Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Goethes Religion

Daseins leidenschaftlich bekämpfte und zurückwies, wollte er in diesem Gedicht
die Entsagung als für das höhere Leben wesentlich dartun. Es sollte eine
Synthese von Nazarenertum und Hellenentum sein. Später, nach 1805, näherte
er sich, nachdem er die Periode der völligen Abneigung gegen den christlichen
Glauben überwunden hatte, wieder der Auffassung, die die Konzeption der
"Geheimnisse" bewirkt hatte.

Das ist ein Beispiel für das Gesetz der Metamorphose, von dem ich sprach.

Die religiöse Anlage der Goethescher Individualität zeigt sich auch sonst
noch. Dabei handelt es sich aber, wie ich nochmals betone, nicht um eine
Neigung zu den überlieferten Formen einer bestimmten Konfession. Sondern
Goethe war religiös in dem innerlichen Sinn des Wortes. Ihm war Erhebung
der Seele, eine innere Hingabe an ein Höheres Bedürfnis. Wie das zu ver¬
stehen ist, erklärt sich am besten daraus, daß er diesem eingeborenen Trieb
poetischen Ausdruck gibt in dem leidenschaftlichsten Liebesgedicht, das wir von
ihn: besitzen: in der sogenannten Marienbader Elegie. Er verfaßte sie in seinem
vierundsiebzigsten Lebensjahr, als er von einer heftigen Neigung zu der neunzehn¬
jährigen Ulrike v. Lewetzow ergriffen wurde. Hier lautet eine Strophe:

In unsers Busens Reine wogt ein Streben,
Sich einem Höhern, Reinern, Unbekannten
Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben,
Enträtselnd sich den ewig Ungenannten.
Wir heißen's! fromm sein. -- Solchor seligen Höhe
Fühl ich mich teilhaft, wenn ich bor ihr stehe.

Was war nun für Goethe das Unbekannte, der ewig Ungenannte? Fausts
Glaubensbekenntnis zeigte schon, daß für den Dichter Gott und Natur eins
waren, daß es für ihn nur eine immanente, keine transzendente Gottheit gab.
Diesen Monismus erweiterte und vertiefte er im Laufe des Lebens. Der junge
Goethe hatte als Poet und Menschenbildner nur im Menschengeist ein Objekt
für sein Forschen gefunden. Je reifer er wurde, um so mehr versenkte er sich
in das Walten der Natur, das er mit dem eindringendsten Studium auch
wissenschaftlich zu erkennen strebte. Er wurde, was gar nicht genug gewürdigt
wird, einer der vielseitigsten Forscher, den die Geschichte der Wissenschaften auf¬
zuweisen hat. Er wurde nicht bloß ein recht gelehrter Archäologe. Kunst- und
Literarhistoriker, sondern auch Physiker, Geologe, Zoologe, Osteologe, Meteorologe
und Botaniker. An einer Stelle seiner Schriften, um der man es vielleicht am
wenigsten vermutet, in der Beschreibung der "Kampagne in Frankreich", spricht
Goethe von der ernstlichen Leidenschaft, mit der er feinen Naturbetrachtungen
nachhing. Sie entsprang, wie er sagt, aus seinem Innersten. Seine Auffassung
nennt er hier Hylozoismus. Gemeine ist die Ansicht, wonach der Materie eine
ursprüngliche Lebenskraft innewohnt, deren Wirkungen sich in den Erscheinungen
der Welt offenbaren. Diese Auffassung machte ihn, wie er hinzufügt, unempfänglich,
ja unleidsam gegen jene Denkweise, die eine tote, auf welche Art es auch sei


Goethes Religion

Daseins leidenschaftlich bekämpfte und zurückwies, wollte er in diesem Gedicht
die Entsagung als für das höhere Leben wesentlich dartun. Es sollte eine
Synthese von Nazarenertum und Hellenentum sein. Später, nach 1805, näherte
er sich, nachdem er die Periode der völligen Abneigung gegen den christlichen
Glauben überwunden hatte, wieder der Auffassung, die die Konzeption der
„Geheimnisse" bewirkt hatte.

Das ist ein Beispiel für das Gesetz der Metamorphose, von dem ich sprach.

Die religiöse Anlage der Goethescher Individualität zeigt sich auch sonst
noch. Dabei handelt es sich aber, wie ich nochmals betone, nicht um eine
Neigung zu den überlieferten Formen einer bestimmten Konfession. Sondern
Goethe war religiös in dem innerlichen Sinn des Wortes. Ihm war Erhebung
der Seele, eine innere Hingabe an ein Höheres Bedürfnis. Wie das zu ver¬
stehen ist, erklärt sich am besten daraus, daß er diesem eingeborenen Trieb
poetischen Ausdruck gibt in dem leidenschaftlichsten Liebesgedicht, das wir von
ihn: besitzen: in der sogenannten Marienbader Elegie. Er verfaßte sie in seinem
vierundsiebzigsten Lebensjahr, als er von einer heftigen Neigung zu der neunzehn¬
jährigen Ulrike v. Lewetzow ergriffen wurde. Hier lautet eine Strophe:

In unsers Busens Reine wogt ein Streben,
Sich einem Höhern, Reinern, Unbekannten
Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben,
Enträtselnd sich den ewig Ungenannten.
Wir heißen's! fromm sein. — Solchor seligen Höhe
Fühl ich mich teilhaft, wenn ich bor ihr stehe.

Was war nun für Goethe das Unbekannte, der ewig Ungenannte? Fausts
Glaubensbekenntnis zeigte schon, daß für den Dichter Gott und Natur eins
waren, daß es für ihn nur eine immanente, keine transzendente Gottheit gab.
Diesen Monismus erweiterte und vertiefte er im Laufe des Lebens. Der junge
Goethe hatte als Poet und Menschenbildner nur im Menschengeist ein Objekt
für sein Forschen gefunden. Je reifer er wurde, um so mehr versenkte er sich
in das Walten der Natur, das er mit dem eindringendsten Studium auch
wissenschaftlich zu erkennen strebte. Er wurde, was gar nicht genug gewürdigt
wird, einer der vielseitigsten Forscher, den die Geschichte der Wissenschaften auf¬
zuweisen hat. Er wurde nicht bloß ein recht gelehrter Archäologe. Kunst- und
Literarhistoriker, sondern auch Physiker, Geologe, Zoologe, Osteologe, Meteorologe
und Botaniker. An einer Stelle seiner Schriften, um der man es vielleicht am
wenigsten vermutet, in der Beschreibung der „Kampagne in Frankreich", spricht
Goethe von der ernstlichen Leidenschaft, mit der er feinen Naturbetrachtungen
nachhing. Sie entsprang, wie er sagt, aus seinem Innersten. Seine Auffassung
nennt er hier Hylozoismus. Gemeine ist die Ansicht, wonach der Materie eine
ursprüngliche Lebenskraft innewohnt, deren Wirkungen sich in den Erscheinungen
der Welt offenbaren. Diese Auffassung machte ihn, wie er hinzufügt, unempfänglich,
ja unleidsam gegen jene Denkweise, die eine tote, auf welche Art es auch sei


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0019" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/318968"/>
          <fw type="header" place="top"> Goethes Religion</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_38" prev="#ID_37"> Daseins leidenschaftlich bekämpfte und zurückwies, wollte er in diesem Gedicht<lb/>
die Entsagung als für das höhere Leben wesentlich dartun. Es sollte eine<lb/>
Synthese von Nazarenertum und Hellenentum sein. Später, nach 1805, näherte<lb/>
er sich, nachdem er die Periode der völligen Abneigung gegen den christlichen<lb/>
Glauben überwunden hatte, wieder der Auffassung, die die Konzeption der<lb/>
&#x201E;Geheimnisse" bewirkt hatte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_39"> Das ist ein Beispiel für das Gesetz der Metamorphose, von dem ich sprach.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_40"> Die religiöse Anlage der Goethescher Individualität zeigt sich auch sonst<lb/>
noch. Dabei handelt es sich aber, wie ich nochmals betone, nicht um eine<lb/>
Neigung zu den überlieferten Formen einer bestimmten Konfession. Sondern<lb/>
Goethe war religiös in dem innerlichen Sinn des Wortes. Ihm war Erhebung<lb/>
der Seele, eine innere Hingabe an ein Höheres Bedürfnis. Wie das zu ver¬<lb/>
stehen ist, erklärt sich am besten daraus, daß er diesem eingeborenen Trieb<lb/>
poetischen Ausdruck gibt in dem leidenschaftlichsten Liebesgedicht, das wir von<lb/>
ihn: besitzen: in der sogenannten Marienbader Elegie. Er verfaßte sie in seinem<lb/>
vierundsiebzigsten Lebensjahr, als er von einer heftigen Neigung zu der neunzehn¬<lb/>
jährigen Ulrike v. Lewetzow ergriffen wurde. Hier lautet eine Strophe:</p><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_1" type="poem">
            <l> In unsers Busens Reine wogt ein Streben,<lb/>
Sich einem Höhern, Reinern, Unbekannten<lb/>
Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben,<lb/>
Enträtselnd sich den ewig Ungenannten.<lb/>
Wir heißen's! fromm sein. &#x2014; Solchor seligen Höhe<lb/>
Fühl ich mich teilhaft, wenn ich bor ihr stehe.<lb/></l>
          </lg><lb/>
          <p xml:id="ID_41" next="#ID_42"> Was war nun für Goethe das Unbekannte, der ewig Ungenannte? Fausts<lb/>
Glaubensbekenntnis zeigte schon, daß für den Dichter Gott und Natur eins<lb/>
waren, daß es für ihn nur eine immanente, keine transzendente Gottheit gab.<lb/>
Diesen Monismus erweiterte und vertiefte er im Laufe des Lebens. Der junge<lb/>
Goethe hatte als Poet und Menschenbildner nur im Menschengeist ein Objekt<lb/>
für sein Forschen gefunden. Je reifer er wurde, um so mehr versenkte er sich<lb/>
in das Walten der Natur, das er mit dem eindringendsten Studium auch<lb/>
wissenschaftlich zu erkennen strebte. Er wurde, was gar nicht genug gewürdigt<lb/>
wird, einer der vielseitigsten Forscher, den die Geschichte der Wissenschaften auf¬<lb/>
zuweisen hat. Er wurde nicht bloß ein recht gelehrter Archäologe. Kunst- und<lb/>
Literarhistoriker, sondern auch Physiker, Geologe, Zoologe, Osteologe, Meteorologe<lb/>
und Botaniker. An einer Stelle seiner Schriften, um der man es vielleicht am<lb/>
wenigsten vermutet, in der Beschreibung der &#x201E;Kampagne in Frankreich", spricht<lb/>
Goethe von der ernstlichen Leidenschaft, mit der er feinen Naturbetrachtungen<lb/>
nachhing. Sie entsprang, wie er sagt, aus seinem Innersten. Seine Auffassung<lb/>
nennt er hier Hylozoismus. Gemeine ist die Ansicht, wonach der Materie eine<lb/>
ursprüngliche Lebenskraft innewohnt, deren Wirkungen sich in den Erscheinungen<lb/>
der Welt offenbaren. Diese Auffassung machte ihn, wie er hinzufügt, unempfänglich,<lb/>
ja unleidsam gegen jene Denkweise, die eine tote, auf welche Art es auch sei</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0019] Goethes Religion Daseins leidenschaftlich bekämpfte und zurückwies, wollte er in diesem Gedicht die Entsagung als für das höhere Leben wesentlich dartun. Es sollte eine Synthese von Nazarenertum und Hellenentum sein. Später, nach 1805, näherte er sich, nachdem er die Periode der völligen Abneigung gegen den christlichen Glauben überwunden hatte, wieder der Auffassung, die die Konzeption der „Geheimnisse" bewirkt hatte. Das ist ein Beispiel für das Gesetz der Metamorphose, von dem ich sprach. Die religiöse Anlage der Goethescher Individualität zeigt sich auch sonst noch. Dabei handelt es sich aber, wie ich nochmals betone, nicht um eine Neigung zu den überlieferten Formen einer bestimmten Konfession. Sondern Goethe war religiös in dem innerlichen Sinn des Wortes. Ihm war Erhebung der Seele, eine innere Hingabe an ein Höheres Bedürfnis. Wie das zu ver¬ stehen ist, erklärt sich am besten daraus, daß er diesem eingeborenen Trieb poetischen Ausdruck gibt in dem leidenschaftlichsten Liebesgedicht, das wir von ihn: besitzen: in der sogenannten Marienbader Elegie. Er verfaßte sie in seinem vierundsiebzigsten Lebensjahr, als er von einer heftigen Neigung zu der neunzehn¬ jährigen Ulrike v. Lewetzow ergriffen wurde. Hier lautet eine Strophe: In unsers Busens Reine wogt ein Streben, Sich einem Höhern, Reinern, Unbekannten Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben, Enträtselnd sich den ewig Ungenannten. Wir heißen's! fromm sein. — Solchor seligen Höhe Fühl ich mich teilhaft, wenn ich bor ihr stehe. Was war nun für Goethe das Unbekannte, der ewig Ungenannte? Fausts Glaubensbekenntnis zeigte schon, daß für den Dichter Gott und Natur eins waren, daß es für ihn nur eine immanente, keine transzendente Gottheit gab. Diesen Monismus erweiterte und vertiefte er im Laufe des Lebens. Der junge Goethe hatte als Poet und Menschenbildner nur im Menschengeist ein Objekt für sein Forschen gefunden. Je reifer er wurde, um so mehr versenkte er sich in das Walten der Natur, das er mit dem eindringendsten Studium auch wissenschaftlich zu erkennen strebte. Er wurde, was gar nicht genug gewürdigt wird, einer der vielseitigsten Forscher, den die Geschichte der Wissenschaften auf¬ zuweisen hat. Er wurde nicht bloß ein recht gelehrter Archäologe. Kunst- und Literarhistoriker, sondern auch Physiker, Geologe, Zoologe, Osteologe, Meteorologe und Botaniker. An einer Stelle seiner Schriften, um der man es vielleicht am wenigsten vermutet, in der Beschreibung der „Kampagne in Frankreich", spricht Goethe von der ernstlichen Leidenschaft, mit der er feinen Naturbetrachtungen nachhing. Sie entsprang, wie er sagt, aus seinem Innersten. Seine Auffassung nennt er hier Hylozoismus. Gemeine ist die Ansicht, wonach der Materie eine ursprüngliche Lebenskraft innewohnt, deren Wirkungen sich in den Erscheinungen der Welt offenbaren. Diese Auffassung machte ihn, wie er hinzufügt, unempfänglich, ja unleidsam gegen jene Denkweise, die eine tote, auf welche Art es auch sei

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/19
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318948/19>, abgerufen am 29.12.2024.