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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

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Goethes Religion

auf- und angeregte Materie als Glaubensbekenntnis aufstellte. Die "Kampagne
in Frankreich" erschien 1822. Wer Goethes Altersstil kennt, seine vorsichtige,
zart verhüllende Ausdrucksweise, deren eigentliches Element die Litotes ist
d. h. jene rhetorische Figur, bei der weniger gesagt als genieint ist, der ver¬
nimmt aus diesen Worten die unbedingte Emanzipation von jedem positiven
Glauben. Poetisch hatte Goethe diese Ansicht schon zehn Jahre früher in den
bekannten Versen (die erwiesenermaßen Giordano Brunosche Gedanken wieder¬
geben) ausgedrückt:

Zugleich aber enthält die Stelle in der "Kampagne" die Absage an den
krassen Materialismus, wie ihn etwa Holbachs 1770 erschienenes "ZMöms
ac la rmture" vertrat. Dieses Werk verwirft Goethe im elften Buch von
"Dichtung und Wahrheit" aufs entschiedenste und nennt es grau, kimmerisch,
toteuhaft, vor dem er wie vor einem Gespenst schauderte. Seine Weltansicht
stellte, wie es Falk einmal aussprach, die Natur und ihren Urheber nicht neben¬
einander, sondern denkt sie in seliger Durchdringung von Ewigkeit zu Ewigkeit
als Eius im Wesen. So war für ihn Naturwissenschaft im Grunde die Er¬
forschung der Natur und Welt regierenden Prinzipiell. Und vor allein suchte
er hinter die Gesetze der Erscheinungen zu kommen. In allen Bildungen der
Natur sah er einen idealen Typus, dem sie nachstrebte, eine Urform, die dem
Gewordenen gleichsam als zu erstrebendes Ziel vorschwebte. Diesem idealen
Urtypus hat sich das Wirkliche freilich nur mehr oder weniger genähert, ohne
ihn erreicht zu haben. So war für Goethe der Begriff der Ordnung und Gesetz¬
mäßigkeit der oberste. Ebenso heilig war ihm derjenige der Harmonie. Überall
in der Natur und der Welt sah er die Einheit des Mannigfaltigen und die
Übereinstimmung des Zwiespältigen. Ordnung und Symmetrie, war seine Ansicht,
beherrschen das Universum mit unbeirrbarer Gesetzmäßigkeit. Sie war ihm das
Göttliche. Nach seiner Art begnügte er sich jedoch nicht mit den bloßen Ideen,
sondern suchte ihre Wirksamkeit in den einzelnen Zweigen der Wissenschaft zu
erkennen. Diese Bemühungen führten ihn zu seinen Entdeckungen, wie der¬
jenigen des Gesetzes von der Metamorphose der Pflanzen, des Zwischenkiefer¬
knochens beim Menschen, zu der Theorie, wonach der Schädel eine fortgebildete
Wirbelsäule ist, und anderen Nachweisen, auf die hier nicht eingegangen
werden kann.

Man sieht den Fortschritt der Entwicklung, wenn man von hier ans auf
Fausts Glaubensbekenntnis zurückblickt. Dort ein allgemeiner, unbestimmter,
gefühlsmäßiger Hymnus auf das All, ein mehr poetisch empfundener als wissen-


Goethes Religion

auf- und angeregte Materie als Glaubensbekenntnis aufstellte. Die „Kampagne
in Frankreich" erschien 1822. Wer Goethes Altersstil kennt, seine vorsichtige,
zart verhüllende Ausdrucksweise, deren eigentliches Element die Litotes ist
d. h. jene rhetorische Figur, bei der weniger gesagt als genieint ist, der ver¬
nimmt aus diesen Worten die unbedingte Emanzipation von jedem positiven
Glauben. Poetisch hatte Goethe diese Ansicht schon zehn Jahre früher in den
bekannten Versen (die erwiesenermaßen Giordano Brunosche Gedanken wieder¬
geben) ausgedrückt:

Zugleich aber enthält die Stelle in der „Kampagne" die Absage an den
krassen Materialismus, wie ihn etwa Holbachs 1770 erschienenes „ZMöms
ac la rmture" vertrat. Dieses Werk verwirft Goethe im elften Buch von
„Dichtung und Wahrheit" aufs entschiedenste und nennt es grau, kimmerisch,
toteuhaft, vor dem er wie vor einem Gespenst schauderte. Seine Weltansicht
stellte, wie es Falk einmal aussprach, die Natur und ihren Urheber nicht neben¬
einander, sondern denkt sie in seliger Durchdringung von Ewigkeit zu Ewigkeit
als Eius im Wesen. So war für ihn Naturwissenschaft im Grunde die Er¬
forschung der Natur und Welt regierenden Prinzipiell. Und vor allein suchte
er hinter die Gesetze der Erscheinungen zu kommen. In allen Bildungen der
Natur sah er einen idealen Typus, dem sie nachstrebte, eine Urform, die dem
Gewordenen gleichsam als zu erstrebendes Ziel vorschwebte. Diesem idealen
Urtypus hat sich das Wirkliche freilich nur mehr oder weniger genähert, ohne
ihn erreicht zu haben. So war für Goethe der Begriff der Ordnung und Gesetz¬
mäßigkeit der oberste. Ebenso heilig war ihm derjenige der Harmonie. Überall
in der Natur und der Welt sah er die Einheit des Mannigfaltigen und die
Übereinstimmung des Zwiespältigen. Ordnung und Symmetrie, war seine Ansicht,
beherrschen das Universum mit unbeirrbarer Gesetzmäßigkeit. Sie war ihm das
Göttliche. Nach seiner Art begnügte er sich jedoch nicht mit den bloßen Ideen,
sondern suchte ihre Wirksamkeit in den einzelnen Zweigen der Wissenschaft zu
erkennen. Diese Bemühungen führten ihn zu seinen Entdeckungen, wie der¬
jenigen des Gesetzes von der Metamorphose der Pflanzen, des Zwischenkiefer¬
knochens beim Menschen, zu der Theorie, wonach der Schädel eine fortgebildete
Wirbelsäule ist, und anderen Nachweisen, auf die hier nicht eingegangen
werden kann.

Man sieht den Fortschritt der Entwicklung, wenn man von hier ans auf
Fausts Glaubensbekenntnis zurückblickt. Dort ein allgemeiner, unbestimmter,
gefühlsmäßiger Hymnus auf das All, ein mehr poetisch empfundener als wissen-


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[0020] Goethes Religion auf- und angeregte Materie als Glaubensbekenntnis aufstellte. Die „Kampagne in Frankreich" erschien 1822. Wer Goethes Altersstil kennt, seine vorsichtige, zart verhüllende Ausdrucksweise, deren eigentliches Element die Litotes ist d. h. jene rhetorische Figur, bei der weniger gesagt als genieint ist, der ver¬ nimmt aus diesen Worten die unbedingte Emanzipation von jedem positiven Glauben. Poetisch hatte Goethe diese Ansicht schon zehn Jahre früher in den bekannten Versen (die erwiesenermaßen Giordano Brunosche Gedanken wieder¬ geben) ausgedrückt: Zugleich aber enthält die Stelle in der „Kampagne" die Absage an den krassen Materialismus, wie ihn etwa Holbachs 1770 erschienenes „ZMöms ac la rmture" vertrat. Dieses Werk verwirft Goethe im elften Buch von „Dichtung und Wahrheit" aufs entschiedenste und nennt es grau, kimmerisch, toteuhaft, vor dem er wie vor einem Gespenst schauderte. Seine Weltansicht stellte, wie es Falk einmal aussprach, die Natur und ihren Urheber nicht neben¬ einander, sondern denkt sie in seliger Durchdringung von Ewigkeit zu Ewigkeit als Eius im Wesen. So war für ihn Naturwissenschaft im Grunde die Er¬ forschung der Natur und Welt regierenden Prinzipiell. Und vor allein suchte er hinter die Gesetze der Erscheinungen zu kommen. In allen Bildungen der Natur sah er einen idealen Typus, dem sie nachstrebte, eine Urform, die dem Gewordenen gleichsam als zu erstrebendes Ziel vorschwebte. Diesem idealen Urtypus hat sich das Wirkliche freilich nur mehr oder weniger genähert, ohne ihn erreicht zu haben. So war für Goethe der Begriff der Ordnung und Gesetz¬ mäßigkeit der oberste. Ebenso heilig war ihm derjenige der Harmonie. Überall in der Natur und der Welt sah er die Einheit des Mannigfaltigen und die Übereinstimmung des Zwiespältigen. Ordnung und Symmetrie, war seine Ansicht, beherrschen das Universum mit unbeirrbarer Gesetzmäßigkeit. Sie war ihm das Göttliche. Nach seiner Art begnügte er sich jedoch nicht mit den bloßen Ideen, sondern suchte ihre Wirksamkeit in den einzelnen Zweigen der Wissenschaft zu erkennen. Diese Bemühungen führten ihn zu seinen Entdeckungen, wie der¬ jenigen des Gesetzes von der Metamorphose der Pflanzen, des Zwischenkiefer¬ knochens beim Menschen, zu der Theorie, wonach der Schädel eine fortgebildete Wirbelsäule ist, und anderen Nachweisen, auf die hier nicht eingegangen werden kann. Man sieht den Fortschritt der Entwicklung, wenn man von hier ans auf Fausts Glaubensbekenntnis zurückblickt. Dort ein allgemeiner, unbestimmter, gefühlsmäßiger Hymnus auf das All, ein mehr poetisch empfundener als wissen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/20>, abgerufen am 29.12.2024.