, die darüber hinweg zur Kenntnis des Denkens und Fühlens des
Proletariats gelangen, aber nur durch eine Unterlassung gelingt dies nicht.
Diese ernsteste, vielleicht verhängnisvolle Tatsache wird nicht durch Worte aus
der Welt geschafft.

Weiter heißt es: "Aber . . . betrachtet man allgemein als oberstes Ziel der
Rechtsprechung, alle Mittel zu benutzen, um die Wahrheit zu finden, alle Kräfte,
die sich bieten, in ihren Dienst zu stellen und dem allgemeinen Rechtsbewußtsein
so weitgehend Rechnung zu tragen, wie es im Rahmen der bestehenden Gesetze
möglich ist, so ist es eine unbegreifliche Anomalie, wenn man dabei ein Organ
ausschaltet, das für den verfolgten Zweck geeigneter ist als irgendein anderes.
Dieses Organ ist die öffentliche Meinung."

Schopenhauer und Nietzsche, Lassalle und Bismarck sprechen mit gleicher
Verachtung von dem widrigen Gemisch von Oberflächlichkeiten, das sich den
Namen "öffentliche Meinung" gibt, mit der Zahl seiner Anhänger prunkt und
stets vergißt, daß auch der größte Zähler seine Bedeutung nur durch den
Nenner erhält! Jede ernsthafte Leistung hat zur unumgänglichen Vorbedingung
eins: Verachtung der öffentlichen Meinung.

Kulemann findet die von ihm bekämpfte Ansicht innerlich widerspruchsvoll.
Gehe man davon aus, daß der Richter bei Bildung seines Urteils ausschließlich
auf sich selbst angewiesen sein solle, so sei es schon unlogisch, den Parteien zur
Ausführung ihrer Auffassung das Wort zu geben, da sie ja gerade das Urteil
der Richter beeinflussen wollten, ebenso seien dann Beratungen im Richter¬
kollegium wie das Heranziehen literarischer Hilfsmittel unstatthaft.

Der Vorwurf mangelnder Logik wiegt in Fragen der Rechtspolitik feder¬
leicht. Es ist zweifellos aus praktischen Gründen notwendig, die Parteien in
dem "Streit um den Kopf des Richters", wie Lassalle den Prozeß treffend
nennt, ihre Ausführungen machen zu lassen. Gesetzt, in logischer Konsequenz
hiervon müßten sämtliche Organe der öffentlichen Meinung über ein schwebendes


Grenzboten III 1911 27
Gerichte und öffentliche Ncinmig

Meinung des Durchschnittsverstandes durch, und die hervorragende Intelligenz
wird überstimmt. Ebenso schwächt die Kollegialverfassung das Verantwortlich¬
keitsgefühl.

Auch für die „letzte und höchste Aufgabe, die heute der Rechtsprechung
gestellt wird, nämlich, daß sie dem Rechtsempfinden des Volkes Rechnung tragen
soll", ist die kollegiale Besetzung der Gerichte vorteilhaft. „Jeder Richter, der
sich nicht künstlich von dem Leben abschließt, ist ein Bindeglied zwischen Recht
und Volk ..." Er wäre sehr erfreulich, wenn dem so wäre, wenn der Richter sich
nur nicht künstlich abzuschließen brauchte, um „ein Bindeglied zwischen Recht und
Volk" zu sein. In Wirklichkeit muß er, um diesen Zweck zu erreichen, sich
künstlich anschließen. Nehmen wir den Strafrichter. Sein „Publikum" besteht
ganz überwiegend aus Angehörigen der besitzlosen Klasse, und zwischen dieser
und ihren Richtern gähnt die tiefe Kluft, die doch einmal in der Gegenwart
das Gefühlsleben der Besitzenden von dem der Besitzlosen trennt. Gewiß gibt es
viele Richter, die darüber hinweg zur Kenntnis des Denkens und Fühlens des
Proletariats gelangen, aber nur durch eine Unterlassung gelingt dies nicht.
Diese ernsteste, vielleicht verhängnisvolle Tatsache wird nicht durch Worte aus
der Welt geschafft.

Weiter heißt es: „Aber . . . betrachtet man allgemein als oberstes Ziel der
Rechtsprechung, alle Mittel zu benutzen, um die Wahrheit zu finden, alle Kräfte,
die sich bieten, in ihren Dienst zu stellen und dem allgemeinen Rechtsbewußtsein
so weitgehend Rechnung zu tragen, wie es im Rahmen der bestehenden Gesetze
möglich ist, so ist es eine unbegreifliche Anomalie, wenn man dabei ein Organ
ausschaltet, das für den verfolgten Zweck geeigneter ist als irgendein anderes.
Dieses Organ ist die öffentliche Meinung."

Schopenhauer und Nietzsche, Lassalle und Bismarck sprechen mit gleicher
Verachtung von dem widrigen Gemisch von Oberflächlichkeiten, das sich den
Namen „öffentliche Meinung" gibt, mit der Zahl seiner Anhänger prunkt und
stets vergißt, daß auch der größte Zähler seine Bedeutung nur durch den
Nenner erhält! Jede ernsthafte Leistung hat zur unumgänglichen Vorbedingung
eins: Verachtung der öffentlichen Meinung.

Kulemann findet die von ihm bekämpfte Ansicht innerlich widerspruchsvoll.
Gehe man davon aus, daß der Richter bei Bildung seines Urteils ausschließlich
auf sich selbst angewiesen sein solle, so sei es schon unlogisch, den Parteien zur
Ausführung ihrer Auffassung das Wort zu geben, da sie ja gerade das Urteil
der Richter beeinflussen wollten, ebenso seien dann Beratungen im Richter¬
kollegium wie das Heranziehen literarischer Hilfsmittel unstatthaft.

Der Vorwurf mangelnder Logik wiegt in Fragen der Rechtspolitik feder¬
leicht. Es ist zweifellos aus praktischen Gründen notwendig, die Parteien in
dem „Streit um den Kopf des Richters", wie Lassalle den Prozeß treffend
nennt, ihre Ausführungen machen zu lassen. Gesetzt, in logischer Konsequenz
hiervon müßten sämtliche Organe der öffentlichen Meinung über ein schwebendes


Grenzboten III 1911 27
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[0221] Gerichte und öffentliche Ncinmig Meinung des Durchschnittsverstandes durch, und die hervorragende Intelligenz wird überstimmt. Ebenso schwächt die Kollegialverfassung das Verantwortlich¬ keitsgefühl. Auch für die „letzte und höchste Aufgabe, die heute der Rechtsprechung gestellt wird, nämlich, daß sie dem Rechtsempfinden des Volkes Rechnung tragen soll", ist die kollegiale Besetzung der Gerichte vorteilhaft. „Jeder Richter, der sich nicht künstlich von dem Leben abschließt, ist ein Bindeglied zwischen Recht und Volk ..." Er wäre sehr erfreulich, wenn dem so wäre, wenn der Richter sich nur nicht künstlich abzuschließen brauchte, um „ein Bindeglied zwischen Recht und Volk" zu sein. In Wirklichkeit muß er, um diesen Zweck zu erreichen, sich künstlich anschließen. Nehmen wir den Strafrichter. Sein „Publikum" besteht ganz überwiegend aus Angehörigen der besitzlosen Klasse, und zwischen dieser und ihren Richtern gähnt die tiefe Kluft, die doch einmal in der Gegenwart das Gefühlsleben der Besitzenden von dem der Besitzlosen trennt. Gewiß gibt es viele Richter, die darüber hinweg zur Kenntnis des Denkens und Fühlens des Proletariats gelangen, aber nur durch eine Unterlassung gelingt dies nicht. Diese ernsteste, vielleicht verhängnisvolle Tatsache wird nicht durch Worte aus der Welt geschafft. Weiter heißt es: „Aber . . . betrachtet man allgemein als oberstes Ziel der Rechtsprechung, alle Mittel zu benutzen, um die Wahrheit zu finden, alle Kräfte, die sich bieten, in ihren Dienst zu stellen und dem allgemeinen Rechtsbewußtsein so weitgehend Rechnung zu tragen, wie es im Rahmen der bestehenden Gesetze möglich ist, so ist es eine unbegreifliche Anomalie, wenn man dabei ein Organ ausschaltet, das für den verfolgten Zweck geeigneter ist als irgendein anderes. Dieses Organ ist die öffentliche Meinung." Schopenhauer und Nietzsche, Lassalle und Bismarck sprechen mit gleicher Verachtung von dem widrigen Gemisch von Oberflächlichkeiten, das sich den Namen „öffentliche Meinung" gibt, mit der Zahl seiner Anhänger prunkt und stets vergißt, daß auch der größte Zähler seine Bedeutung nur durch den Nenner erhält! Jede ernsthafte Leistung hat zur unumgänglichen Vorbedingung eins: Verachtung der öffentlichen Meinung. Kulemann findet die von ihm bekämpfte Ansicht innerlich widerspruchsvoll. Gehe man davon aus, daß der Richter bei Bildung seines Urteils ausschließlich auf sich selbst angewiesen sein solle, so sei es schon unlogisch, den Parteien zur Ausführung ihrer Auffassung das Wort zu geben, da sie ja gerade das Urteil der Richter beeinflussen wollten, ebenso seien dann Beratungen im Richter¬ kollegium wie das Heranziehen literarischer Hilfsmittel unstatthaft. Der Vorwurf mangelnder Logik wiegt in Fragen der Rechtspolitik feder¬ leicht. Es ist zweifellos aus praktischen Gründen notwendig, die Parteien in dem „Streit um den Kopf des Richters", wie Lassalle den Prozeß treffend nennt, ihre Ausführungen machen zu lassen. Gesetzt, in logischer Konsequenz hiervon müßten sämtliche Organe der öffentlichen Meinung über ein schwebendes Grenzboten III 1911 27

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/221>, abgerufen am 29.12.2024.