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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Goethes Religion

Auch die Idee des "Faust" wurzelt in dieser so leicht ausgesprochenen, im
Leben aber so schwer durchzuführenden Anschauung.

Diese lichte, humane Auffassung des Erlösungsbegriffes ist in der innersten
Natur Goethes begründet und ruht zugleich auf der tiefsten Kenntnis des Menschen
und des Lebens. Sie hat nicht etwa, wie es scheinen könnte, eine laxe Auf¬
fassung der Moral zur Voraussetzung. Goethe betrachtete die Welt und das
All so objektiv und mit einem so heiteren Optimismus, daß ihm das Böse und
Schlechte als ein notwendiger Bestandteil unserer Existenz erschien. Die Welt
als solche kann zu ihrem Dasein und ihrer Entwicklung der Gegensätze nicht
entbehren. Wie zur Bekundung des Lichtes das Dunkel und der Schatten
gehören, so erfordern das Hervortreten und die Würdigung des Guten die
Existenz des Schlechten und Niedrigen. Dazu gibt wieder der "Faust" den
Kommentar. Hier nennt sich Mephisto selbst einen Teil von jener Kraft, die
stets das Böse will und stets das Gute schafft. Und noch am Schluß des
Dramas, als Faust der Erlösung nahe ist, nennt der Dichter ihn eine geeinte
Zwienatur, d. h. ein aus Gutem und Bösem zusammengesetztes Wesen, dessen
Elemente untrennbar vereinigt sind. In Prosa allsgedrückt heißt es: der Mensch
muß zugleich gut und böse sein. Wenn nun aber auch die Welt des Schlechten
nicht entraten kann, so soll der Mensch doch nicht die Ehrfurcht vor sich selbst
verlieren. Er darf sich für das Beste halten. So wird man es verstehen,
daß Goethe die Lehre vom radikalen Bösen in der menschlichen Natur zuwider
war. Seine Meinung war, daß, wenn man genötigt sein sollte, dem Menschen
eine Erbsünde zuzuschreiben, man auch Veranlassung hätte, ihm eine Erbtugend,
eine angeborene Güte, Rechtlichkeit und besonders eine Neigung zur Ehrfurcht
zuzugestehen (Weimarer Ausgabe I Bd. 41, 2 S. 133). In einem seiner tief¬
sinnigsten und künstlerisch vollendetsten Gedichte, in der Ballade "Paria", hat
diese Auffassung vom Bösen oder Häßlichen und Niedrigen einen ebenso kühnen
wie erhabenen Ausdruck gefunden.

Sie stellt dar, wie die reine Frau eines Brahmanen unschuldig schuldig
wird, den Tod erleidet und wieder ins Dasein zurückgerufen wird. Bei dieser
Wiederbelebung wird ihr Haupt dem Rumpfe einer Verbrecherin angefügt, so
daß ein seltsames Mischgebild entsteht. Dieses aus Hoheit und Niedrigkeit, aus
Reinheit und Schmutz gebildete Doppelwesen aber wird zur Göttin erhoben
und zur Beschützerin der Parias gemacht. Diese Wendung gab erst Goethe dem
ursprüglich parteiischen, häßlichen Mythus, der lediglich geschaffen war, um die
Klasse der Parias verächtlich zu machen. In der ursprünglichen Erzählung ist
die von dem Gatten getötete Frau Göttin und Beherrscherin der Elemente.


Goethes Religion

Auch die Idee des „Faust" wurzelt in dieser so leicht ausgesprochenen, im
Leben aber so schwer durchzuführenden Anschauung.

Diese lichte, humane Auffassung des Erlösungsbegriffes ist in der innersten
Natur Goethes begründet und ruht zugleich auf der tiefsten Kenntnis des Menschen
und des Lebens. Sie hat nicht etwa, wie es scheinen könnte, eine laxe Auf¬
fassung der Moral zur Voraussetzung. Goethe betrachtete die Welt und das
All so objektiv und mit einem so heiteren Optimismus, daß ihm das Böse und
Schlechte als ein notwendiger Bestandteil unserer Existenz erschien. Die Welt
als solche kann zu ihrem Dasein und ihrer Entwicklung der Gegensätze nicht
entbehren. Wie zur Bekundung des Lichtes das Dunkel und der Schatten
gehören, so erfordern das Hervortreten und die Würdigung des Guten die
Existenz des Schlechten und Niedrigen. Dazu gibt wieder der „Faust" den
Kommentar. Hier nennt sich Mephisto selbst einen Teil von jener Kraft, die
stets das Böse will und stets das Gute schafft. Und noch am Schluß des
Dramas, als Faust der Erlösung nahe ist, nennt der Dichter ihn eine geeinte
Zwienatur, d. h. ein aus Gutem und Bösem zusammengesetztes Wesen, dessen
Elemente untrennbar vereinigt sind. In Prosa allsgedrückt heißt es: der Mensch
muß zugleich gut und böse sein. Wenn nun aber auch die Welt des Schlechten
nicht entraten kann, so soll der Mensch doch nicht die Ehrfurcht vor sich selbst
verlieren. Er darf sich für das Beste halten. So wird man es verstehen,
daß Goethe die Lehre vom radikalen Bösen in der menschlichen Natur zuwider
war. Seine Meinung war, daß, wenn man genötigt sein sollte, dem Menschen
eine Erbsünde zuzuschreiben, man auch Veranlassung hätte, ihm eine Erbtugend,
eine angeborene Güte, Rechtlichkeit und besonders eine Neigung zur Ehrfurcht
zuzugestehen (Weimarer Ausgabe I Bd. 41, 2 S. 133). In einem seiner tief¬
sinnigsten und künstlerisch vollendetsten Gedichte, in der Ballade „Paria", hat
diese Auffassung vom Bösen oder Häßlichen und Niedrigen einen ebenso kühnen
wie erhabenen Ausdruck gefunden.

Sie stellt dar, wie die reine Frau eines Brahmanen unschuldig schuldig
wird, den Tod erleidet und wieder ins Dasein zurückgerufen wird. Bei dieser
Wiederbelebung wird ihr Haupt dem Rumpfe einer Verbrecherin angefügt, so
daß ein seltsames Mischgebild entsteht. Dieses aus Hoheit und Niedrigkeit, aus
Reinheit und Schmutz gebildete Doppelwesen aber wird zur Göttin erhoben
und zur Beschützerin der Parias gemacht. Diese Wendung gab erst Goethe dem
ursprüglich parteiischen, häßlichen Mythus, der lediglich geschaffen war, um die
Klasse der Parias verächtlich zu machen. In der ursprünglichen Erzählung ist
die von dem Gatten getötete Frau Göttin und Beherrscherin der Elemente.


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[0022] Goethes Religion Auch die Idee des „Faust" wurzelt in dieser so leicht ausgesprochenen, im Leben aber so schwer durchzuführenden Anschauung. Diese lichte, humane Auffassung des Erlösungsbegriffes ist in der innersten Natur Goethes begründet und ruht zugleich auf der tiefsten Kenntnis des Menschen und des Lebens. Sie hat nicht etwa, wie es scheinen könnte, eine laxe Auf¬ fassung der Moral zur Voraussetzung. Goethe betrachtete die Welt und das All so objektiv und mit einem so heiteren Optimismus, daß ihm das Böse und Schlechte als ein notwendiger Bestandteil unserer Existenz erschien. Die Welt als solche kann zu ihrem Dasein und ihrer Entwicklung der Gegensätze nicht entbehren. Wie zur Bekundung des Lichtes das Dunkel und der Schatten gehören, so erfordern das Hervortreten und die Würdigung des Guten die Existenz des Schlechten und Niedrigen. Dazu gibt wieder der „Faust" den Kommentar. Hier nennt sich Mephisto selbst einen Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft. Und noch am Schluß des Dramas, als Faust der Erlösung nahe ist, nennt der Dichter ihn eine geeinte Zwienatur, d. h. ein aus Gutem und Bösem zusammengesetztes Wesen, dessen Elemente untrennbar vereinigt sind. In Prosa allsgedrückt heißt es: der Mensch muß zugleich gut und böse sein. Wenn nun aber auch die Welt des Schlechten nicht entraten kann, so soll der Mensch doch nicht die Ehrfurcht vor sich selbst verlieren. Er darf sich für das Beste halten. So wird man es verstehen, daß Goethe die Lehre vom radikalen Bösen in der menschlichen Natur zuwider war. Seine Meinung war, daß, wenn man genötigt sein sollte, dem Menschen eine Erbsünde zuzuschreiben, man auch Veranlassung hätte, ihm eine Erbtugend, eine angeborene Güte, Rechtlichkeit und besonders eine Neigung zur Ehrfurcht zuzugestehen (Weimarer Ausgabe I Bd. 41, 2 S. 133). In einem seiner tief¬ sinnigsten und künstlerisch vollendetsten Gedichte, in der Ballade „Paria", hat diese Auffassung vom Bösen oder Häßlichen und Niedrigen einen ebenso kühnen wie erhabenen Ausdruck gefunden. Sie stellt dar, wie die reine Frau eines Brahmanen unschuldig schuldig wird, den Tod erleidet und wieder ins Dasein zurückgerufen wird. Bei dieser Wiederbelebung wird ihr Haupt dem Rumpfe einer Verbrecherin angefügt, so daß ein seltsames Mischgebild entsteht. Dieses aus Hoheit und Niedrigkeit, aus Reinheit und Schmutz gebildete Doppelwesen aber wird zur Göttin erhoben und zur Beschützerin der Parias gemacht. Diese Wendung gab erst Goethe dem ursprüglich parteiischen, häßlichen Mythus, der lediglich geschaffen war, um die Klasse der Parias verächtlich zu machen. In der ursprünglichen Erzählung ist die von dem Gatten getötete Frau Göttin und Beherrscherin der Elemente.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/22>, abgerufen am 29.12.2024.