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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Goethes Religion

Menschlicher kann die Religion nicht gefaßt werden. Gerade die Mischung
des Erhabenen mit dein Niedrigen, des Edlen mit dem Unedlen macht die zur
Schntzherrin erhobene Brahmanin zur geeigneten Mittlerin zwischen dem höchsten
Gott und den Menschen.

In den "Wanderjahren" (im erstenKapitel des zweitenBuches. erschienen 1821)
nennt Goethe das tätige Mitgefühl mit den Niedrigen, dasBestreben, auch Niedrigkeit
und Armut, Spott und Verachtung, Schmach und Elend, Leiden und Tod als
göttlich anzuerkennen, ja Sünde selbst und Verbrechen nicht als Hindernisse,
sondern als Fördernisse des Heiligen zu verehren und lieb zu gewinnen, er
nennt diese humane Gesinnung die Ehrfurcht vor dein, was unter uns ist.
Sie ist eine Errungenschaft der christlichen Religion, und diese Tat des Christen¬
tums steht er nicht an mit hohen Worten zu preisen. Ein Letztes nennt er
diese Sinnesart, wozu die Menschheit gelangen konnte und mußte. Mit dieser
Anerkennung des ethischen Gehaltes der christlichen Religion und ihrer gewaltigen
Bedeutung für die Entwicklung der Menschheit hat Goethe jene herben Ausfälle
gegen die Formen des Glaubens, von denen vorher die Rede war, reichlich
gesühnt.

Den Stoff der Ballade "Paria" hatte der Dichter vierzig Jahre mit sich
herumgetragen, ehe er ihm, ein Greis von fünfundsiebzig Jahren, seine letzte
Mnstlerische Form gab. Aber schon im Jahre 1783 projizierte er mit ähnlicher
Kühnheit das Menschliche in die Götterwelt. In der damals entstandenen Ode
"Das Göttliche" dichtete er:

Diese Idee der Erlösung und diese humane Auffassung des Bösen als eines
natürlichen Ferments des Lebens setzt einen Grad der Nachsicht voraus, wie
sie nur die alles verstehende und alles verzeihende Liebe gewähren kann. Auch
sie war sür Goethe ein unentbehrliches Element des Religiösen und Göttlichen.
In einen Hymnus auf diese reine, ewige, allwaltende Liebe klingt die ganze
Faustdichtung aus.

Nur ewigen Liebens Offenbarung entfaltet zur Seligkeit. Die ewige Liebe nur
vermag aus der geeinten Zwienatur des Sterblichen das Element des Unvoll¬
kommenen, des sündhaften zu scheiden.

Wie konsequent bei allem Wandel seiner Individualität entwickelte sich doch
Goethe! Als vierundzwanzigjähriger Jüngling stellt er in einer theologischen


Goethes Religion

Menschlicher kann die Religion nicht gefaßt werden. Gerade die Mischung
des Erhabenen mit dein Niedrigen, des Edlen mit dem Unedlen macht die zur
Schntzherrin erhobene Brahmanin zur geeigneten Mittlerin zwischen dem höchsten
Gott und den Menschen.

In den „Wanderjahren" (im erstenKapitel des zweitenBuches. erschienen 1821)
nennt Goethe das tätige Mitgefühl mit den Niedrigen, dasBestreben, auch Niedrigkeit
und Armut, Spott und Verachtung, Schmach und Elend, Leiden und Tod als
göttlich anzuerkennen, ja Sünde selbst und Verbrechen nicht als Hindernisse,
sondern als Fördernisse des Heiligen zu verehren und lieb zu gewinnen, er
nennt diese humane Gesinnung die Ehrfurcht vor dein, was unter uns ist.
Sie ist eine Errungenschaft der christlichen Religion, und diese Tat des Christen¬
tums steht er nicht an mit hohen Worten zu preisen. Ein Letztes nennt er
diese Sinnesart, wozu die Menschheit gelangen konnte und mußte. Mit dieser
Anerkennung des ethischen Gehaltes der christlichen Religion und ihrer gewaltigen
Bedeutung für die Entwicklung der Menschheit hat Goethe jene herben Ausfälle
gegen die Formen des Glaubens, von denen vorher die Rede war, reichlich
gesühnt.

Den Stoff der Ballade „Paria" hatte der Dichter vierzig Jahre mit sich
herumgetragen, ehe er ihm, ein Greis von fünfundsiebzig Jahren, seine letzte
Mnstlerische Form gab. Aber schon im Jahre 1783 projizierte er mit ähnlicher
Kühnheit das Menschliche in die Götterwelt. In der damals entstandenen Ode
„Das Göttliche" dichtete er:

Diese Idee der Erlösung und diese humane Auffassung des Bösen als eines
natürlichen Ferments des Lebens setzt einen Grad der Nachsicht voraus, wie
sie nur die alles verstehende und alles verzeihende Liebe gewähren kann. Auch
sie war sür Goethe ein unentbehrliches Element des Religiösen und Göttlichen.
In einen Hymnus auf diese reine, ewige, allwaltende Liebe klingt die ganze
Faustdichtung aus.

Nur ewigen Liebens Offenbarung entfaltet zur Seligkeit. Die ewige Liebe nur
vermag aus der geeinten Zwienatur des Sterblichen das Element des Unvoll¬
kommenen, des sündhaften zu scheiden.

Wie konsequent bei allem Wandel seiner Individualität entwickelte sich doch
Goethe! Als vierundzwanzigjähriger Jüngling stellt er in einer theologischen


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[0023] Goethes Religion Menschlicher kann die Religion nicht gefaßt werden. Gerade die Mischung des Erhabenen mit dein Niedrigen, des Edlen mit dem Unedlen macht die zur Schntzherrin erhobene Brahmanin zur geeigneten Mittlerin zwischen dem höchsten Gott und den Menschen. In den „Wanderjahren" (im erstenKapitel des zweitenBuches. erschienen 1821) nennt Goethe das tätige Mitgefühl mit den Niedrigen, dasBestreben, auch Niedrigkeit und Armut, Spott und Verachtung, Schmach und Elend, Leiden und Tod als göttlich anzuerkennen, ja Sünde selbst und Verbrechen nicht als Hindernisse, sondern als Fördernisse des Heiligen zu verehren und lieb zu gewinnen, er nennt diese humane Gesinnung die Ehrfurcht vor dein, was unter uns ist. Sie ist eine Errungenschaft der christlichen Religion, und diese Tat des Christen¬ tums steht er nicht an mit hohen Worten zu preisen. Ein Letztes nennt er diese Sinnesart, wozu die Menschheit gelangen konnte und mußte. Mit dieser Anerkennung des ethischen Gehaltes der christlichen Religion und ihrer gewaltigen Bedeutung für die Entwicklung der Menschheit hat Goethe jene herben Ausfälle gegen die Formen des Glaubens, von denen vorher die Rede war, reichlich gesühnt. Den Stoff der Ballade „Paria" hatte der Dichter vierzig Jahre mit sich herumgetragen, ehe er ihm, ein Greis von fünfundsiebzig Jahren, seine letzte Mnstlerische Form gab. Aber schon im Jahre 1783 projizierte er mit ähnlicher Kühnheit das Menschliche in die Götterwelt. In der damals entstandenen Ode „Das Göttliche" dichtete er: Diese Idee der Erlösung und diese humane Auffassung des Bösen als eines natürlichen Ferments des Lebens setzt einen Grad der Nachsicht voraus, wie sie nur die alles verstehende und alles verzeihende Liebe gewähren kann. Auch sie war sür Goethe ein unentbehrliches Element des Religiösen und Göttlichen. In einen Hymnus auf diese reine, ewige, allwaltende Liebe klingt die ganze Faustdichtung aus. Nur ewigen Liebens Offenbarung entfaltet zur Seligkeit. Die ewige Liebe nur vermag aus der geeinten Zwienatur des Sterblichen das Element des Unvoll¬ kommenen, des sündhaften zu scheiden. Wie konsequent bei allem Wandel seiner Individualität entwickelte sich doch Goethe! Als vierundzwanzigjähriger Jüngling stellt er in einer theologischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/23>, abgerufen am 29.12.2024.