Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Goethes Religion

schaftlich dilrchdachter Hvlozoismus. Hier ein tiefes Eindringen in die die
Gesamtheit der Natur durchwaltenden Prinzipien, eine bis zu positiven Ergeb¬
nissen vorgedrungene wissenschaftliche Erkenntnis. Die Sehnsucht, die der
jugendliche, von titanenhaftem Wissensdrang erfüllte Dichter seinem Faust als
schmerzliche Gabe verleiht:

sie war in einem an Glück und Mühen gleich reichen Dasein auf wunderbare
Weise befriedigt.

In Goethes Denken trennen sich jedoch Natur und Welt nicht. Wie er
jener in die tiefe Brust schaute, so war sein durchdringender Blick auch auf das
Treiben der Welt und des Lebens gerichtet. Sie zu betrachten veranlaßte ihn
schon sein Dichterberuf. Aber seine gewaltige Persönlichkeit drängte es überhaupt,
die ganze Weite und Tiefe der Wirklichkeit zu erkunden. So hat er denn auch
das Menschenleben beobachtet und studiert, ging ihm auf den Grund und suchte
seiue Gesetze zu ermitteln. Notwendig zog er aus seinen Beobachtungen Schlüsse
auf das Verhalten der Menschen zueinander und gelangte zu den Voraussetzungen
und Vorbedingungen des Zusammenlebens der Erdenbewohner. Mit einem
Worte: auch der ethischen Seite der Religion galt sein Nachdenken. Und auch
hier gewann er einen eigentümlichen Standpunkt, den er in vielen seiner
Dichtungen zur Geltung brachte. Oberster Grundsatz war ihm Befreiung durch
Selbstüberwindung, durch Selbstbegrenzung.

Neben der Entsagung, über deren Bedeutung für das Leben und ihre rettende
Kraft wir viele tiefe Äußerungen Goethes besitzen, ist für ihn die sittliche Tat¬
kraft eine unerläßliche Notwendigkeit unserer Existenz. Sie äußert sich in der
strengen Pflichterfüllung, die jedem innerhalb seiner Sphäre das Leben ermöglicht
und verschönt. Ihre Macht ist so groß, daß sie auch die Schuld und das
Vergehen tilgt. Diesen Gedanken hat Goethe zur Grundlage mehrerer Dichtungen
gemacht. In der "Iphigenie" wird Orest von der auf ihm lastenden, unbewußt
begangenen Schuld durch den heilenden Einfluß der reinen, edlen Schwester und
durch das Verlangen nach neuem, tatkräftigen Leben ohne Eingreifen der
Götter befreit.


Grenzboten III 19IZ 2
Goethes Religion

schaftlich dilrchdachter Hvlozoismus. Hier ein tiefes Eindringen in die die
Gesamtheit der Natur durchwaltenden Prinzipien, eine bis zu positiven Ergeb¬
nissen vorgedrungene wissenschaftliche Erkenntnis. Die Sehnsucht, die der
jugendliche, von titanenhaftem Wissensdrang erfüllte Dichter seinem Faust als
schmerzliche Gabe verleiht:

sie war in einem an Glück und Mühen gleich reichen Dasein auf wunderbare
Weise befriedigt.

In Goethes Denken trennen sich jedoch Natur und Welt nicht. Wie er
jener in die tiefe Brust schaute, so war sein durchdringender Blick auch auf das
Treiben der Welt und des Lebens gerichtet. Sie zu betrachten veranlaßte ihn
schon sein Dichterberuf. Aber seine gewaltige Persönlichkeit drängte es überhaupt,
die ganze Weite und Tiefe der Wirklichkeit zu erkunden. So hat er denn auch
das Menschenleben beobachtet und studiert, ging ihm auf den Grund und suchte
seiue Gesetze zu ermitteln. Notwendig zog er aus seinen Beobachtungen Schlüsse
auf das Verhalten der Menschen zueinander und gelangte zu den Voraussetzungen
und Vorbedingungen des Zusammenlebens der Erdenbewohner. Mit einem
Worte: auch der ethischen Seite der Religion galt sein Nachdenken. Und auch
hier gewann er einen eigentümlichen Standpunkt, den er in vielen seiner
Dichtungen zur Geltung brachte. Oberster Grundsatz war ihm Befreiung durch
Selbstüberwindung, durch Selbstbegrenzung.

Neben der Entsagung, über deren Bedeutung für das Leben und ihre rettende
Kraft wir viele tiefe Äußerungen Goethes besitzen, ist für ihn die sittliche Tat¬
kraft eine unerläßliche Notwendigkeit unserer Existenz. Sie äußert sich in der
strengen Pflichterfüllung, die jedem innerhalb seiner Sphäre das Leben ermöglicht
und verschönt. Ihre Macht ist so groß, daß sie auch die Schuld und das
Vergehen tilgt. Diesen Gedanken hat Goethe zur Grundlage mehrerer Dichtungen
gemacht. In der „Iphigenie" wird Orest von der auf ihm lastenden, unbewußt
begangenen Schuld durch den heilenden Einfluß der reinen, edlen Schwester und
durch das Verlangen nach neuem, tatkräftigen Leben ohne Eingreifen der
Götter befreit.


Grenzboten III 19IZ 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0021" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/318970"/>
          <fw type="header" place="top"> Goethes Religion</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_45" prev="#ID_44"> schaftlich dilrchdachter Hvlozoismus. Hier ein tiefes Eindringen in die die<lb/>
Gesamtheit der Natur durchwaltenden Prinzipien, eine bis zu positiven Ergeb¬<lb/>
nissen vorgedrungene wissenschaftliche Erkenntnis. Die Sehnsucht, die der<lb/>
jugendliche, von titanenhaftem Wissensdrang erfüllte Dichter seinem Faust als<lb/>
schmerzliche Gabe verleiht:</p><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_3" type="poem">
            <l/>
          </lg><lb/>
          <p xml:id="ID_46"> sie war in einem an Glück und Mühen gleich reichen Dasein auf wunderbare<lb/>
Weise befriedigt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_47"> In Goethes Denken trennen sich jedoch Natur und Welt nicht. Wie er<lb/>
jener in die tiefe Brust schaute, so war sein durchdringender Blick auch auf das<lb/>
Treiben der Welt und des Lebens gerichtet. Sie zu betrachten veranlaßte ihn<lb/>
schon sein Dichterberuf. Aber seine gewaltige Persönlichkeit drängte es überhaupt,<lb/>
die ganze Weite und Tiefe der Wirklichkeit zu erkunden. So hat er denn auch<lb/>
das Menschenleben beobachtet und studiert, ging ihm auf den Grund und suchte<lb/>
seiue Gesetze zu ermitteln. Notwendig zog er aus seinen Beobachtungen Schlüsse<lb/>
auf das Verhalten der Menschen zueinander und gelangte zu den Voraussetzungen<lb/>
und Vorbedingungen des Zusammenlebens der Erdenbewohner. Mit einem<lb/>
Worte: auch der ethischen Seite der Religion galt sein Nachdenken. Und auch<lb/>
hier gewann er einen eigentümlichen Standpunkt, den er in vielen seiner<lb/>
Dichtungen zur Geltung brachte. Oberster Grundsatz war ihm Befreiung durch<lb/>
Selbstüberwindung, durch Selbstbegrenzung.</p><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_4" type="poem">
            <l/>
          </lg><lb/>
          <p xml:id="ID_48"> Neben der Entsagung, über deren Bedeutung für das Leben und ihre rettende<lb/>
Kraft wir viele tiefe Äußerungen Goethes besitzen, ist für ihn die sittliche Tat¬<lb/>
kraft eine unerläßliche Notwendigkeit unserer Existenz. Sie äußert sich in der<lb/>
strengen Pflichterfüllung, die jedem innerhalb seiner Sphäre das Leben ermöglicht<lb/>
und verschönt. Ihre Macht ist so groß, daß sie auch die Schuld und das<lb/>
Vergehen tilgt. Diesen Gedanken hat Goethe zur Grundlage mehrerer Dichtungen<lb/>
gemacht. In der &#x201E;Iphigenie" wird Orest von der auf ihm lastenden, unbewußt<lb/>
begangenen Schuld durch den heilenden Einfluß der reinen, edlen Schwester und<lb/>
durch das Verlangen nach neuem, tatkräftigen Leben ohne Eingreifen der<lb/>
Götter befreit.</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III 19IZ 2</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0021] Goethes Religion schaftlich dilrchdachter Hvlozoismus. Hier ein tiefes Eindringen in die die Gesamtheit der Natur durchwaltenden Prinzipien, eine bis zu positiven Ergeb¬ nissen vorgedrungene wissenschaftliche Erkenntnis. Die Sehnsucht, die der jugendliche, von titanenhaftem Wissensdrang erfüllte Dichter seinem Faust als schmerzliche Gabe verleiht: sie war in einem an Glück und Mühen gleich reichen Dasein auf wunderbare Weise befriedigt. In Goethes Denken trennen sich jedoch Natur und Welt nicht. Wie er jener in die tiefe Brust schaute, so war sein durchdringender Blick auch auf das Treiben der Welt und des Lebens gerichtet. Sie zu betrachten veranlaßte ihn schon sein Dichterberuf. Aber seine gewaltige Persönlichkeit drängte es überhaupt, die ganze Weite und Tiefe der Wirklichkeit zu erkunden. So hat er denn auch das Menschenleben beobachtet und studiert, ging ihm auf den Grund und suchte seiue Gesetze zu ermitteln. Notwendig zog er aus seinen Beobachtungen Schlüsse auf das Verhalten der Menschen zueinander und gelangte zu den Voraussetzungen und Vorbedingungen des Zusammenlebens der Erdenbewohner. Mit einem Worte: auch der ethischen Seite der Religion galt sein Nachdenken. Und auch hier gewann er einen eigentümlichen Standpunkt, den er in vielen seiner Dichtungen zur Geltung brachte. Oberster Grundsatz war ihm Befreiung durch Selbstüberwindung, durch Selbstbegrenzung. Neben der Entsagung, über deren Bedeutung für das Leben und ihre rettende Kraft wir viele tiefe Äußerungen Goethes besitzen, ist für ihn die sittliche Tat¬ kraft eine unerläßliche Notwendigkeit unserer Existenz. Sie äußert sich in der strengen Pflichterfüllung, die jedem innerhalb seiner Sphäre das Leben ermöglicht und verschönt. Ihre Macht ist so groß, daß sie auch die Schuld und das Vergehen tilgt. Diesen Gedanken hat Goethe zur Grundlage mehrerer Dichtungen gemacht. In der „Iphigenie" wird Orest von der auf ihm lastenden, unbewußt begangenen Schuld durch den heilenden Einfluß der reinen, edlen Schwester und durch das Verlangen nach neuem, tatkräftigen Leben ohne Eingreifen der Götter befreit. Grenzboten III 19IZ 2

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/21
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/21>, abgerufen am 29.12.2024.