Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.Nationale Gewerkschaften der Landwirte usw. Sie alle haben einen gewissen Selbstzweck. Sie alle aber Nationale Gewerkschaften der Landwirte usw. Sie alle haben einen gewissen Selbstzweck. Sie alle aber <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0207" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/319156"/> <fw type="header" place="top"> Nationale Gewerkschaften</fw><lb/> <p xml:id="ID_1321" prev="#ID_1320" next="#ID_1322"> der Landwirte usw. Sie alle haben einen gewissen Selbstzweck. Sie alle aber<lb/> haben auch oder wollen eine politische Geschlossenheit ihrer Kreise erreichen. Und<lb/> das ist meiner Ansicht nach ihr Hauptzweck. Er ist auch nicht nur gewollt,<lb/> sondern er ergibt sich zum Teil ganz von selbst. Gäbe es keine freien Gewerk¬<lb/> schaften, es gäbe auch leine so starke Sozialdemokratie. Wirtschaftlich haben sie<lb/> ihre Mitglieder geeinigt, in der richtigen Erkenntnis, daß die, welche wirtschaftlich<lb/> geeinigt sind, auch politisch sich leichter einigen lassen. Denn die meisten<lb/> politischen Fragen sind nichts anderes als wirtschaftliche Fragen. Das glaubt<lb/> ja doch nicht einmal die Sozialdemokratie, daß die freien Gewerkschaften nur<lb/> dem Selbstzweck dienen. Nein, sie weiß ganz genau, daß der Hauptzweck nicht<lb/> der Selbstzweck ist. „Damit betreten wir das politische Gebiet", meint ganz<lb/> richtig Herr Roeder. Ja, ich bin der Ansicht, daß wir es betreten müssen. Die<lb/> Sozialdemokratie hat es betreten, auch die nationale Arbeiterbewegung muß es<lb/> betreten. Über dem Selbstzweck muß der politische Zweck stehen. Nicht die<lb/> Sozialdemokratie ist es, die die Arbeiterbewegung von rein wirtschaftlichen auf<lb/> politische Bahnen gelenkt hat, nein, eine viel stärkere Macht: die fortschreitende<lb/> Weiterentwicklung auf der Erde. Alles strebt nun einmal nach oben infolge der<lb/> Zentrifugalkraft des politischen Lebens. Zuerst erschienen die größten, gewichtigsten<lb/> Steine an der Oberfläche nicht der Erde, sondern des politischen Lebens. Vor<lb/> etwa hundert Jahren kamen auch schon kleinere nach oben, als sich der dritte<lb/> Stand emporarbeitete; nun sind auch die kleinsten schon dicht an der Oberfläche,<lb/> die wirtschaftlich abhängigsten, die Arbeiter. Das ist eine ganz natürliche Er¬<lb/> scheinung, mit der wir uns abfinden müssen. Aber wir müssen sie auch richtig<lb/> auszunutzen wissen. Die Arbeiterbewegung ist eine politische, nicht nur eine<lb/> wirtschaftliche; die wirtschaftliche war nur der Anfang zu der politischen. Wollen<lb/> wir diese zurückhalten, so wird sie nur immer radikaler werden und sich<lb/> schließlich — mit Gewalt — Bahn brechen. Diese Erkenntnis ist keine „Rück¬<lb/> sichtnahme und Ängstlichkeit", sondern nichts weiter als politische Voraussicht.<lb/> Jede neue politische Bewegung gerät zu Anfang, wird sie nicht richtig geleitet,<lb/> leicht auf falsche Wege. Sie muß sich erst auf den richtigen Weg durchkämpfen.<lb/> So ist es auch mit der Arbeiterbewegung. Ein Teil unserer Politiker glaubt<lb/> ja nun, auch die Sozialdemokratie würde mit der Zeit auf den richtigen Weg<lb/> gelangen, besonders ihre revolutionären Ideen beiseite legen, wenn man sie nur<lb/> überall zur Mitarbeit heranzöge. Ich glaube das nicht. Sie ist auf solche<lb/> Abwege geraten, daß sie nicht wieder zurück kann, soll nicht ihr ganzes Gebäude<lb/> einstürzen. Nein, wir können die Arbeiterbewegung nur noch auf richtige Wege<lb/> leiten, indem eine nationale Arbeiterpartei gegründet wird. Vor vierzig Jahren,<lb/> als das gleiche Wahlrecht im Reiche eingeführt wurde, hat man in Unkenntnis<lb/> der Gefahr dies verabsäumt. Es wird endlich höchste Zeit, dies nachzuholen.<lb/> Damals dachte man, ja dachte selbst ein Bismarck, er würde die politische<lb/> Arbeiterbewegung mit Gewaltmitteln unterdrücken können. Heute ist wohl jeder<lb/> der Überzeugung, daß die politische Arbeiterbewegung nicht zu unterdrücken ist.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0207]
Nationale Gewerkschaften
der Landwirte usw. Sie alle haben einen gewissen Selbstzweck. Sie alle aber
haben auch oder wollen eine politische Geschlossenheit ihrer Kreise erreichen. Und
das ist meiner Ansicht nach ihr Hauptzweck. Er ist auch nicht nur gewollt,
sondern er ergibt sich zum Teil ganz von selbst. Gäbe es keine freien Gewerk¬
schaften, es gäbe auch leine so starke Sozialdemokratie. Wirtschaftlich haben sie
ihre Mitglieder geeinigt, in der richtigen Erkenntnis, daß die, welche wirtschaftlich
geeinigt sind, auch politisch sich leichter einigen lassen. Denn die meisten
politischen Fragen sind nichts anderes als wirtschaftliche Fragen. Das glaubt
ja doch nicht einmal die Sozialdemokratie, daß die freien Gewerkschaften nur
dem Selbstzweck dienen. Nein, sie weiß ganz genau, daß der Hauptzweck nicht
der Selbstzweck ist. „Damit betreten wir das politische Gebiet", meint ganz
richtig Herr Roeder. Ja, ich bin der Ansicht, daß wir es betreten müssen. Die
Sozialdemokratie hat es betreten, auch die nationale Arbeiterbewegung muß es
betreten. Über dem Selbstzweck muß der politische Zweck stehen. Nicht die
Sozialdemokratie ist es, die die Arbeiterbewegung von rein wirtschaftlichen auf
politische Bahnen gelenkt hat, nein, eine viel stärkere Macht: die fortschreitende
Weiterentwicklung auf der Erde. Alles strebt nun einmal nach oben infolge der
Zentrifugalkraft des politischen Lebens. Zuerst erschienen die größten, gewichtigsten
Steine an der Oberfläche nicht der Erde, sondern des politischen Lebens. Vor
etwa hundert Jahren kamen auch schon kleinere nach oben, als sich der dritte
Stand emporarbeitete; nun sind auch die kleinsten schon dicht an der Oberfläche,
die wirtschaftlich abhängigsten, die Arbeiter. Das ist eine ganz natürliche Er¬
scheinung, mit der wir uns abfinden müssen. Aber wir müssen sie auch richtig
auszunutzen wissen. Die Arbeiterbewegung ist eine politische, nicht nur eine
wirtschaftliche; die wirtschaftliche war nur der Anfang zu der politischen. Wollen
wir diese zurückhalten, so wird sie nur immer radikaler werden und sich
schließlich — mit Gewalt — Bahn brechen. Diese Erkenntnis ist keine „Rück¬
sichtnahme und Ängstlichkeit", sondern nichts weiter als politische Voraussicht.
Jede neue politische Bewegung gerät zu Anfang, wird sie nicht richtig geleitet,
leicht auf falsche Wege. Sie muß sich erst auf den richtigen Weg durchkämpfen.
So ist es auch mit der Arbeiterbewegung. Ein Teil unserer Politiker glaubt
ja nun, auch die Sozialdemokratie würde mit der Zeit auf den richtigen Weg
gelangen, besonders ihre revolutionären Ideen beiseite legen, wenn man sie nur
überall zur Mitarbeit heranzöge. Ich glaube das nicht. Sie ist auf solche
Abwege geraten, daß sie nicht wieder zurück kann, soll nicht ihr ganzes Gebäude
einstürzen. Nein, wir können die Arbeiterbewegung nur noch auf richtige Wege
leiten, indem eine nationale Arbeiterpartei gegründet wird. Vor vierzig Jahren,
als das gleiche Wahlrecht im Reiche eingeführt wurde, hat man in Unkenntnis
der Gefahr dies verabsäumt. Es wird endlich höchste Zeit, dies nachzuholen.
Damals dachte man, ja dachte selbst ein Bismarck, er würde die politische
Arbeiterbewegung mit Gewaltmitteln unterdrücken können. Heute ist wohl jeder
der Überzeugung, daß die politische Arbeiterbewegung nicht zu unterdrücken ist.
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